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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 243

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 151/20, Beschluss v. 21.10.2020, HRRS 2021 Nr. 243


BGH 4 StR 151/20 - Beschluss vom 21. Oktober 2020 (LG Schwerin)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Auswirkung der Aufhebung der Entscheidung über eine Maßregelanordnung auf die Feststellungen; Gefährlichkeitsprognose: Straftat von erheblicher Bedeutung, Maßstab der Störung des Rechtsfriedens); gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (verkehrsspezifische konkrete Gefahr; Beinahe-Unfall).

§ 63 StGB; § 315b StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Aufhebung der Entscheidung über eine Maßregelanordnung mit den zugehörigen Feststellungen hat zur Folge, dass alle Feststellungen aufgehoben sind, die sich auf den Maßregelausspruch beziehen. Dazu zählen auch die Feststellungen zu den Anlasstaten und die tatsächlichen Grundlagen für die Gefährlichkeitsprognose. Anders verhält es sich nur, wenn Feststellungen ausdrücklich aufrechterhalten worden sind. Insoweit tritt für den neuen Tatrichter Bindungswirkung ein. Soweit Feststellungen aufgehoben wurden, hat die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer Feststellungen zu treffen. Dabei darf kein Zweifel daran gelassen werden, dass es sich um neue, eigenständig getroffene Feststellungen handelt; eine Bezugnahme auf Aktenstellen, wozu auch das frühere Urteil gehört, ist in solchen Fällen gemäß § 267 Abs. 1 StPO nicht zulässig. Das Fehlen neuer Feststellungen ist ein sachlich-rechtlicher Mangel, der auf die allgemeine Sachrüge hin zu beachten ist.

2. Nicht jede Sachbeschädigung im Straßenverkehr ist tatbestandsmäßig im Sinne des § 315b StGB. Vielmehr gebietet der Schutzzweck des § 315b StGB insoweit eine restriktive Auslegung der Norm, als unter einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert nur verkehrsspezifische Gefahren verstanden werden dürfen. Diese Voraussetzung ist bei Außeneingriffen ohne das Erfordernis eines „Beinahe-Unfalls“ nur dann erfüllt, wenn die konkrete Gefahr - jedenfalls auch - auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte (Dynamik des Straßenverkehrs) zurückzuführen ist. Steht aber ein Außeneingriff in den Straßenverkehr in keinem relevanten Zusammenhang mit der Eigendynamik des getroffenen Fahrzeugs, ist eine verkehrsspezifische konkrete Gefahr nur zu bejahen, wenn durch den Eingriff die sichere Beherrschbarkeit eines im fließenden Verkehrs befindlichen Fahrzeugs beeinträchtigt und dadurch mit der Folge eines „Beinahe-Unfalls“ unmittelbar auf den Fahrvorgang eingewirkt wird.

3. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist wegen ihrer unbestimmten und grundsätzlich unbefristeten Dauer eine außerordentlich belastende Maßnahme; sie darf nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB begehen wird.

4. Eine Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 Satz 1 StGB liegt vor, wenn diese mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, etwa die Bedrohung oder die Sachbeschädigung, sind daher nicht ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen, soweit sie nicht mit aggressiven Übergriffen einhergehen.

5. Maßgeblich für das Ausmaß der Störung des Rechtsfriedens und damit auch die Betroffenheit der Allgemeinheit sowie die Gefährlichkeit des Täters sind stets die konkreten Umstände des Einzelfalls. Dies gilt auch für die Frage, ob bei einer drohenden Vielzahl von weniger schweren Taten, die für sich gesehen keinen schweren wirtschaftlichen Schaden begründen würden, auf den drohenden Gesamtschaden abzustellen ist. Die Frage, ob eine festgestellte Tendenz zur serienmäßigen Tatbegehung den friedensstörenden Charakter jeder einzelnen Tat so erhöht, dass sie alle als erheblich empfunden werden, kann nur auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller Umstände beantwortet werden.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 19. Dezember 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht Schwerin hatte den Beschuldigten im ersten Rechtsgang nach Verbindung eines Strafverfahrens und eines Sicherungsverfahrens mit Urteil vom 28. Juni 2018 von den mit der Anklageschrift erhobenen Vorwürfen freigesprochen, den im Sicherungsverfahren gestellten Antrag auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt und eine Entschädigungsentscheidung getroffen.

Mit Urteil vom 28. März 2019 hob der Senat auf die Revision der Staatsanwaltschaft das landgerichtliche Urteil mit den zugehörigen Feststellungen auf, soweit das Landgericht die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt hatte, und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück. Die Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen der Anlasstaten erhielt der Senat aufrecht.

Nunmehr hat das Landgericht im zweiten Rechtsgang die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und die Vollstreckung der Maßnahme zur Bewährung ausgesetzt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Beschuldigten hat Erfolg.

1. Die Unterbringungsanordnung hat schon deshalb keinen Bestand, weil das Landgericht die Reichweite der Bindungswirkung des Urteils des Senats vom 28. März 2019 und damit den Umfang der erforderlichen Neuentscheidung verkannt hat.

a) Die Aufhebung der Entscheidung über eine Maßregelanordnung mit den zugehörigen Feststellungen hat zur Folge, dass alle Feststellungen aufgehoben sind, die sich auf den Maßregelausspruch beziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2004 - 4 StR 149/04, BeckRS 2004, 07348). Dazu zählen auch die Feststellungen zu den Anlasstaten und die tatsächlichen Grundlagen für die Gefährlichkeitsprognose. Anders verhält es sich nur, wenn Feststellungen ausdrücklich aufrechterhalten worden sind. Insoweit tritt für den neuen Tatrichter Bindungswirkung ein. Soweit Feststellungen aufgehoben wurden, hat die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer Feststellungen zu treffen. Dabei darf kein Zweifel daran gelassen werden, dass es sich um neue, eigenständig getroffene Feststellungen handelt; eine Bezugnahme auf Aktenstellen, wozu auch das frühere Urteil gehört, ist in solchen Fällen gemäß § 267 Abs. 1 StPO nicht zulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 2000 - 3 StR 24/00). Das Fehlen neuer Feststellungen ist ein sachlich-rechtlicher Mangel, der auf die allgemeine Sachrüge hin zu beachten ist (BGH, Beschluss vom 28. März 2007 - 2 StR 62/07, NJW 2007, 1540, 1541).

b) Der Senat erhielt nur die im ersten Rechtsgang vom Landgericht getroffenen Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen der Anlasstaten aufrecht. Hingegen waren die Feststellungen zu den subjektiven Tatumständen der Anlasstaten ebenso von der Aufhebung des Urteils umfasst wie die gesamten „weiteren Feststellungen“ zu anderen Taten des Beschuldigten, die im ersten Rechtsgang ausschließlich in die Gefährlichkeitsprognose Eingang gefunden hatten. Die zur Entscheidung im zweiten Rechtsgang berufene Strafkammer hatte deshalb sowohl zu den subjektiven Tatumständen der Anlasstaten als auch zu den weiteren Taten des Beschuldigten selbst Beweis zu erheben und eigene Feststellungen zu treffen. Stattdessen hat die Strafkammer die aufgehobenen Feststellungen zum Vorsatz des Beschuldigten als „rechtskräftige Feststellungen“ behandelt und damit rechtsfehlerhaft als für sich bindend angesehen. Ebenso wenig hätte die Strafkammer die „weiteren Feststellungen“ des Landgerichts in dem Urteil vom 28. Juni 2018 zu anderen Taten des Beschuldigten als für sich bindend in die Gefährlichkeitsprognose einstellen dürfen. Die Anordnung der Maßregel ist daher nicht mit Tatsachen unterlegt und kann bereits aus diesem Grund keinen Bestand haben.

2. Auf weitere Rechtsfehler, die die Maßregelanordnung ebenfalls in Frage stellen, kommt es deshalb nicht an. Der Senat weist jedoch für die neue Hauptverhandlung auf Folgendes hin:

a) Die bisherigen bindend gewordenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen der Anlasstat im Fall II. A. 2. tragen schon objektiv nicht die Annahme eines vollendeten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB. Nicht jede Sachbeschädigung im Straßenverkehr ist tatbestandsmäßig im Sinne des § 315b StGB. Vielmehr gebietet der Schutzzweck des § 315b StGB insoweit eine restriktive Auslegung der Norm, als unter einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert nur verkehrsspezifische Gefahren verstanden werden dürfen. Diese Voraussetzung ist bei Außeneingriffen ohne das Erfordernis eines „Beinahe-Unfalls“ nur dann erfüllt, wenn die konkrete Gefahr - jedenfalls auch - auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte (Dynamik des Straßenverkehrs) zurückzuführen ist. Steht aber ein Außeneingriff in den Straßenverkehr in keinem relevanten Zusammenhang mit der Eigendynamik des getroffenen Fahrzeugs, ist eine verkehrsspezifische konkrete Gefahr nur zu bejahen, wenn durch den Eingriff die sichere Beherrschbarkeit eines im fließenden Verkehrs befindlichen Fahrzeugs beeinträchtigt und dadurch mit der Folge eines „Beinahe-Unfalls“ unmittelbar auf den Fahrvorgang eingewirkt wird (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2002 - 4 StR 103/02, BGHSt 48, 119, 124; BGH, Beschluss vom 4. November 2008 - 4 StR 411/08, NStZ 2009, 100, 101; SSW-StGB/Ernemann, 5. Aufl., § 315b Rn. 17).

Nach den bindend gewordenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen ließ der etwa fünf Meter vom Straßenrand entfernt stehende Beschuldigte ein Fahrrad - ohne darauf zu sitzen - mit Schwung gegen einen vorbeifahrenden Pkw rollen. Das Fahrrad kollidierte seitlich auf der Höhe der Beifahrertür mit dem Pkw. Die Fahrzeugführerin brachte den Pkw nach einer „Schrecksekunde“ kontrolliert am rechten Straßenrand zum Stehen. Bei diesem Ablauf handelte es sich um einen von außen geführten Eingriff in den Straßenverkehr, da das Fahrrad bei dem Angriff nicht als Verkehrsmittel genutzt wurde. Davon, dass die durch den Eingriff verursachte Beschädigung an der Seitenfront des Fahrzeugs auf dessen Eigendynamik zurückzuführen ist, kann bei dem festgestellten Geschehen nicht ausgegangen werden. Zu einem Beinahe-Unfall hat das Vorgehen des Beschuldigten nach den bindenden Feststellungen nicht geführt. Eine vollendete Tat gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB liegt danach objektiv nicht vor. Das neu entscheidende Tatgericht wird zu prüfen haben, ob dem Beschuldigten insoweit der Vorwurf des Versuchs einer Tat nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB zur Last gelegt werden kann.

b) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist wegen ihrer unbestimmten und grundsätzlich unbefristeten Dauer eine außerordentlich belastende Maßnahme; sie darf nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB begehen wird (vgl. BGH, Urteil vom 2. Mai 2019 - 3 StR 87/19, juris Rn. 5; BGH, Urteil vom 5. Juni 2019 - 2 StR 42/19, BeckRS 2019, 23885 Rn. 10).

aa) Eine Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 Satz 1 StGB liegt vor, wenn diese mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, etwa die Bedrohung (§ 241 StGB) oder die Sachbeschädigung (§ 303 StGB), sind daher nicht ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen, soweit sie nicht mit aggressiven Ãœbergriffen einhergehen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Mai 2018 - 2 StR 121/18, BeckRS 2018, 19876 Rn. 13; BGH, Beschluss vom 16. Juni 2014 - 4 StR 111/14, juris Rn. 19; BVerfG, Beschluss vom 22. August 2017 - 2 BvR 2039/16, juris Rn. 44; BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12, juris Rn. 21).

bb) Sollte der neue Tatrichter, über die beiden Anlasstaten hinaus, erneut weitere auf seine psychische Erkrankung zurückzuführende Sachbeschädigungshandlungen des Beschuldigten feststellen, wird er im Hinblick auf die Erheblichkeit solcher Taten daher das Folgende zu beachten haben:

Maßgeblich für das Ausmaß der Störung des Rechtsfriedens und damit auch die Betroffenheit der Allgemeinheit sowie die Gefährlichkeit des Täters sind stets die konkreten Umstände des Einzelfalls. Dies gilt auch für die Frage, ob bei einer drohenden Vielzahl von weniger schweren Taten, die für sich gesehen keinen schweren wirtschaftlichen Schaden begründen würden, auf den drohenden Gesamtschaden abzustellen ist. Die Frage, ob eine festgestellte Tendenz zur serienmäßigen Tatbegehung den friedensstörenden Charakter jeder einzelnen Tat so erhöht, dass sie alle als erheblich empfunden werden, kann nur auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller Umstände beantwortet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2018 - 1 StR 523/17, NStZ-RR 2018, 239 f.; BGH, Beschluss vom 7. März 2017 - 5 StR 609/16, NStZ-RR 2017, 171). Diesem Erfordernis werden eine Addition durch verschiedene Sachbeschädigungen entstandener Schäden und die Erwartung, bei weiterer Fortsetzung krankheitsbedingt zu erwartender Auseinandersetzungen zwischen dem Beschuldigten und seinem Umfeld „wäre es nur eine Frage der Zeit, bis der Wert von 5.000 Euro an Sachschaden deutlich überschritten würde“, nicht gerecht.

cc) Im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose wird der neue Tatrichter sich auch damit auseinanderzusetzen haben, dass es indiziell gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger erheblicher Straftaten sprechen kann, wenn ein Täter trotz bestehenden Defekts über einen längeren Zeitraum hinweg keine krankheitsbedingten erheblichen Straftaten begangen hat (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juni 2019 - 2 StR 42/19, BeckRS 2019, 23885 Rn. 14; BGH, Urteil vom 10. Dezember 2014 ? 2 StR 170/14, NStZ-RR 2015, 72, 73; BGH, Beschluss vom 26. September 2012 - 4 StR 348/12, juris Rn. 11). Um das früheren Unterbringungen nach dem PsychKG zugrundeliegende Verhalten des Beschuldigten in die Gefährlichkeitsprognose einstellen zu können, bedarf es zudem der Aufklärung der Hintergründe und entsprechender tatsachenfundierter Feststellungen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 243

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 108; StV 2021, 222

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner