HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2017
18. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

675. BGH 4 StR 547/16 - Beschluss vom 27. April 2017 (OLG Nürnberg)

BGHSt; Fahren ohne Fahrerlaubnis; Hemmung der Rechtskraft; Berufungsbeschränkung (Wirksamkeit der Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch); Umfang der Urteilsprüfung (sog. umgebende Feststellungen).

§ 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG; § 316 Abs. 1 StPO; § 318 Satz 1 StPO; § 327 StPO

1. Im Fall einer Verurteilung wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG ist die Beschränkung einer Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch nicht deshalb unwirksam, weil sich die Feststellungen in dem angegriffenen Urteil darin erschöpfen, dass der Angeklagte an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit auf einer öffentlichen Straße ein näher bezeichnetes Kraftfahrzeug geführt hat, ohne die erforderliche Fahrerlaubnis zu besitzen und er insoweit wissentlich gehandelt hat. (BGHSt)

2. Wie die Revision kann auch die Berufung auf „bestimmte Beschwerdepunkte“ beschränkt werden. Damit hat der Gesetzgeber den Rechtsmittelberechtigten eine prozessuale Gestaltungsmacht eingeräumt, deren Ausübung im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren ist. (Bearbeiter)

3. Das Berufungsgericht ist bei dieser Sachlage unter keinem verfahrensrechtlichen Gesichtspunkt daran gehindert, – soweit erforderlich – eigene Feststellungen zu den Beweggründen der Fahrt und deren Gegebenheiten (Dauer und Länge, beabsichtigte Fahrstrecke, Verkehrsbedeutung der Straße, herbeigeführte Gefahren u.a.) zu treffen und dadurch den für die Rechtsfolgenentscheidung maßgebenden Schuldumfang näher zu bestimmen. Es hat dabei lediglich zu beachten, dass die von ihm getroffenen weiteren Feststellungen nicht in Widerspruch zu den Feststellungen stehen dürfen, die das Erstgericht zum Schuldspruch schon getroffen hat. (Bearbeiter)

4. Dass diese weiteren Feststellungen, wären sie bereits vom Amtsgericht getroffen worden, als sog. umgebende Feststellungen noch zum Unterbau des Schuldspruchs und damit zu dem vom Rechtsmittelangriff ausgenommenen und somit unabänderlich (teilrechtskräftig) gewordenen Teil des Ersturteils gezählt hätten, steht ihrer Nachholung nicht entgegen. (Bearbeiter)

5. Maßgeblich ist allein, dass sich der Schuldspruch aus dem insoweit nicht angegriffenen Ersturteil mit den für ihn bedeutsamen Feststellungen und der Rechtsfolgenausspruch des Berufungsgerichts mit den hierzu getroffenen weiteren Feststellungen zu einem einheitlichen (widerspruchsfreien), das Verfahren abschließenden Erkenntnis zusammenfügen. Dafür ist es aber ohne Belang, ob es schon dem Erstrichter möglich gewesen wäre, weitere Feststellungen zum tatsächlichen Unterbau des Schuldspruchs zu treffen und dadurch den das Berufungsgericht bindenden Verfahrensstoff zu vergrößern. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob ihn seine tatrichterliche Kognitionspflicht dazu gedrängt hat. (Bearbeiter)


Entscheidung

663. BGH 2 ARs 426/16 (2 AR 283/16) - Beschluss vom 19. Januar 2017

Einstweilige Unterbringung (Zuständigkeit für Genehmigung einer medizinischen Zwangsmedikation).

§ 126a Abs. 2 Satz 1 StPO; § 126 StPO; Art. 6 Abs. 4 BayMRVG; Art. 41 Nr. 3 BayMRVG

Für die gerichtliche Entscheidung über die Genehmigung einer medizinischen Zwangsmedikation im Rahmen einer einstweiligen Unterbringung ist das Gericht zuständig, das die einstweilige Unterbringung angeordnet hat oder nach Erhebung der öffentlichen Klage mit der Sache befasst ist. (BGHR)


Entscheidung

613. BGH 3 StR 323/16 - Urteil vom 4. Mai 2017 (LG Düsseldorf)

Voraussetzungen eines Konventionsverstoßes bei fehlender Gelegenheit zur konfrontativen Befragung des Belastungszeugen (Konfrontationsrecht; Recht auf ein faires Verfahren; Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung; „3-Stufen-Theorie“; Berücksichtigung der Auslegung der EMRK durch den EGMR; kompensierende Maßnahmen; Anwesenheit des Verteidigers bei der Befragung; Beweiswürdigungslösung; Trennung von Verfahrensfairness und Beweiswert; besonders vorsichtige Beweiswürdigung; Anforderungen an die Abfassung der Urteilsgründe).

Art. 6 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; § 251 StPO

1. Selbst wenn der Angeklagte entgegen Art.6 Abs. 3 Buchst. d EMRK zu keinem Zeitpunkt die Gelegenheit zur konfrontativen Befragung eines Belastungszeugen hatte, begründet dies nicht ohne weiteres einen Konventionsverstoß. Entscheidend ist vielmehr, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung fair war.

2. Diese Frage beurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach der sogenannten 3-Stufen-Theorie (auch „Al-Khawaja-Test“, vgl. EGMR HRRS 2016 Nr. 1). Danach ist zunächst zu prüfen, ob ein triftiger Grund für das Nichterscheinen des Zeugen vorlag, der die Einführung seiner Aussage über ein Beweismittelsurrogat rechtfertigen konnte. In einem zweiten Schritt ist zu beurteilen, ob die Aussage die einzige oder entscheidende Grundlage für die Beweisführung darstellte. Schließlich ist in die erforderliche Gesamtbetrachtung einzustellen, ob es ausgleichende Faktoren, insbesondere strenge Verfahrensgarantien gab, die eine etwaige Erschwernis für die Verteidigung, die sich aus der Unmöglichkeit der konfrontativen Befragung ergab, ausgeglichen haben.

3. Die Auslegung der EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist bei der Anwendung des deutschen Strafprozessrechts zu berücksichtigen (zuletzt BVerfG HRRS 2015 Nr. 85). Von maßgeblicher Bedeutung ist danach im vorliegenden Zusammenhang, ob die unterbliebene Möglichkeit zur Befragung durch kompensierende Maßnahmen (zum Beispiel durch Anwesenheit des Verteidigers bei der Zeugenbefragung) ausgeglichen wurde. Ist dies nicht der Fall und die unterbliebene konfrontative Befragung des Zeugen der Justiz zurechenbar, kann eine Verurteilung auf die Angaben des Zeugen nur gestützt werden, wenn diese durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden (hierzu bereits BGH HRRS 2010 Nr. 456).

4. Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach der sogenannten Beweiswürdigungslösung (siehe etwa BGH HRRS 2007 Nr. 39) verlangt wird, dass Aussagen von Zeugen, die - der Justiz zurechenbar - vom Angeklagten nicht konfrontativ befragt werden konnten, nur dann zur Überführung des Angeklagten verwendet werden können, wenn sie durch außerhalb der Aussage liegende, gewichtige Gesichtspunkte bestätigt werden, könnte die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR HRRS 2016 Nr. 1) Anlass geben, diese Grundsätze zu überdenken.

5. Die nach der Beweiswürdigungslösung vorzunehmende Differenzierung danach, ob die fehlende Befragungsmöglichkeit des Zeugen durch den Angeklagten oder dessen Verteidiger der Justiz vorwerfbar ist, ist für die vom Gericht zu klärende Frage, ob die Angaben des Zeugen als zuverlässig anzusehen sind, ohne Wert. Verfahrensfairness und Beweiswert eines Beweismittels sind nicht identisch, auch wenn sie im Einzelfall von denselben tatsächlichen Umständen beeinflusst sein können.

6. In tatsächlicher Hinsicht ist die Minderung des Beweiswerts einer Aussage allein auf den Umstand der fehlenden Befragung als solche zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund könnte zu erwägen sein, das starre Postulat, wonach die Angaben durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden müssen, auch in den Fällen der von der Justiz zu verantwortenden fehlenden Konfrontationsmöglichkeit aufzugeben.

7. Nach deutschem Strafprozessrecht ist es indes stets Voraussetzung der Verurteilung, dass sich das Tatgericht aufgrund der Ergebnisse der Hauptverhandlung von der Schuld des Angeklagten überzeugt hat (§ 261 StPO). Ihm zu unterstellen, es würde die Beweisergebnisse weniger sorgfältig würdigen, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung oder in deren Vorfeld die Möglichkeit zu einer Befragung des Zeugen gehabt hätte, entbehrt jeglicher Grundlage.

8. Das Gebot der sorgfältigen und kritischen Beweiswürdigung stellt daher zunächst nur den Hinweis an das Tatgericht dar, sich der grundsätzlich bestehenden Defizite im Beweiswert derartiger Angaben bewusst zu sein. Eine Aussage über deren tatsächliche Beweiskraft im Einzelfall ist damit ebenso wenig verbunden wie die Vorgabe, die Glaubhaftigkeit einer Aussage in eine bestimmte Richtung zu beurteilen. Aus dem Gebot folgen allerdings erhöhte Anforderungen an die Abfassung der Urteilsgründe, in denen das Gericht seine Erwägungen zur Würdigung der Aussage darlegen muss


Entscheidung

638. BGH 1 StR 32/17 - Beschluss vom 26. April 2017 (LG Kempten)

Konfrontationsrecht (Grundsatz des fairen Verfahrens; individualschützender Charakter; unselbstständige Beweisverwertungsverbote; Prüfungsmaßstab des EGMR; Einzelfallabwägung).

Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK

1. Keiner Entscheidung bedarf hier die Frage, ob eine Verletzung des völkerrechtlich gewährleisteten Konfrontationsrechts im innerstaatlichen Recht lediglich auf der Ebene der Beweiswürdigung zu besonders strengen Beweis- und Begründungsanforderungen führt oder – obwohl verfassungsrechtlich nicht geboten – die Unver-

wertbarkeit auf einen nicht konfrontativ befragten Zeugen zurückgehender Informationen bewirkt.

2. Für die Notwendigkeit eines solchen Widerspruchs könnte auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den meist sog. unselbständigen Beweisverwertungsverboten sprechen, dass das Konfrontationsrecht individualschützenden Charakter zugunsten des Angeklagten hat und er über die Verwertbarkeit der unter Verstoß gegen dieses Recht gewonnenen Informationen disponieren kann. Dies kann jedoch offenbleiben. Denn im Ergebnis hat die Nichtgewährung des Rechts auf konfrontative Befragung eines Belastungszeugen vorliegend nicht dazu geführt, dass sich das Verfahren insgesamt als nicht mehr fair erweist.

3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüft nach seiner vom Senat zu berücksichtigenden ständigen Rechtsprechung eine Verletzung des Konfrontationsrechts auf drei Stufen. Maßgeblich ist, erstens ob ein triftiger Grund für das Nichterscheinen des Zeugen (in der Hauptverhandlung) und damit für die Zulassung seiner Aussage als Beweismittel besteht, zweitens ob die Aussage des abwesenden Zeugen die einzige („sole“) bzw. entscheidende („decisive“) Grundlage für die Verurteilung gewesen ist und drittens ob es Faktoren gab, die ausreichten, um die Schwierigkeiten der Verteidigung infolge der Zulassung eines solchen Beweismittels auszugleichen und um die Fairness des Verfahrens insgesamt zu sichern.

4. Bei Anwendung dieser Grundsätze kann sich das Verfahren trotz der Verwertung der durch die Vernehmung eines Polizeibeamten in die Hauptverhandlung eingeführten Angaben eines Zeugen, die dieser ausschließlich gegenüber polizeilichen Vernehmungsbeamten gemacht hat, insgesamt als fair erweisen.


Entscheidung

686. BGH 1 StR 39/17 - Beschluss vom 9. Juni 2017 (LG Augsburg)

Transnationales Doppelbestrafungsverbot (Begriff der Tat: unionsrechtlicher Tatbegriff; Einschränkung durch Vollstreckungsbedingung: Vollstreckung bei Strafaussetzung zur Bewährung im Erstverfolgungsstaat).

Art. 50 EUGrCH; Art. 54 SDÜ

1. Nach der für die nationalen Gerichte verbindlichen Auslegung des Art. 54 SDÜ durch die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union gilt im Rahmen dieser Vorschrift ein im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen eigenständiger, autonom nach unionsrechtlichen Maßstäben auszulegender Tatbegriff. Danach ist maßgebendes Kriterium für die Anwendung des Art. 54 SDÜ allein die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Tatsachen. Das Verbot der Doppelbestrafung greift ein, wenn ein solcher Komplex unlösbar miteinander verbundener Tatsachen besteht und die verschiedenen Verfahren jeweils Tatsachen aus dem einheitlichen Komplex zum Gegenstand haben (vgl. BGH NJW 2008, 2931, 2932 f). Auf materiellrechtliche Bewertungen, insbesondere darauf, ob die verschiedenen begangenen Delikte nach deutschem Recht sachlichrechtlich im Verhältnis von Tateinheit oder Tatmehrheit stehen, kommt es demnach nicht an (vgl. BGHSt 59, 120, 126 Rn. 15 aE).

2. Die nähere Auslegung dieses Tatbegriffs im Sinne des Art. 54 SDÜ hat sich in erster Linie am Zweck dieser Norm auszurichten, der darin besteht, die ungehinderte Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit der Unionsbürger zu sichern. Wer wegen eines Tatsachenkomplexes bereits in einem Vertragsstaat abgeurteilt ist, soll sich ungeachtet unterschiedlicher rechtlicher Maßstäbe in den einzelnen Staaten darauf verlassen können, dass er nicht – auch nicht unter einem anderen rechtlichen Aspekt – ein zweites Mal wegen derselben Tatsachen strafrechtlich verfolgt wird. Demgegenüber ist die Einordnung der Tatsachen nach den Strafrechtsordnungen der Vertragsstaaten unbeachtlich. Die Qualifizierung eines Tatsachenkomplexes als eine Tat im Sinne des Art. 54 SDÜ ist darüber hinaus von dem jeweils rechtlich geschützten Interesse unabhängig; denn dieses kann wegen der fehlenden Harmonisierung der nationalen Strafvorschriften von einem Vertragsstaat zum anderen unterschiedlich sein. Allein aus dem Umstand, dass die Taten durch einen einheitlichen Vorsatz auf subjektiver Ebene verbunden sind, lässt sich die Identität der Sachverhalte nicht herleiten; erforderlich ist vielmehr eine objektive Verbindung der zu beurteilenden Handlungen (vgl. BGHSt 59, 120, 126 Rn. 16). Ob im konkreten Fall nach diesen Kriterien eine einheitliche Tat anzunehmen ist, obliegt der Beurteilung durch die nationalen Gerichte.

3. Der für den Tatbegriff im Sinne von Art. 54 SDÜ maßgebliche unlösbare Tatsachenkomplex wird nicht dadurch aufgehoben, dass in den betroffenen Vertragsstaaten geringe Unterschiede bei den maßgeblichen tatsächlichen Umständen (etwa Zahl und Identität von Tatbeteiligten; Umfang von Handelsmengen bei BtM-Handel etc.) bestehen. Erst recht kommt es für den Tatbegriff des Art. 54 SDÜ nicht auf die materiellrechtliche Bewertung des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts durch Gerichte der beteiligten Mitgliedstaaten an

4. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass es für den unionsweiten Strafklageverbrauch auf die in Art. 54 SDÜ ausdrücklich statuierte Vollstreckungsbedingung auch nach dem Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCH) ankommt, obwohl der Wortlaut von Art. 50 GrCH diese Bedingung nicht ausdrücklich enthält (vgl. BGHSt 56, 11, 14 ff. Rn. 13 ff.)

5. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union wird im Sinne von Art. 54 SDÜ eine Strafe auch dann „gerade vollstreckt“, wenn im Erstverfolgungsstaat auf eine Freiheitsstrafe erkannt worden ist, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist Dieses Teilelement der Vollstreckungsbedingung ist während des Laufs der Bewährungszeit verwirklicht. Dabei gebietet der Gedanke, dass die Handlungsfreiheit eines Verurteilten erheblich beeinträchtigt ist, solange die Bewährungszeit läuft, die Annahme des Vollstreckungselements auch, wenn der Angeklagte bislang nicht den ihm im Erstverfolgungsstaat aufgegebenen Bewährungsauflagen und/oder -weisungen nachkommen konnte.


Entscheidung

614. BGH 3 StR 453/16 - Beschluss vom 25. April 2017 (LG Trier)

Entschädigung wegen erlittener Untersuchungshaft trotz grob fahrlässigen Verhaltens (Unterbrechung des Ursachenzusammenhangs durch rechtsfehlerhafte Sachbehandlung seitens der Strafverfolgungsbehörden oder der Gerichte; grob fahrlässige Verursachung durch Tatbegehung).

§ 2 StrEG; § 5 StrEG

Selbst bei einem grob fahrlässigen Verhalten des Inhaftierten in Bezug auf die Untersuchungshaft – hier u.a. durch die Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat – liegt kein Ausschluss der Entschädigung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 StrEG vor, sofern der Ursachenzusammenhang durch eine rechtsfehlerhafte Sachbehandlung seitens der Strafverfolgungsbehörden oder der Gerichte unterbrochen ist. Eine derartige Unterbrechung tritt jedenfalls dann ein, wenn ein Rechtsfehler – hier: Fehlen eines wirksamen Strafantrags – zum Zeitpunkt der Anordnung oder Aufrechterhaltung der Maßnahme bei sorgfältiger Prüfung ohne weiteres erkennbar war.


Entscheidung

698. BGH 2 StR 79/17 - Beschluss vom 20. April 2017 (LG Aachen)

Strafantragserfordernis bei relativen Antragsdelikten (Auslegung der Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft als Bejahung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung: ursprüngliche Anklageerhebung wegen Offizialdelikt); gefährliche Körperverletzung (K.O.-Tropfen, brennende Zigarette als gefährliches Werkzeug).

§ 77 StGB; § 265 StPO; § 223 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB

Aus der Anklageerhebung wegen des Offizialdelikts folgt nicht ohne weiteres, dass auch für den Fall einer Umgestaltung der Strafklage durch das Gericht in ein relatives Antragsdelikt die Anklageerhebung zugleich als konkludente Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung zu verstehen sein soll. Nur wenn die Staatsanwaltschaft ihre Anklage auf ein relatives Antragsdelikt erstreckt, liegt darin – sofern keine Besonderheiten hinzutreten – regelmäßig die konkludente Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 349).


Entscheidung

660. BGH 2 ARs 46/15 (2 AR 312/14) - Beschluss vom 7. Juni 2017

Sachliche Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde; Zuständiges Gericht (Entscheidung über den Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid).

§ 36 Abs. 1 Nr. 1 OWiG; § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG

1. Für die Entscheidung über den Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Verwaltungsbehörde ihren Sitz hat. Gemeint ist damit die Verwaltungsbehörde, die den Bußgeldbescheid erlassen hat.

2. Die Verwaltungsbehörde hat ihren Sitz grundsätzlich dort, wo ihre Hauptstelle eingerichtet ist, also wo die betreffende Behörde den organisatorischen Mittelpunkt ihres Dienstbetriebs hat. Erlässt eine Außenstelle den Bußgeldbescheid, ist für den Sitz der Behörde grundsätzlich der Ort der Hauptstelle maßgeblich. Etwas anderes gilt aber dann, wenn die Aufgabe der Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten der Außenstelle als eigenständiger Behörde zugewiesen wurde. Maßgeblich für die Abgrenzung ist nicht die Betrachtung des Auftritts der Verwaltungsbehörde. Bestimmt wird die Zuständigkeit vielmehr durch die rechtlichen Gegebenheiten.

3. Die Tatsache, dass nach Erlass des angefochtenen Bußgeldbescheids die Zuständigkeit für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten auf die Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt übertragen wurde, ändert nichts an der bereits begründeten Gerichtszuständigkeit.


Entscheidung

700. BGH 2 StR 427/16 - Urteil vom 10. Mai 2017 (LG Neubrandenburg)

Schriftliche Urteilsbegründung (kein nachträgliches Hinzufügen von Urteilsgründen bei Urteilsverfassung); Gesamtstrafenbildung (Darstellung der Strafzumessung im Urteil).

§ 267 StPO; § 275 StPO; § 55 StGB; § 46 StGB

Die schriftlichen Urteilsgründe müssen die Gründe des Gerichts dokumentieren, die in der Bewertung unter Beteiligung der Schöffen gewonnen worden sind. Sie dienen dazu, dem Revisionsgericht die Nachprüfung der getroffenen Entscheidung zu ermöglichen. Deshalb ist es unzulässig, zur Absicherung der Entscheidung andere Gründe einzufügen, wie etwa bei Abfassung des Urteils gewonnene neue Erkenntnisse.


Entscheidung

659. BGH 2 StR 592/16 - Beschluss vom 27. April 2017 (LG Aachen)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Grenzen rechtlich zulässiger Schlussfolgerungen).

§ 261 StPO

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts, dem es allein obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind und der Tatrichter von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit des Richters setzt allerdings objektive Grundlagen voraus, die aus rationalen Gründen den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und sich nicht als bloße Vermutung erweist.

2. Die Tatsache, dass eine geringe Menge Amphetaminöl in einem Behälter mit einer Gesamtfüllmenge von 5 l aufgefunden wurde, trägt nicht die Annahme, dass der Kanister vollständig mit dem Stoff gefüllt gewesen sei. Ein Erfahrungssatz, wonach eine Rauschgiftmenge dem Fassungsvermögen des zu ihrer Aufbewahrung benutzten Behältnisses entspricht, besteht nicht.


Entscheidung

661. BGH 2 ARs 156/17 (2 AR 46/17) - Beschluss vom 4. Mai 2017


Zusammentreffen mehrerer Gerichtsstände (Übertragung der Zuständigkeit; dauerhafte Reiseunfähigkeit).

§ 12 StPO

1. Die durch Atteste belegte dauerhafte Reiseunfähigkeit eines Beschuldigten kann grundsätzlich eine Übertragung auf das Amtsgericht am Wohnsitz rechtfertigen.

2. Eine Entscheidung über eine Übertragung kommt aber nur dann in Betracht, wenn eines von mehreren zuständigen Gerichten durch die Eröffnung der Untersuchung bereits ausschließlich zuständig geworden ist. Denn vor Eröffnung des Hauptverfahrens hat die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, die Antragsschrift zurückzunehmen und ein anderes zuständiges Gericht auszuwählen.


Entscheidung

684. BGH 1 StR 163/17 - Beschluss vom 22. Mai 2017 (LG Karlsruhe)

Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Voraussetzungen: Hang, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen; Beruhen des Strafausspruchs auf einer unterlassenen Anordnung: unterlassene Strafmilderung bei alkoholbedingter Verminderung der Steuerungsfähigkeit).

§ 64 StGB; § 46 StGB; § 21 StGB; 49 StGB; § 337 StPO

Zwar wird in der Regel auszuschließen sein, dass das Tatgericht auf eine geringere Freiheitsstrafe erkannt hätte, wenn es die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet hätte (vgl. hierzu BGH StV 2017, 29). Anderes kann aber gelten, wenn das Tatgericht trotz Vorliegens einer alkoholbedingten erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit von der Möglichkeit der Strafrahmenverschiebung keinen Gebrauch macht, weil es darauf abgestellt, dass es für den Angeklagten voraussehbar war, dass sich sein Risiko der Begehung von Gewaltstraftaten unter Alkoholkonsum erhöht und er sich vorwerfbar betrunken habe und dabei auf das Nichtvorliegen eines Hangs, alkoholische Getränke im Übermaß zu sich zu nehmen, Bezug nimmt.