HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2020
21. Jahrgang
PDF-Download


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

190. BVerfG 2 BvR 2347/15, 2 BvR 651/16, 2 BvR 1261/16, 2 BvR 1593/16, 2 BvR 2354/16, 2 BvR 2527/16 (Zweiter Senat) – Urteil vom 26. Februar 2020 (§ 217 StGB)

Verfassungswidrigkeit der Strafnorm über die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung (verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht auf selbstbestimmtes Sterben; allgemeines Persönlichkeitsrecht; Menschenwürdegarantie; eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende als Ausdruck autonomer Persönlichkeitsentfaltung; keine Koppelung des Rechts an unheilbare Krankheitszustände; Inanspruchnahme der Hilfe Dritter; Autonomie- und Lebensschutz als legitimer gesetzgeberischer Zweck; Gefahren für die Selbstbestimmung durch unreguliertes Angebot geschäftsmäßiger Suizidhilfe; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Außerkraftsetzung der Autonomie am Lebensende durch § 217 StGB; Fehlen angemessener Alternativen für Suizidwillige; Recht auf Selbsttötung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention; verfassungswidrige Einschränkung der Berufsfreiheit von Ärzten und Rechtsanwälten; Freiheitsgrundrecht;; keine Beeinträchtigung der Vereinigungsfreiheit; kein Grundrechtsschutz für Sterbehilfevereinigungen mit Sitz in der Schweiz; eigene Betroffenheit Suizidwilliger trotz Straflosigkeit).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 9 Abs. 1 GG; Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 3 GG;

Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; Art. 104 Abs. 1 GG; Art. 2 EMRK; Art. 8 Abs. 1 EMRK; § 90 Abs. 1 BVerfGG; § 217 StGB; § 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG

1. a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. (BVerfG)

b) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. (BVerfG)

c) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. (BVerfG)

2. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. (BVerfG)

3. a) Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen. (BVerfG)

b) Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass die Regelung der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegt. Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen. (BVerfG)

4. Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben beimisst, ist grundsätzlich geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt. (BVerfG)

5. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt. (BVerfG)

6. Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten. (BVerfG)

7. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst nicht nur das Recht, nach freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen, sondern erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden. Das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen, stellt sicher, dass der Einzelne seine Persönlichkeit wahren kann, indem er nach eigenen Maßstäben autonom über sich bestimmen kann und nicht in Lebensformen gedrängt wird, die in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen Selbstbild und Selbstverständnis stehen. (Bearbeiter)

8. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist als Ausdruck personaler Freiheit nicht auf fremddefinierte Situationen wie insbesondere schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Die Verwurzelung des Rechts in der Menschenwürdegarantie impliziert vielmehr, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf und sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht. (Bearbeiter)

9. Das Recht, sich selbst zu töten, kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt. Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung. (Bearbeiter)

10. Das Recht, sich selbst zu töten, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen, soweit sie angeboten wird. Wer erwägt, sein Leben eigenhändig zu beenden, sieht sich vielfach erst durch die fachkundige Hilfe Dritter in der Lage, hierüber zu entscheiden und gegebenenfalls seinen Suizidentschluss in einer für ihn zumutbaren Weise umzusetzen. Hängt die freie Persönlichkeitsentfaltung an der Mitwirkung eines anderen, schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch davor, dass es nicht durch ein Verbot gegenüber Dritten beschränkt wird, im Rahmen ihrer Freiheit Unterstützung anzubieten. (Bearbeiter)

11. Mit den Zielen des Autonomie- und des Lebensschutzes dient das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung der Erfüllung einer in der Verfassung begründeten staatlichen Schutzpflicht und damit einem legitimen Zweck. Mit der Regelung will der Gesetzgeber einer Entwicklung entgegensteuern, welche die Entstehung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen oder aus Nützlichkeitserwägungen das Leben zu nehmen. Der Gesetzgeber darf und muss gesellschaftlichen Einwirkungen wirksam entgegentreten, die als Pressionen wirken können und das Ausschlagen von Suizidangeboten rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen. (Bearbeiter)

12. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass von einem unregulierten Angebot geschäftsmäßiger Suizidhilfe

Gefahren für die Selbstbestimmung und das Leben ausgehen können und dass die bisherige Praxis in Deutschland nicht geeignet war, die Selbstbestimmungsfreiheit in jedem Fall zu wahren, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. (Bearbeiter)

13. § 217 StGB schränkt das Recht auf selbstbestimmtes Sterben in unverhältnismäßiger Weise ein. Die Strafnorm hat zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung in bestimmten Konstellationen faktisch weitgehend entleert ist. Dadurch wird die Selbstbestimmung am Lebensende in einem wesentlichen Teilbereich außer Kraft gesetzt, was mit der existentiellen Bedeutung dieses Grundrechts nicht in Einklang steht. (Bearbeiter)

14. Der Gesetzgeber darf Defiziten der medizinischen Versorgung und der sozialpolitischen Infrastruktur oder negativen Erscheinungsformen medizinischer Überversorgung, die jeweils geeignet sind, Ängste vor dem Verlust der Selbstbestimmung zu schüren und Selbsttötungsentschlüsse zu fördern, nicht dadurch begegnen, dass er das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Selbstbestimmung außer Kraft setzt. (Bearbeiter)

15. Weder die fortbestehende Straffreiheit nicht geschäftsmäßiger Suizidhilfe, noch der gesetzliche Ausbau von Angeboten der Palliativmedizin und des Hospizdienstes oder die Verfügbarkeit von Suizidhilfeangeboten im Ausland sind geeignet, die von dem Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ausgehende Einschränkung der autonomen Selbstbestimmung auszugleichen. (Bearbeiter)

16. Die Anerkennung eines Rechts auf Selbsttötung und die durch das vorliegende Urteil festgelegten Grenzen seiner Einschränkbarkeit stehen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte formulierten grundlegenden konventionsrechtlichen Wertungen. (Bearbeiter)

17. § 217 StGB schränkt die Berufsfreiheit von Ärzten, die Suizidwillige unterstützen, sowie von Rechtsanwälten, die eine suizidbezogene Beratung und die Vermittlung von Möglichkeiten zur Suizidhilfe anbieten, in verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigter Weise ein. Der Gewährleistung des Rechts auf Selbsttötung korrespondiert ein entsprechend weitreichender grundrechtlicher Schutz des Handelns des Suizidassistenten. (Bearbeiter)

18. Aus der Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB folgt nicht, dass der Gesetzgeber sich einer Regulierung der Suizidhilfe vollständig zu enthalten hat. Es steht ihm etwa frei, prozedurale Sicherungsmechanismen oder Verbote besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe zu etablieren und diese auch strafrechtlich zu sanktionieren. (Bearbeiter)

19. Als allgemeines Strafgesetz greift § 217 StGB nicht in die Vereinigungsfreiheit von Sterbehilfevereinen ein. Art. 9 Abs. 1 GG erweitert die in sonstigen Grundrechten gewährleisteten Handlungsfreiheiten nicht zu einer vereinigungsspezifischen allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern schützt ausschließlich vor vereinigungsspezifischem Sonderrecht. (Bearbeiter)

20. Ein Sterbehilfeverein mit Sitz in der Schweiz kann sich als in einem Drittstaat außerhalb der Europäischen Union ansässige juristische Person nicht auf materielle Grundrechte des Grundgesetzes berufen. Demgegenüber können Suizidhilfe anbietende juristische Personen des Privatrechts mit Sitz im Inland zumindest eine Verletzung ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit geltend machen, weil die Aufrechterhaltung ihres Angebots bußgeldbewehrt ist. (Bearbeiter)

21. Ein Beschwerdeführer, dessen Suizidwunsch sich bereits in einer Mitgliedschaft bei einem Sterbehilfeverein und einem Antrag auf Erteilung einer Freigabe für eine Suizidhilfe manifestiert hat, ist zwar nicht Adressat des § 217 StGB, durch diesen jedoch gleichwohl selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem verfassungsbeschwerdefähigen Recht betroffen, weil das gesetzliche Verbot es ihm unmöglich macht, die von ihm gewünschte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. (Bearbeiter)

22. Der Erhalt eines tatsächlich bestehenden oder mutmaßlichen Konsenses über Werte- oder Moralvorstellungen kann nicht unmittelbares Ziel strafgesetzgeberischer Tätigkeit sein (vgl. BVerfGE 120, 224, 264, abw. Meinung Hassemer). (Bearbeiter)


Entscheidung

193. BVerfG 2 BvR 859/17 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 23. Januar 2020 (OLG Nürnberg)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen Ärzte einer psychiatrischen Klinik wegen des Suizids einer Patientin (Vorwurf der fahrlässigen Tötung wegen Gewährung eines unbegleiteten Ausgangs trotz vorangegangener Suizidversuche; Anspruch auf Strafverfolgung Dritter nur in Ausnahmefällen; staatliche Schutzpflicht; besonderes Gewaltverhältnis; Recht auf effektive Strafverfolgung für nahe Angehörige bei Kapitaldelikten; Verletzung bei unzureichender Klärung der strafrechtlich relevanten Frage durch ein Sachverständigengutachten; unzulässiges Abstellen auf hypothetische Alternativszenarien; Recht auf rechtliches Gehör; Antrag auf Fortsetzung der Ermittlungen; Zugrundelegung des unzutreffenden Maßstabes; genügender Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage).

Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 6 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 170 Abs. 2 StPO; § 174 Abs. 1 StPO; § 222 StGB

1. Dem Vater einer an einer schizoaffektiven Störung leidenden, stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelten Patientin, die sich nach drei vorangegangenen Suizidversuchen bei einem unbegleiteten Ausgang auf dem Klinikgelände das Leben genommen hat, steht mit Blick auf den gegen Ärzte der Klinik wegen der Bewilligung des Ausgangs bestehenden Verdacht der fahrlässigen Tötung ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung zu.

2. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens wird dem Anspruch auf effektive Strafverfolgung nicht gerecht, wenn sie sich unzulässigerweise auf die hypothetische Alternativerwägung stützt, dass die Patientin sich auch auf der Station hätte das Leben nehmen können. Dassel-

be gilt, wenn die Ermittlungen sich auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens beschränkten, das sich lediglich zu der als fehlerhaft gerügten Medikation der Patientin, nicht hingegen zu der strafrechtlich relevanten Frage äußert, ob ihr der beschuldigte Arzt in der konkreten Situation Ausgang gewähren durfte.

3. Ein Oberlandesgericht verletzt den Anzeigeerstatter in seinem Grundrecht auf rechtliches Gehör, wenn es dessen Antrag auf gerichtliche Entscheidung an den Anforderungen für die Erhebung der öffentlichen Klage gemessen und auf den insofern erforderlichen genügenden Anlass abgestellt hat, obwohl der Antrag ausdrücklich nur auf die Fortsetzung der Ermittlungen gerichtet war, so dass ihm bereits dann stattzugeben gewesen wäre, wenn die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt nicht oder in zentralen Punkten nicht hinreichend aufgeklärt hat.

4. Wenngleich das Grundgesetz den Staat verpflichtet, das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit des Einzelnen zu schützen, so besteht doch regelmäßig kein grundrechtlich begründeter Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter.

5. Anderes kann allerdings gelten, soweit der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person – abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und der Gewalt führen kann.

6. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf effektive Strafverfolgung besteht außerdem in Konstellationen, in denen sich Personen in einem „besonderen Gewaltverhältnis“ im Sinne eines strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnisses zum Staat befinden und diesem eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt.

7. Bei Kapitaldelikten kann ein Anspruch auf ein strafrechtliches Tätigwerden des Staates auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG auch nahen Angehörigen zustehen.

8. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung bezieht sich auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane, die – nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes – den Sachverhalt aufzuklären, die Beweismittel zu sichern und zu gewährleisten haben, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen von Rechtsgütern auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Erfüllung der Verpflichtung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle und setzt eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung der Einstellungsentscheidungen.


Entscheidung

195. BVerfG 2 BvR 2992/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 31. Januar 2020 (LG Frankfurt (Oder) / AG Frankfurt (Oder))

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Durchsuchung einer Wohnung wegen des Verdachts der Geldwäsche (Wohnungsgrundrecht; Erfordernis eines „doppelten Anfangsverdachts“; Herrühren des Vermögensgegenstands aus einer Katalogvortat im Sinne des Geldwäschetatbestandes; keine Übertragbarkeit der geringeren Voraussetzungen einer Verdachtsmitteilung nach dem Geldwäschegesetz auf den strafprozessualen Anfangsverdacht der Geldwäsche; verfassungsrechtliches Verbot der Begründung eines Anfangsverdachts erst durch die Durchsuchung).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 261 Abs. 1 Satz 2 StGB, § 43 GwG

1. Eine Durchsuchungsanordnung verkennt die Bedeutung des Wohnungsgrundrechts, wenn sie vom Anfangsverdacht einer Geldwäsche allein deshalb ausgeht, weil der Beschuldigte umfangreiche Bareinzahlungen auf ein Girokonto vorgenommen und die Beträge auf ein Auslandskonto überwiesen hat, ohne dass konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Gelder aus einer Katalogvortat im Sinne des Geldwäschetatbestandes herrühren.

2. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt zu seiner Rechtfertigung einen Anfangsverdacht voraus, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss. Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.

3. Eine Wohnungsdurchsuchung wegen des Verdachts der Geldwäsche setzt voraus, dass ein Anfangsverdacht nicht nur für eine Geldwäschehandlung, sondern auch dafür besteht, dass der Vermögensgegenstand aus einer bestimmten Katalogvortat im Sinne von § 261 Abs. 1 Satz 2 StGB herrührt (sog. doppelter Anfangsverdacht), die allerdings nicht bereits in ihren Einzelheiten bekannt sein muss. Erst die Vortat versieht den Vermögensgegenstand mit dem Makel, der einer neutralen, sozialtypischen Handlung das Unwerturteil der Strafbarkeit zuweist.

4. Für die Annahme eines strafprozessualen Anfangsverdachts der Geldwäsche reicht es nicht aus, wenn lediglich die – deutlich geringeren – Voraussetzungen einer Verdachtsmitteilung nach § 43 GwG erfüllt sind. Diese soll lediglich einen Anstoß zur Klärung der Frage geben, ob die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und die Beantragung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen veranlasst ist. Für die Geldwäsche gilt verfassungsrechtlich keine Ausnahme von dem Grundsatz, dass zulässiges Ziel einer Durchsuchung nicht die Verdachtsbegründung sein darf.


Entscheidung

191. BVerfG 2 BvR 252/19 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. Januar 2020 (LG Augsburg / AG Augsburg)

Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung wegen nicht erbrachter Abstinenznachweise (Freiheitsgrundrecht; rechtsstaatliches Verfahren; Gebot bestmöglicher Sachaufklärung; erhöhte Begründungstiefe gerichtli-

cher Entscheidungen; gröblicher oder beharrlicher Weisungsverstoß; Urinproben; Fehlende Wahrnehmung von Kontrollterminen; Erfordernis einer neuerlichen Kriminalprognose; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Ausreichen milderer Mittel).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 56c StGB; § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB; § 56f Abs. 2 StGB

1. Der für den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB erforderliche gröbliche oder beharrliche Verstoß gegen eine Weisung – hier: zur Abgabe von Urinproben nach gerichtlicher Aufforderung – ist nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise begründet, wenn das Vollstreckungsgericht lediglich darauf abstellt, dass der Verurteilte mehrere Urinkontrolltermine nicht wahrgenommen hat, ohne dem Vorbringen des Verurteilten nachzugehen, wonach dieser aus beruflichen Gründen verhindert gewesen sei und sich vergeblich um Ersatztermine bemüht habe (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 28. März 2019 [= HRRS 2019 Nr. 365]).

2. Eine Widerrufsentscheidung erfüllt die verfassungsrechtlichen Anforderungen außerdem dann nicht, wenn er über den Weisungsverstoß als solchen hinaus keine Tatsachen benennt, die Rückschlüsse auf eine kriminelle Prognose zulassen, sondern in Wiederholung des Gesetzeswortlauts lediglich konstatiert, es bestehe Anlass zu der Besorgnis, dass der Verurteilte erneut Straftaten begehen werde. Ein Verstoß gegen eine Weisung zur Abgabe von Urinproben erlaubt ohne Hinzutreten konkreter Anhaltspunkte insbesondere nicht den Schluss, der Verurteilte konsumiere erneut Betäubungsmittel.

3. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben. Das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung gilt auch in Verfahren, die – wie das strafprozessuale Vollstreckungsverfahren – dem Freibeweis unterliegen. Der wertsetzenden Bedeutung des Freiheitsgrundrechts ist darüber hinaus durch eine erhöhte Begründungstiefe gerichtlicher Entscheidungen Rechnung zu tragen.

4. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, dass ein Widerruf der Strafaussetzung nur erfolgt, soweit dies unabweisbar notwendig ist und weniger belastende Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen; dem trägt § 56f Abs. 2 StGB auf einfachgesetzlicher Ebene Rechnung. Auch insoweit sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Sachverhaltsaufklärung und Begründungstiefe zu beachten.

5. Ein gröblicher Weisungsverstoß im Sinne des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ist die schuldhafte, nach objektivem Gewicht und Vorwerfbarkeit schwerwiegende Zuwiderhandlung gegen eine zulässige, dem Verurteilten bekanntgemachte, hinreichend bestimmte Weisung. Für die Beharrlichkeit ist eine wiederholte Zuwiderhandlung in ablehnender Haltung gegen den Zweck der Weisung erforderlich; dies ist ohne eine vorherige Abmahnung in der Regel nicht beweisbar.

6. Allein der beharrliche oder gröbliche Verstoß des Verurteilten gegen ihm erteilte Weisungen rechtfertigt den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nicht. Maßgeblich ist vielmehr, ob unter Berücksichtigung der gesamten Umstände der Verstoß zu der kriminellen Neigung oder Auffälligkeit des Verurteilten so in einer kausalen Beziehung steht, dass die Gefahr weiterer Straftaten besteht.


Entscheidung

192. BVerfG 2 BvR 849/15 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 15. Januar 2020 (Brandenburgisches OLG / LG Potsdam)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Nichtzulassung der Zwangsvollstreckung in zum Zwecke der Rückgewinnungshilfe arrestiertes Vermögen (Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses mit Aufhebung des dinglichen Arrests; Feststellungsinteresse nur bei fortbestehender Beeinträchtigung, Wiederholungsgefahr oder zur Klärung einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Frage); Auslagenerstattung aus Billigkeitsgründen nur bei offensichtlicher Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde.

§ 111g Abs. 2 StPO a. F.; § 34a Abs. 3 BVerfGG

1. Die Verfassungsbeschwerde einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegen die Nichtzulassung der Zwangsvollstreckung in Vermögenswerte, die im Rahmen eines Strafverfahrens zum Zwecke der Rückgewinnungshilfe arrestiert worden waren, erledigt sich mit der Aufhebung der dinglichen Arreste. Damit wird die Verfassungsbeschwerde regelmäßig wegen Wegfalls des Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, weil die Gesellschaft ihr Rechtsschutzziel nicht mehr erreichen kann.

2. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht nur dann fort, wenn im Einzelfall dargetan ist, dass anderenfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder wenn die aufgehobene Maßnahme den Beschwerdeführer weiterhin beeinträchtigt.

3. Für eine Auslagenerstattung aus Billigkeitsgründen ist nur Raum, wenn die Verfassungsbeschwerde bis zum Eintritt der Erledigung offensichtlich Aussicht auf Erfolg hatte oder die verfassungsrechtliche Lage – etwa durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in einem gleich gelagerten Fall – bereits geklärt ist.


Entscheidung

194. BVerfG 2 BvR 2592/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 31. Januar 2020 (OLG München)

Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Leiterin einer Justizvollzugsanstalt wegen unterlassener Ausführung eines Untersuchungshäftlings zur Beerdigung seiner Mutter (Klageerzwingungsverfahren; Unzulässigkeit eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Darlegungsanforderungen; aus sich selbst heraus verständliche Sachverhaltsschilderung; Recht auf rechtliches Gehör; keine Pflicht zur Bescheidung jeden Vorbringens; Verstoß bei Nichtberücksichtigung des Vortrags zu einer zentralen Frage; Erfordernis einer Anhörungsrüge; ernsthafter Versuch zur Beseitigung eines Gehörsverstoßes).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 119a StPO; § 170 Abs. 2 StPO; § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 240 StGB; § 339 StGB; Art. 24 Abs. 2 Satz 1 BayVollzG

1. Die Verwerfung eines Klageerzwingungsantrags gegen die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen Nötigung und Rechtsbeugung gegen die Leiterin einer Justizvollzugsanstalt, die einen Untersuchungsgefangenen entgegen einer gerichtlichen Anordnung unter Berufung auf eine fehlende Ausgangsentscheidung der Anstalt sowie auf organisatorische Gründe nicht zur Beerdigung seiner Mutter hatte ausführen lassen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Beschwerdeführer nicht aufzeigt, dass das Oberlandesgericht entscheidungserheblichen Vortrag – insbesondere zum subjektiven Tatbestand – übergangen oder insoweit überspannte Darlegungsanforderungen gestellt hat.

2. Das Recht auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte lediglich dazu, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht jedoch, deren (Rechts-)Auffassung zu folgen oder sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Geht ein Gericht allerdings auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer für das Verfahren zentralen Frage nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung dieses Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war.

3. Inhalt und Grenzen einer auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde werden maßgeblich durch die im fachgerichtlichen Verfahren erhobene Anhörungsrüge bestimmt. Insoweit genügt es für die Zulässigkeit der Rüge eines Gehörsverstoßes mit der Verfassungsbeschwerde nicht, dass überhaupt ein als Anhörungsrüge bezeichneter Rechtsbehelf eingelegt wurde; vielmehr muss der Beschwerdeführer den ernsthaften Versuch unternommen haben, die gerügte Verletzung vor den Fachgerichten inhaltlich zu belegen.

4. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so auszulegen, dass der Klageerzwingungsantrag in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit wiedergeben und eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage rechtfertigt.