HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2018
19. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

80. BGH 2 StR 387/17 – Beschluss vom 2. November 2017 (LG Aachen)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (konkrete Erfolgsaussicht der Maßregel).

§ 64 Satz 2 StGB

Bei außerordentlich ungünstigen Umständen, die gegen einen mehr als nur kurzfristigen Behandlungserfolg sprechen, ist alleine die vom Angeklagten gegenüber einem Sachverständigen bekundete Therapiebereitschaft nicht geeignet, eine konkrete Erfolgsaussicht der angeordneten Maßregel im Sinne des § 64 Satz 2 StGB zu begründen.


Entscheidung

12. BGH 3 StR 410/17 – Beschluss vom 2. November 2017 (LG Trier)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Schuldunfähigkeit; Beruhen der Anlasstat; unzutreffende Vorstellungen von der Wirklichkeit; Auswirkungen auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit; umfassende Darstellung der für die Gefährlichkeitsprognose wesentlichen Gesichtspunkte); selbständiges Einziehungsverfahren.

§ 63 StGB; § 76a StGB; § 435 StPO

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund einer nicht nur vorübergehenden psychischen Störung im Sinne eines der in § 20 StGB genannten Eingangsmerkmale schuldunfähig (§ 20 StGB) oder vermindert schuldfähig (§ 21 StGB) war und die Tatbegehung hierauf beruht. In diesem Zusammenhang ist darzulegen, wie sich die festgestellte, einem Merkmal der §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlassta-

ten auf den entsprechenden Zustand zurückzuführen sind.

2. Unzutreffende Vorstellungen von der Wirklichkeit aufgrund von kognitiven Einschränkungen führen nicht für sich genommen schon zur Annahme aufgehobener Einsichtsfähigkeit. Vielmehr ist in solchen Fällen nachvollziehbar zu begründen, warum der Angeklagte zweifelsfrei nicht in der Lage gewesen sein sollte, das Unrecht seiner Tat zu erkennen.


Entscheidung

20. BGH 5 StR 446/17 – Urteil vom 29. November 2017 (LG Leipzig)

Rechtsfehlerhafte Gefährlichkeitsprognose beim Unterlassen der Anordnung der Sicherungsverwahrung (typische Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern; Haltungsänderungen; Alterungsprozesse; Maßgeblichkeit des Verurteilungszeitpunkts).

§ 66 StGB

Die bloß theoretische Möglichkeit der späteren altersbedingten Verringerung der Gefährlichkeit ist im Rahmen der Prüfung des § 66 Abs. 1 StGB regelmäßig nicht zu berücksichtigen, sondern allenfalls im Verfahren nach § 67c Abs. 1 S. 1 StGB zu prüfen. Für die Gefährlichkeitsprognose kommt es auf den Zeitpunkt der Verurteilung an (§ 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB). Hinsichtlich der Anordnung der Sicherungsverwahrung steht dem Tatgericht auch kein Ermessen zu, in dessen Rahmen eine zu erwartende Haltungsänderung oder Alterungsprozesse berücksichtigt werden könnten.


Entscheidung

19. BGH 5 StR 439/17 – Urteil vom 15. November 2017 (LG Potsdam)

Gefährlichkeitsprognose bei der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Straftat von erheblicher Bedeutung; mittlere Kriminalität; empfindliche Störung des Rechtsfriedens; erhebliche Beeinträchtigung des Gefühls der Rechtssicherheit der Bevölkerung; Gewalt- und Aggressionsdelikte; Erforderlichkeit erheblicher körperlicher oder seelischer Schäden).

§ 63 StGB; § 223 StGB

1. Eine Straftat von erheblicher Bedeutung i.S.d. § 63 StGB liegt vor, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die wie die vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB im Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden, gehören regelmäßig zum Bereich der mittleren Kriminalität. Lediglich Straftaten, die höchstens mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, sind nicht mehr ohne Weiteres diesem Bereich zuzurechnen.

2. Nach der Neufassung von § 63 S. 1 StGB muss auch bei drohenden Körperverletzungen im konkreten Einzelfall geprüft werden, ob diese zu einer „erheblichen“ Schädigung oder Gefährdung führen und deshalb den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Dabei verbietet sich jede schematische Betrachtung. Erforderlich ist eine Gesamtabwägung, in die neben der Schwere einer drohenden Tat insbesondere auch die Häufigkeit und die Rückfallfrequenz einzustellen sind.


Entscheidung

86. BGH 2 StR 498/16 – Beschluss vom 21. September 2017 (LG Gießen)

Grundsätze der Strafzumessung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit).

§ 46 StGB

Für die Strafzumessung und deren rechtliche Überprüfung ist grundsätzlich die Kenntnis vom Werdegang und den Lebensverhältnissen des Angeklagten wesentlich. Nur so kann das Revisionsgericht überprüfen, ob die Zumessung einer verhängten Freiheitsstrafe auf der gebotenen wertenden Gesamtschau des Tatgeschehens sowie des Täters und der für seine Persönlichkeit, sein Vorleben und sein Nachtatverhalten aussagekräftigen Umstände beruht.


Entscheidung

15. BGH 5 StR 335/17 – Beschluss vom 29. November 2017 (LG Lübeck)

Betrug (Zusammenarbeit mehrerer Beteiligter im Rahmen einer Tatserie; Aufbau und Aufrechterhaltung des auf die Straftaten ausgerichteten „Geschäftsbetriebs“; uneigentliches Organisationsdelikt; einheitliche Tat; Ermittlung des verbleibenden Schadens für jede Einzeltat bei der Strafzumessung; verschuldete Auswirkungen der Tat).

§ 52 StGB; § 53 StGB; § 263 StGB

Bei Zusammenarbeit mehrerer Beteiligter im Rahmen einer Tatserie (hier: Betrugstaten) bestimmt sich die Zahl der rechtlich selbständigen Handlungen im Sinne von § 53 Abs. 1 StGB für jeden Täter grundsätzlich nach der Anzahl seiner eigenen Handlungen zur Verwirklichung der Einzeldelikte. Wirkt ein Täter an einzelnen Taten selbst nicht unmittelbar mit einem individuellen Tatbeitrag mit, sondern erschöpft sich seine Mitwirkung daran im Aufbau und in der Aufrechterhaltung des auf die Straftaten ausgerichteten „Geschäftsbetriebs“, sind diese Tathandlungen als – uneigentliches – Organisationsdelikt zu einer einheitlichen Tat im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB zusammenzufassen (st. Rspr., vgl. zuletzt etwa BGH HRRS 2015 Nr. 13 m.w.N.).


Entscheidung

65. BGH 1 StR 136/17 – Beschluss vom 25. Oktober 2017 (LG Nürnberg-Fürth)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Verbot der Verschlechterung bzw. Schlechterstellung).

§ 55 StGB; § 331 Abs. 1 StPO; § 358 Abs. 2 StPO

1. Bei Aufhebung einer Gesamtstrafe durch das Revisionsgericht und Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht ist in der neuen Verhandlung die Gesamtstrafe nach Maßgabe der Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten tatrichterlichen Verhandlung vorzunehmen.

2. Die aus den neuen Einzelstrafen zu bildende Gesamtstrafe darf jedoch nicht höher bemessen werden, als jene

Einzelstrafe des ersten Urteils, weswegen gegebenenfalls eine Erhöhung der verwirkten schwersten Strafe um die weitere Strafe für den ursprünglich mit einer Einheitsstrafe geahndeten Lebenssachverhalt zu unterbleiben hat.


Entscheidung

13. BGH 3 StR 423/17 – Beschluss vom 17. Oktober 2017 (LG Verden)

Strafrahmenwahl beim Wohnungseinbruchsdiebstahl (Verhältnis von minder schwerem Fall und gesetzlich vertyptem Milderungsgrund; Versuch verminderte Schuldfähigkeit; doppelte Strafrahmenverschiebung); rechtsfehlerhafte Gesamtstrafenbildung.

§ 49 StGB; § 55 StGB; § 244 StGB

1. Sieht das Gesetz den Sonderstrafrahmen eines minder schweren Falls vor und ist zugleich ein vertypter Milderungsgrund gegeben, so ist vorrangig der minder schwere Fall zu prüfen. Im Rahmen der dabei gebotenen Gesamtwürdigung aller strafzumessungserheblichen Umstände kann auch der vertypte Milderungsgrund – zu festgestellten sonstigen Milderungsgründen hinzutretend oder auch für sich – einen minder schweren Fall begründen.

2. Erst wenn der Tatrichter die Anwendung des milderen Sonderstrafrahmens auch unter Berücksichtigung des vertypten Milderungsgrundes nicht für gerechtfertigt hält, darf er seiner konkreten Strafzumessung den (allein) wegen dieses Milderungsgrundes herabgesetzten Regelstrafrahmen zugrunde legen. Ist der nach § 49 Abs. 1 StGB gemilderte Strafrahmen für den Angeklagten günstiger als derjenige des minder schweren Falls, ist dies in die Gesamtwürdigung miteinzubeziehen.


Entscheidung

88. BGH 4 StR 427/17 – Beschluss vom 23. November 2017 (LG Trier)

Entziehung der Fahrerlaubnis (Gesamtwürdigung bei Fehlen einer Katalogtat).

§ 69 Abs. 2 StGB

1. Soll einem Täter wegen einer anderen Straftat, die nicht in dem Katalog des § 69 Abs. 2 StGB enthalten ist, die Fahrerlaubnis entzogen werden, muss der Tatrichter eine Gesamtwürdigung der Tatumstände und der Täterpersönlichkeit vornehmen, mit der die fehlende Eignung belegt wird, wobei der Umfang der Darlegung vom Einzelfall abhängt.

2. Zwar belegt das Führen eines Kraftfahrzeugs unter dem deutlichen und zumindest mitunfallursächlichen Einfluss von Amphetaminen in aller Regel eine erhebliche charakterliche Unzuverlässigkeit, die auch die Ungeeignetheit des Täters zum Führen eines Kraftfahrzeugs nahe legt. Dies rechtfertigt jedoch ein Absehen von jeglicher Begründung nicht.