HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2019
20. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Das Tatbestandsmerkmal der Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO als besonderes persönliches Merkmal gem. § 28 Abs. 1 StGB

Anmerkung zu BGH, Urteil vom 23.10.2018 – 1 StR 454/17 = HRRS 2019 Nr. 543

Von Dr. Victoria Ibold, München[*]

I. Einleitung

Nachdem im Jahr 2008 die Zuständigkeit für Steuerstrafsachen am BGH vom fünften auf den ersten Strafsenat überging, waren die folgenden Jahre von einer wenig täterfreundlichen Auslegung der Steuerstrafgesetze geprägt. Erinnert sei an die Entscheidung zur Festlegung objektiver Wertgrenzen bei der Bestimmung des großen Ausmaßes (§ 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Alt. 1 AO)[1], die Einführung einer "Trias von Grenzbeträgen" [2] hinsichtlich der Höhe der verkürzten Steuern als Leitlinien für die Strafzumessung[3] oder die in einem obiter dictum[4] er-

wähnte Überlegung, die zur Ermittlung des Vorsatzes herangezogene Steueranspruchstheorie aufzugeben und stattdessen die für § 266a StGB geltenden, im Vergleich zu § 370 AO herabgesetzten Anforderungen anzuwenden.

Seit einiger Zeit jedoch sind Tendenzen erkennbar hin zu einer etwas täterfreundlicher wirkenden Auslegung seitens des BGH. Mit Entscheidung vom 13.09.2018 änderte der BGH beispielsweise seine jahrzehntelange Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Vorsteuererstattungsbeträgen bei der Berechnung eines Steuerschadens: Er entschied, dass solche Ansprüche schadensmindernde, d.h. kompensierende Wirkung haben könnten und einer solchen Wertung das Kompensationsverbot gem. § 370 Abs. 4 S. 3 AO nicht entgegenstehe.[5] Auch die in diesem Beitrag besprochene Entscheidung des BGH vom 23.10.2018 ist Teil dieser Entwicklung: Der BGH entschied unter Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung, dass das Merkmal der Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ein besonderes persönliches Merkmal gem. § 28 Abs. 1 StGB sei; entsprechend könne der Gehilfe zu einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen in den Genuss der doppelten Strafmilderung gem. §§ 27 Abs. 2 S. 2, 28 Abs. 1, 49 Abs. 1 StGB kommen, wenn er nicht selbst erklärungspflichtig ist.

Dieser Entscheidung ist nicht nur vom Ergebnis her, sondern auch in ihrer Begründung zuzustimmen.

II. Sachverhalt und Entscheidung der Vorinstanz

Der Tatvorwurf gegen den Angeklagten lautete auf Beihilfe zur einer Hinterziehung von Biersteuern durch eine europaweit agierende Tätergruppe im Zeitraum zwischen Oktober 2014 und November 2015. Diesem Tatvorwurf wurde zusammengefasst folgender Sachverhalt zu Grunde gelegt:

Die Täter sollen vorgetäuscht haben, Lastwagenladungen mit Bier nach Deutschland transportiert und hierzulande weiterverkauft zu haben. Die hierauf entfallende deutsche Biersteuer wurde entrichtet. Tatsächlich soll das Bier von einem Steuerlager in Frankreich nach Großbritannien transportiert worden sein, um es dort auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Über diesen Vorgang wurden die französischen Steuerbehörden nicht unterrichtet; laut BGH betrug der im Tatzeitraum entstandene – französische – Biersteueranspruch rund 21,5 Mio. EUR.

Der Angeklagte soll in einem deutschen Getränkelager als Verantwortlicher der Lagerhalle und Vorgesetzter der Lagerarbeiter tätig gewesen sein, an welches die angeblichen Bierlieferungen gingen. Er soll v.a. verantwortlich für die Organisation und Abwicklung vom Scheinfahrten gewesen sein.

Das Landgericht Hof verurteilte den Angeklagten wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in 2.220 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten. Bei der Strafzumessung legte es den erhöhten Strafrahmen des § 370 Abs. 3 S. 1 AO – sechs Monate bis zu zehn Jahre – zu Grunde, da es sowohl eine Steuerverkürzung großen Ausmaßes (§ 370 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Alt. 1 AO) als auch eine bandenmäßig begangene Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 AO) annahm. Eine Strafmilderung gewährte das Landgericht Hof nur auf Grund der zwingenden Strafmilderung für den Gehilfen gem. §§ 27 Abs. 2 S. 2, 49 Abs. 1 StGB.

III. Rechtliche Würdigung durch den BGH

Der BGH beanstandete zwar nicht die Annahme eines besonders schweren Falles der Steuerhinterziehung auch für den Gehilfen; als rechtsfehlerhaft sah er jedoch an, dass die Vorinstanz neben der Strafmilderung für den Gehilfen (§§ 27 Abs. 2 S. 2, 49 Abs. 1 StGB) nicht auch noch eine Strafmilderung nach §§ 28 Abs. 1, 49 Abs. 1 StGB gewährt hatte.

Die Begründung hierzu lässt sich wie folgt zusammenfassen:

(1) Die Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sei ein strafbegründendes Merkmal. Täter einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen könne also nur sein, wer selbst zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen verpflichtet ist, da nur er in diesem Sinne pflichtwidrig handeln könne.[6]

(2) Die Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sei zudem ein strafbegründendes besonderes persönliches Merkmal i.S.d. § 28 Abs. 1 StGB. Konkret handle es sich um ein täterbezogenes und gerade nicht um ein bloß tatbezogenes Merkmal. Die der Pflichtwidrigkeit zu Grunde liegende Erklärungspflicht sei entgegen früherer Rechtsprechung nicht ein bloßes Jedermanns-Gebot, sondern kennzeichne eine vorstrafrechtliche Sonderpflicht höchstpersönlicher Art: "[…]das tatbestandliche Unrecht der verwirklichten Tat ergibt sich im Vergleich zu anderen Straftatbeteiligten aus der im Rahmen von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO erforderlichen Erklärungspflicht, die die besondere soziale Rolle des Täters in Bezug auf die von der Vorschrift geschützten Rechtsgüter kennzeichnet.[…]Für den Teilnehmer, der betreffend den jeweiligen Steuervorgang kein Adressat der besonderen Pflichten ist und der sich damit in keiner Vertrauensposition in Bezug zu strafrechtlich geschützten Rechtsgütern befindet, legt dies die Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB nahe[…]."[7]

(3) Eine Erklärungspflicht des Angeklagten hatte die Vorinstanz nicht festgestellt.

(4) Die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 StGB könne nicht erst eine Rückverschiebung des Strafrahmens des besonders schweren Falls gem. § 370 Abs. 3 S. 1 AO über § 49 Abs. 1 StGB bewirken. Vielmehr sei schon bei der Prüfung, ob ein besonders schwerer Fall gegeben sei, der Milderungsgrund des § 28 Abs. 1 StGB alleine oder im Zusammenhang mit dem des § 27 Abs. 2 S. 2 StGB in den Blick zu nehmen.

(5) Verbrauche der Tatrichter diese Milderungsgründe bzw. einen dieser Milderungsgründe nicht, indem er vom Strafrahmen des § 370 Abs. 3 S. 1 AO absehe, könne eine doppelte Strafmilderung gem. §§ 28 Abs. 1, 27 Abs. 2 S. 2, 49 Abs. 1 StGB gewährt werden. Dies gelte nur dann nicht, wenn das Tatgericht allein wegen Fehlens der Erklärungspflicht Beihilfe statt Täterschaft angenommen habe. Eine solche Konstellation liege aber im vorliegenden Fall nicht vor.

IV. Bewertung und Kritik

1. Anwendbarkeit deutschen Rechts bzw. des § 370 AO

Im Mittelpunkt der Bewertung dieser Entscheidung steht selbstverständlich die Abkehr des BGH von seiner bisherigen Rechtsprechung und entsprechend die Qualifizierung der Pflichtwidrigkeit gem. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO als besonderes persönliches Merkmal. Aufmerksamkeit bedarf aber zunächst einmal die Frage der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bzw. des § 370 AO auf den vorliegenden Sachverhalt, der sich der BGH nicht ausdrücklich widmet:

Der BGH schreibt etwas kryptisch, dass das Täterverhalten "(auch) in Frankreich zur Entstehung eines Biersteueranspruchs" geführt habe;[8] von einem hinterzogenen deutschen Biersteueranspruch ist nicht die Rede – nach der Sachlage aber auch nicht naheliegend. Dennoch ist § 370 AO auf den vorliegenden Sachverhalt unproblematisch anwendbar: Denn einerseits fand jedenfalls die Gehilfentat des Angeklagten in Deutschland statt, vgl. §§ 3, 9 Abs. 2 S. 1, 2 StGB. Zum anderen ist gem. § 370 Abs. 6 S. 2 AO auch die Hinterziehung von Verbrauchsteuern i.S.d. Verbrauchsteuer-System-RL[9] strafbar, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union – hier jedenfalls vom Mitgliedstaat Frankreich – verwaltet werden:

Bei der Biersteuer handelt es sich um eine indirekte Verbrauchsteuer, die in der Verbrauchsteuer-System-RL harmonisiert ist. Der Biersteueranspruch entsteht entsprechend grundsätzlich dort, wo das Bier in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wird, Art. 7 Abs. 1 Verbrauchsteuer-System-RL, also regelmäßig am Ort des Verkaufs. Wo das Bier in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wird und sich damit nicht mehr im Verfahren der sog. Steueraussetzung befindet, wird über das computergestützte EMCS-Verfahren (Exercise and Movement Control System) erfasst.

Wenngleich die Entstehung und Erhebung der Biersteuer als Verbrauchsteuer harmonisiert ist, kann dennoch jeder Mitgliedstaat die Höhe der zu erhebenden Biersteuer selbst festsetzen, entsprechend variiert sie in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ganz erheblich.

Diese Unterschiede in der Höhe der Biersteuer wollten sich die Täter im vorliegenden Fall durch die Organisation eines "Biersteuerkarussells" zu Nutze machen: Indem sie vortäuschten, das Bier in Deutschland weiterverkauft zu haben, erweckten sie den Anschein, dass dort die Biersteuer entstanden und zu entrichten sei. Bei diesem "täuschenden" Vorgang handelte es sich jedoch um eine Unregelmäßigkeit i.S.v. Art. 10 Verbrauchsteuer-System-RL, die bewirkt, dass die Biersteuer dort zu entrichten war, wo wie Unregelmäßigkeit begangen wurde, vorliegend also in Frankreich. Die französische Biersteuer ist dabei knapp viermal so hoch wie in Deutschland, die im Empfängerland Großbritannien im Übrigen elfmal so hoch.[10]

Entsprechend ist jedenfalls auch in Deutschland die Hinterziehung der französischen Biersteuer ein grundsätzlich strafbares Verhalten, obwohl der deutsche Fiskus in Fällen wie dem vorliegenden durch das Verhalten der Täter eigentlich einen finanziellen Vorteil erlangt hat.

Nun zu den o.g. Punkten in der Begründung des BGH:

2. Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO als spezielles Tätermerkmal

Zu (1): Mit der Einordnung des Merkmals der Pflichtwidrigkeit als strafbarkeitsbegründendes Merkmal bleibt der BGH seiner bisherigen Rechtsprechung[11] treu: Danach qualifiziert er diese – richtigerweise[12] – als spezielles Tätermerkmal, das beispielsweise auch nicht über die Voraussetzungen der Mittäterschaft gem. § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden kann.

Der BGH scheute jedoch bisher davor zurück, daraus die Konsequenz zu ziehen, § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO richtigerweise als Sonderdelikt[13] zu qualifizieren, sondern bezeichnete diesen als Allgemeindelikt, da es sich bei der steuerlichen Erklärungspflicht nicht um eine personenbezogene, sondern eine verhaltensbezogene Eigenschaft handle.[14] Diese Argumentation des BGH war wenig überzeugend, betrafen die von ihm genannten Abgrenzungs-

kriterien doch vielmehr die Frage, ob die Pflichtwidrigkeit ein besonderes persönliches Merkmal i.S.d. § 28 Abs. 1 StGB ist.[15]

Wenn der BGH nun zum Schluss kommt, dass es sich bei der Pflichtwidrigkeit in der Tat um ein besonders persönliches Merkmal handelt – siehe oben (2) –, wird er § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO zwangsläufig auch als Sonderdelikt bezeichnen müssen.

3. Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO als besonderes persönliches Merkmal i.S.d. § 28 Abs. 1 StGB

Im o.g. Punkt (2) gibt der BGH – und darin besteht das Novum dieser Entscheidung – seine ständige und zuletzt 2016 bestätigte Rechtsprechung[16] auf, dass die Pflichtwidrigkeit kein besonderes persönliches Merkmal sei. Er schließt sich dabei der in der Literatur wohl h.M.[17] an, dass die Pflichtwidrigkeit ein täterbezogenes Merkmal sei und gerade keines, dass nur ein bestimmtes Täterverhalten beschreibt und damit rein tatbezogen wäre. Dieses Ergebnis leitet der BGH dogmatisch klar und überzeugend her.

Die Regelungen des § 28 StGB, wie im Übrigen auch die des § 29 StGB, bewirken eine Lockerung der Akzessorietät der Teilnahme; sie beruhen auf dem Gedanken, dass Umstände, die zwar Unrecht und Schuld bestimmen, dabei aber weniger die Tat als die Person des Täters bzw. des Teilnehmers kennzeichnen, nur demjenigen zugeschrieben werden sollen, der sie in eigener Person verwirklicht.[18] Bei sog. strafbegründenden besonderen persönlichen Merkmalen, die ein Teilnehmer nicht aufweist, wird die Akzessorietät dann zwar – anders als bei § 28 Abs. 2 StGB – nicht wirklich durchbrochen;[19] das geminderte Unrecht bzw. die geminderte Schuld wird aber durch eine zwingende Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB berücksichtigt, die Akzessorietät also auf Rechtsfolgenseite gelockert.

Ausgehend vom o.g. Grundgedanken der §§ 28, 29 StGB unterscheidet die Rechtsprechung[20] (unter weitgehender Zustimmung der Literatur[21]) bei der Bestimmung der Anwendbarkeit speziell des § 28 StGB zunächst zwischen täter- und tatbezogenen Merkmalen: Nur täterbezogene Merkmale sollen den Anwendungsbereich von § 28 StGB eröffnen. Speziell im Falle einer qualifizierten Pflichtenstellung sei – unter Berücksichtigung der Schutzrichtung des jeweiligen Straftatbestands – zu unterscheiden, ob es sich um eine vorstrafrechtliche besondere Pflicht handle, die den Täter oder Teilnehmer höchstpersönlich treffe, oder ob diese als strafrechtliches Gebot an jedermann adressiert sei.[22]

Diese Unterscheidung geht zurück auf eine von Roxin entwickelte Lehre.[23] Diese beruht auf dem Gedanken, dass § 28 StGB anwendbar sein soll, "wo das Unwertgefälle zwischen Täterschaft und Teilnahme infolge besonderer Umstände in der Person eines Beteiligten über die Unterschiede der normalen Täter-Teilnehmerbeziehung"[24] hinausgehe. Bei Pflichtenstellungen sei dies dann der Fall, wenn der Täter eine Art "Sonderunrecht", ein gesteigertes Handlungsunrecht, verwirkliche, an dem der Teilnehmer keinen Anteil habe. Der Täter befinde sich dann in einer besonderen sozialen Rolle mit einer gesteigerten Verantwortung, die den Rechtsbruch als besonders verwerflich erscheinen lasse.[25] Nicht anwendbar sei § 28 StGB hingegen, wenn keine vorstrafrechtliche Sonderpflicht, sondern ein strafrechtliches Jedermann-Gebot gegeben ist, "auch wenn der Täterkreis aus kriminal-phänomenologischen Erwägungen, d.h. im Interesse der Deliktskonturierung, faktisch beschränkt" ist.[26]

Geht es nun konkret darum, zu bestimmen, ob die Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ein besonderes persönliches Merkmal ist, ist nach dieser zustimmungswürdigen Lehre zu ermitteln, ob der Täter gegenüber dem von § 370 AO geschützten Rechtsgut eine besondere soziale Rolle mit gesteigerter Verantwortung einnimmt:

Das Unrecht der Steuerhinterziehung besteht darin, dass der Täter durch unwahre oder unvollständige Angaben (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) bzw. durch das vollständige Unterlassen von Angaben (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) über steuerlich erhebliche Tatsachen Steuern verkürzt bzw. einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil erlangt. Der staatliche Steueranspruch ist damit nicht vor jeglichen Beeinträchtigungen geschützt, sondern nur vor Verlet-

zungen spezieller steuerlicher Offenbarungs- und Mitteilungspflichten, wie sie etwa allgemein § 90 Abs. 1 S. 2 AO für die Beteiligten am Steuerverfahren konstituiert[27] und weiter speziell in den Steuergesetzen geregelt sind (beispielsweise die Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuerjahreserklärung).[28] Hintergrund für diese Schutzrichtung des § 370 AO ist ein strukturelles, in der liberalen Staatsordnung angelegtes Informationsdefizit seitens des Staates hinsichtlich der für die Besteuerung erheblichen Tatsachen.[29] Hat also der Täter i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO eine spezielle steuerliche Erklärungspflicht inne, wird ihm eine gesteigerte Verantwortung bezüglich des staatlichen Steueraufkommens zugeschrieben und kommt er dieser Verantwortung nicht nach, enttäuscht er das in ihn gesetzte Vertrauen, den Staat über die ihm zustehenden Steueransprüche aufzuklären. Die Erklärungspflicht des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO postuliert also gerade kein Jedermanns-Gebot, sondern beruht jeweils auf einer speziellen steuerrechtlichen und damit außerstrafrechtlichen Pflicht. Dies erkennt nun auch der BGH in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung an, wenn er ausführt, dass "das tatbestandliche Unrecht der verwirklichten Tat[…]sich im Vergleich zu anderen Straftatbeteiligten aus der im Rahmen von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO erforderlichen Erklärungspflicht, die die besondere soziale Rolle des Täters in Bezug auf die von der Vorschrift geschützten Rechtsgüter kennzeichnet[…]"[30], ergibt.

Im Ergebnis begründet also das Fehlen eines pflichtwidrigen Handelns i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO in der Person des Teilnehmers ein besonderes Unwertgefälle zwischen Täterschaft und Teilnahme infolge besonderer Umstände in der Person des Täters. Es handelt sich um ein täterbezogenes und damit besonderes persönliches Merkmal i.S.d. § 28 StGB.

4. Rechtsfolgen der Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 StGB

Zu (4), (5): Aufmerksamkeit bedarf diese Entscheidung des BGH zuletzt hinsichtlich der Rechtsfolgen, die aus der Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 StGB folgen.

Zunächst ergibt sich generell aus der Anwendbarkeit von § 28 Abs. 1 StGB die Möglichkeit der doppelten Strafmilderung zusammen mit § 27 Abs. 2 S. 2 StGB. Diese möchte der BGH – hier wieder in gewohnter ständiger Rechtsprechung[31] – nur dann nicht gewähren, wenn Beihilfe statt Täterschaft allein wegen Fehlens der Erklärungspflicht angenommen worden sei. Als Grund dafür wurde in der Vergangenheit angeführt, dass ein und derselbe Umstand – das Fehlen eines Tätermerkmals – nicht doppelt verwertet werden könne.[32]

Der BGH weist zusätzlich darauf hin, dass die §§ 28 Abs. 1, 27 Abs. 2 S. 2 StGB nicht nur zu einer doppelten Strafmilderung des hier gem. § 370 Abs. 3 S. 1 AO erhöhten Strafrahmens führen können; vielmehr sei primär zu prüfen, ob diese Strafmilderungsgründe einzeln oder gemeinsam die vom Landgericht angenommenen Regelbeispiele entkräften könnten, sodass bereits kein besonders schwerer Fall vorliegen könnte. Diese Wertung entspricht der Natur von Regelbeispielen: Sie indizieren zwar einen besonders schweren Fall, sodass das Gericht grundsätzlich keine weitere Begründung vornehmen muss[33], im Einzelfall kann das Gericht aber die Regelwirkung im Rahmen einer Abwägung "aller Zumessungstatsachen aufgrund einer Gesamtbewertung aller wesentlichen tat- und täterbezogenen Umstände widerlegen"[34] , wenn kompensierende Strafzumessungsfaktoren so schwer wiegen, dass die Anwendung des erschwerten Strafrahmens unangemessen erscheint.[35] Solch kompensierende Strafzumessungsfaktoren können vertypter oder sonstiger Natur sein. Entsprechend können hier die vertypten Milderungsgründe der §§ 28 Abs. 1, 27 Abs. 2 S. 2 StGB herangezogen werden; dies liegt für § 27 Abs. 2 S. 2 StGB ohnehin nahe, da die Rechtsprechung richtigerweise[36] immer betont, dass bei einer Beihilfe zur Steuerhinterziehung nicht entscheidend sei, ob die Tat des Haupttäters einen besonders schweren Fall darstellt, sondern vielmehr, ob die Beihilfe selbst – unter Berücksichtigung des Gewichts der Haupttat – ein besonders schwerer Fall ist.[37] Und das Ergebnis dieser Gesamtwürdigung hängt entscheidend vom Umfang und Gewicht des Teilnehmerbeitrags und der daraus abzuleitenden Schuld ab.[38]

Sieht das Gericht trotzdem nicht vom besonders schweren Fall ab, sind die vertypten Milderungsgründe der §§ 28 Abs. 1, 27 Abs. 2 S. 2 StGB noch nicht verbraucht und müssen für eine doppelte Strafmilderung gem. § 49 Abs. 1 StGB herangezogen werden.

V. Ergebnis und Ausblick

Die vorliegende Entscheidung des BGH, mit der er eine Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung hin zu einer Anerkennung der Pflichtwidrigkeit des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO als besonderes persönliches Merkmal i.S.d. § 28 Abs. 1 StGB vornimmt, verdient volle Zustimmung. Sie überzeugt nicht nur hinsichtlich ihres Ergebnisses, sondern auch hinsichtlich ihrer dogmatisch nachvollziehbaren Begründung. Und sie reiht sich in der Tat ein in eine seit einiger Zeit zu beobachtende tendenziell täterfreundlich wirkende Auslegung der Steuerstrafgesetze. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Tendenz auch in anderen Bereichen des Steuerstrafrechts fortsetzen wird.

Speziell im Hinblick auf den vom BGH entschiedenen und an die Vorinstanz zurückverwiesenen Fall sei noch angemerkt, dass der BGH für die erneute Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass die Vorinstanz ergänzend zu prüfen habe, ob den Angeklagten nicht auch selbst eine Erklärungspflicht nach französischem Recht treffe. Sollte der Angeklagte also nach französischem Recht zur Abgabe einer Steuererklärung im Hinblick auf dem französischen Staat zustehende Biersteuer verpflichtet gewesen sein, wäre er Täter und nicht bloßer Teilnehmer einer Tat nach § 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 6 S. 2 AO. Dieser Hinweis zeigt damit zuletzt, dass die zunehmende Harmonisierung im materiellen Steuerrecht[39] auch die Strafgerichte nicht unbeeinflusst lässt.


[*] Die Autorin ist akademische Oberrätin und Habilitandin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

[1] BGHSt 53, 71 = wistra 2009, 107 (110) = HRRS 2009 Nr. 127, Rn. 30 ff. In dieser Entscheidung differenzierte der BGH noch zwischen einem Grenzbetrag von 50.000 EUR, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hatte, und einem Grenzbetrag von 100.000 EUR bei einem bloßen Unterlassen des Täters. Mit Entscheidung BGH NZWiSt 2016, 102 = HRRS 2016 Nr. 212, bestätigt durch BGH NZWiSt 2018, 196 (197) = HRRS 2017 Nr. 692, Rn. 17, verschärfte der BGH diese Rspr. jedoch noch einmal, indem er nun ohne weitere Differenzierung auf die niedrigere Wertgrenze von 50.000 EUR abstellt.

[2] MüKoStGB/Schmitz/Wulf, StGB, 2. Aufl. (2015), § 370 AO Rn. 503.

[3] Grundlegend BGHSt 53, 71 = wistra 2009, 107 (111) = HRRS 2009 Nr. 127, Rn. 23 ff. und in nachfolgenden Entscheidungen weiter konkretisiert: BGH wistra 2012, 236 (238 f.) = HRRS 2012 Nr. 321; wistra 2012, 350 (353 f.) = HRRS 2012 Nr. 617, Rn. 36 ff.; wistra 2013, 31 = HRRS 2012 Nr. 981.

[4] BGH NStZ 2012, 160 (161) = HRRS 2011 Nr. 1139, Rn. 22 ff.

[5] BGH NJW 2019, 165 (166) = HRRS 2018 Nr. 1115.

[6] BGH HRRS 2019 Nr. 543 Rn. 19.

[7] BGH HRRS 2019 Nr. 543 Rn. 20.

[8] BGH HRRS 2019 Nr. 543 Rn. 8.

[9] Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009 Nr. L 9 S. 12).

[10] Vgl. hierzu die Statistik von statista für das Jahr 2017, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/177374/umfrage/verbrauchssteuern-auf-bier-in-europa/ (zuletzt geprüft am 07.06.2019).

[11] Vgl. nur BGH NJW 2013, 2449 (2452) = HRRS 2013 Nr. 542, Rn. 55.

[12] BeckOK AO/Ibold, AO, 8. Edition (2019), § 370 AO Rn. 84; ERST/Gaede, Praxiskommentar zum Wirtschaftsstrafrecht (2017), § 370 AO Rn. 129; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung, 251. Aktualisierung (2019), § 370 AO Rn. 92, 210 f.; Flore/Tsambikakis/Flore, Steuerstrafrecht, 2. Aufl. (2016), § 370 AO Rn. 152, 213; Hüls/Reichling/Schott, Steuerstrafrecht (2016), § 370 AO Rn. 21.

[13] So Graf/Jäger/Wittig/Rolletschke, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl. (2017), § 370 AO Rn. 15 f.; Kohlmann/Ransiek, Steuerstrafrecht, 62. Aktualisierung (2019), § 370 AO Rn. 87; BeckOK AO/Ibold, 8. Edition (2019), AO, § 370 Rn. 84.1; Höll wistra 2013, 455 (458); weitergehend: MüKoStGB/Schmitz/Wulf, StGB, 2. Aufl. (2015), § 370 AO Rn. 280, 384, für die sogar § 370 Abs. 1 Nr. 1 ein Sonderdelikt ist.

[14] BGH NJW 1995, 1764; BGH NJW 2013, 2449 (2452) = HRRS 2013 Nr. 542, Rn. 58.

[15] BeckOK AO/Ibold, AO, 8. Edition (2019), § 370 AO Rn. 84.1.

[16] BGH NJW 1995, 1764 (1765); BGH NJW 2011, 2526 (2527) = HRRS 2011 Nr. 682 Rn. 6; HRRS 2016 Nr. 1022 Rn. 35.

[17] Klein/Jäger, Abgabenordnung: AO, 14. Aufl. (2018), § 370 AO Rn. 61d; Radtke JuS 2018, 641 (646); NK-StGB-Puppe, 5. Aufl. (2017), § 28 StGB Rn. 69; MüKoStGB/Schmitz/Wulf, StGB, 2. Aufl. (2015), § 370 AO Rn. 417; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hellmann, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung, § 370 AO Rn. 109; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. (2015), § 369 AO Rn. 84; Kohlmann/Ransiek, Steuerstrafrecht, 62. Aktualisierung (2019), § 370 AO Rn. 125; Reichling/Lange NStZ 2014, 311 (313); a.A. Ranft JZ 1995, 1186 f.; Graf/Jäger/Wittig/Rolletschke, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl. (2017), § 370 AO Rn. 54; Leitner/Rosenau/Pelz, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht (2017), § 370 AO Rn. 196.

[18] Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 27 Rn. 1; Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, 30. Aufl. (2019), § 28 StGB Rn. 1; BeckOK StGB/Kudlich, StGB, 41. Edition (2019), § 28 StGB Rn. 1.

[19] Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, 30. Aufl. (2019), § 28 StGB Rn. 1.

[20] Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH NJW 1994, 271 (272); NJW 1995, 1764 (1765); BGH HRRS 2019 Nr. 543 Rn. 15 f. mwN.

[21] BeckOK StGB/Kudlich, StGB, 41. Edition (2019), § 28 StGB Rn. 8; Lackner/Kühl/Kühl, StGB, 29. Aufl. (2018), § 28 StGB Rn. 5 f.; Rengier, Strafrecht AT, 10. Aufl. (2018), § 46 Rn. 13; Heinrich, Strafrecht AT, 5. Aufl. (2016), Rn. 1350; kritisch u.a. Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 27 Rn. 32 ff.

[22] BGH NJW 1995, 1764 (1765); BGHSt 58, 115 = NJW 2013, 949 (950) mwN = HRRS 2013 Nr. 288.

[23] Vgl. Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 27 Rn. 51 ff.

[24] Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 27 Rn. 51.

[25] Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 27 Rn. 51 auch unter Bezugnahme auf Vogler, in: Festschrift für Richard Lange (1976), S. 279. Vgl. aber auch ähnlich Hake JR 1996, 162 ff.; Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, 30. Aufl. (2019), § 28 StGB Rn. 17.

[26] Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 27 Rn. 61.

[27] "Sie [die Beteiligten]kommen der Mitwirkungspflicht insbesondere dadurch nach, dass sie die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offen legen[…]", § 90 Abs. 1 S. 2 AO.

[28] §§ 25 Abs. 3 EStG iVm 56, 60 EStDV.

[29] BeckOK AO/Ibold, AO, 8. Edition (2019), § 370 AO Rn. 19 f.; vgl. auch MüKoStGB/Schmitz/Wulf, StGB, 2. Aufl. (2015), § 370 AO Rn. 283.

[30] BGH HRRS 2019 Nr. 543 Rn. 19.

[31] BGH NStZ 2018, 221 (222) = HRRS 2018 Nr. 175, Rn. 23; wistra 2015, 146 = HRRS 2015 Nr. 274; BGHSt 58, 115 (118) = HRRS 2013 Nr. 288; NStZ 2012, 630 = HRRS 2011 Nr. 1235.

[32] BGH NJW 1975, 837.

[33] BGH NStZ 2011, 643 = HRRS 2011 Nr. 643 Rn. 9; Rolletschke NZWiSt 2012, 18 (19).

[34] BGH NJW 1970, 1196 (1197); BGH NStZ 2011, 643 = HRRS 2011 Nr. 643 Rn. 5 ff.

[35] BGH NStZ 2011, 643 = HRRS 2011 Nr. 643 Rn. 7.

[36] Besonders schwere Fälle sind keine Tatbestands- sondern Strafzumessungsmerkmale. Dies führt u.a. dazu, dass diese Merkmale keiner Zurechnung im Rahmen einer Täterschaft oder Teilnahme gem. §§ 25−27 StGB zugänglich sind; daher muss der besonders schwere Fall für jeden einzelnen Täter und Teilnehmer geprüft werden, vgl. nur BeckOK AO/Ibold, AO, 8. Edition (2019), § 370 AO Rn. 612.

[37] BGH NStZ 1983, 217; NJW 2009, 690 (692) = HRRS 2009 Nr. 1 Rn. 29; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. (2015), § 370 AO Rn. 561; MüKoStGB/Schmitz/Wulf, 2. Aufl. (2015), StGB, § 370 AO Rn. 467; Graf/Jäger/Wittig/Rolletschke, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl. (2017), § 370 AO Rn. 577.

[38] Lackner/Kühl/Kühl, StGB, 29. Aufl. (2018), § 46 StGB Rn. 16; BGH NJW 1983, 54; NStZ 1983, 217; NStZ-RR 2012, 342 f. = HRRS 2012 Nr. 914 .

[39] Vgl. übersichtsartig BeckOK AO/Ibold, 8. Edition (2019), § 370 AO Rn. 68.