HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2016
17. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

724. BGH 5 StR 583/15 – Urteil vom 11. Mai 2016 (LG Dresden)

Bandendiebstahl (Beurteilung der Beteiligung an Bandentat unabhängig von Bandenmitgliedschaft; psychische Beihilfe durch präsente Bereitschaft zur Unterstützung; psychischer Rückhalt; Bereitschaft zur „Vertretung“; Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs).

§ 242 StGB; § 243 StGB § 244 StGB

1. Allein die Bandenmitgliedschaft kann nicht zu einer Verurteilung wegen Beteiligung an allen von den Bandenmitgliedern begangenen Tathandlungen führen. Die Bandenmitgliedschaft und die Beteiligung an einer Bandentat sind vielmehr unabhängig voneinander zu beurteilen. Für jede einzelne Tat ist nach den allgemeinen Kriterien festzustellen, ob sich Bandenmitglieder hieran als Mittäter, Anstifter oder Gehilfen beteiligt oder ob sie gegebenenfalls überhaupt keinen strafbaren Tatbeitrag geleistet haben.

2. Wer innerhalb eines persönlichen Näheverhältnisses (hier: Eheleute) durch sein Verhalten eine präsente Bereitschaft zum Ausdruck bringt, den Partner bei Straftaten zu unterstützen, leistet u.U. psychische Beihilfe zu konkret begangenen Taten, wenn das Verhalten über ein bloßes Dulden der kriminellen Machenschaften hinausgeht. Darin kann eine konkludente Billigung der Straftaten liegen, die dem Täter psychischen Rückhalt bei seiner Tätigkeit bietet und ihn in Tatplan, -entschluss und -ausführungswillen unterstützend bestärkt. Insbesondere die Bereitschaft zur „Vertretung“ im Verhinderungsfall kann zur Aufrechterhaltung des auf Straftaten ausgerichteten „Geschäftsbetriebs“ Hilfe leisten.


Entscheidung

657. BGH 2 StR 219/15 – Beschluss vom 6. April 2016

Sexueller Missbrauch von Kindern (Strafzumessung: Berücksichtigung eines längeren Zeitabstandes zwischen Tat und Verurteilung).

§ 176 Abs. 1 StGB; § 46 StGB

Der Senat ist, ebenso wie der 3. Strafsenat, der Auffassung, dass die Strafe eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein soll. Ihre Bemessung erfordert eine am Einzelfall orientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Die Schuld des Täters ist die Grundlage für die Zumessung der Strafe (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB). Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Der lange Ablauf von Zeit seit der Begehung der Tat mindert zwar nicht die Tatschuld, doch kann er Tat und Täter in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei früherer Ahndung der Fall gewesen. Das Strafbedürfnis nimmt mit langem Zeitablauf seit der Begehung der Tat ab (vgl. BGHSt 52, 124, 142). Das gilt prinzipiell auch für Missbrauchsdelikte.


Entscheidung

714. BGH 5 StR 102/16 (alt: 5 StR 341/15) – Beschluss vom 12. Mai 2016 (LG Leipzig)

Unzulässige doppelte Berücksichtigung der Vollendungsnähe und Gefährlichkeit des Versuchs bei der Ablehnung der Strafrahmenverschiebung und der konkreten Strafzumessung.

§ 23 Abs. 2 StGB; § 49 Abs. 1 StGB; § 46 Abs. 3 StGB

Wird von der Strafrahmenverschiebung nach § 23 Abs. 2 StGB aufgrund von Vollendungsnähe und Gefährlichkeit des Versuchs abgesehen, verstößt es gegen den Rechtsgedanken aus § 46 Abs. 3 StGB, wenn diese Elemente bei der konkreten Strafzumessung erneut zu Lasten des Täters gewertet werden.


Entscheidung

685. BGH 4 StR 94/16 – Beschluss vom 12. Mai 2016 (LG Trier)

Strafmilderung bei nur versuchter Tat (Voraussetzungen).

§ 22 StGB; § 23 StGB; § 49 Abs. 1 StGB

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Frage einer Verschiebung des Strafrahmens wegen

Versuchs aufgrund einer Gesamtschau der Tatumstände im weitesten Sinne sowie der Persönlichkeit des Täters zu entscheiden (vgl. BGHSt 16, 351, 353). Dabei kommt den wesentlich versuchsbezogenen Umständen jedoch besonderes Gewicht zu, namentlich der Nähe der Tatvollendung, der Gefährlichkeit des Versuchs und der aufgewandten kriminellen Energie, weil sie die wichtigsten Kriterien für die Einstufung von Handlungs- und Erfolgsunwert einer nur versuchten Tat liefern (vgl. BGHSt 36, 1, 18).


Entscheidung

637. BGH 1 StR 62/16 – Beschluss vom 20. April 2016 (LG Kempten)

Schuldunfähigkeit (erforderliche Auseinandersetzung mit einem Sachverständigengutachten im Urteil: Wahnvorstellungen des Täters; nur ausnahmsweises gleichzeitiges Fehlen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit).

§ 20 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO

1. Wenn sich der Tatrichter darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.).

2. Dies gilt auch in Fällen von Wahnvorstellungen. Denn die Diagnose einer Wahnsymptomatik führt nicht zwangsläufig zu der Feststellung einer generellen oder über längere Zeiträume andauernden gesicherten relevanten Beeinträchtigung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist daher die Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der jeweiligen Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 306).

3. Der Schuldausschluss kann grundsätzlich nicht zugleich auf fehlende Einsicht und fehlende Steuerungsfähigkeit gestützt werden. Die Frage der Steuerungsfähigkeit ist erst dann zu prüfen, wenn der Täter das Unrecht der Tat eingesehen hat oder einsehen konnte. Störungen, bei denen sowohl die Einsichtsfähigkeit als auch die Steuerungsfähigkeit aufgehoben sind, stellen die Ausnahme dar.


Entscheidung

666. BGH 2 StR 483/15 – Beschluss vom 12. April 2016 (LG Bonn)

Gesamtstrafenbildung (Berücksichtigung psychischer Schäden beim Opfer).

§ 54 Abs. 1 StGB

Sind die psychischen Schäden beim Opfer erst Folgen aller Taten, so können sie dem Angeklagten nur einmal – bei der Gesamtstrafenbildung – angelastet werden. Sind sie dagegen unmittelbare Folge allein einzelner Taten, so können sie mit ihrem vollen Gewicht nur in diesen Fällen, nicht aber in gleicher Weise auch bei der Bemessung sämtlicher anderer Einzelstrafen in Ansatz gebracht werden (vgl. BGH NStZ 2014, 701).


Entscheidung

632. BGH 1 StR 103/16 – Beschluss vom 12. Mai 2016 (LG Ravensburg)

Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Ermessen des Tatrichters: Darstellung im Urteil).

§ 66 Abs. 3 Satz 1 StGB; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

Auch wenn sämtliche Voraussetzungen der Verhängung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB erfüllt sind, steht nach der gesetzlichen Formulierung die Verhängung der Maßregel im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters („kann“). Ordnet das Tatgericht eine in sein Ermessen gestellte Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an, muss aus den Urteilsgründen deutlich werden, dass es sich seiner Entscheidungsbefugnis bewusst war und welche Gründe für seine Ermessensausübung leitend waren (vgl. BGH NStZ-RR 2016, 77 mwN).


Entscheidung

700. BGH 3 StR 48/16 – Beschluss vom 19. April 2016 (LG Koblenz)

Rechtsfehlerhaftes Absehen von der Unterbringungsanordnung (Begriff des Hangs; fortbestehende Arbeits- und Leistungsfähigkeit; Therapieunwilligkeit; Erfolgsaussicht; Ausmaß des Betäubungsmittelkonsums); Erforderlichkeit des Teilfreispruchs zur Erschöpfung des Eröffnungsbeschlusses; Anrechnung der im Ausland erlittenen Untersuchungshaft.

§ 64 StGB; § 51 Abs. 4 S. 2 StGB; § 203 StPO; § 207 StPO

1. Die Beeinträchtigung der Gesundheit oder der Arbeits- und Leistungsfähigkeit durch den Rauschmittelkonsum indiziert zwar einen Hang im Sinne des § 64 Satz 1 StGB, ihr Fehlen schließt diesen indes nicht aus.

2. Auch die aktuelle Therapieunwilligkeit steht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht notwendig entgegen. Sie kann zwar im Einzelfall gegen die Erfolgsaussicht einer Maßregel nach § 64 StGB sprechen. Es bleibt jedoch geboten, im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgeblichen Umstände die Gründe des Motivationsmangels festzustellen und zu prüfen, ob eine Therapiewilligkeit für eine erfolgversprechende Behandlung geweckt werden kann, da auch darin das Ziel einer Behandlung im Maßregelvollzug bestehen kann.


Entscheidung

682. BGH 4 StR 25/16 – Beschluss vom 10. Mai 2016 (LG Halle)

Strafaussetzung zur Bewährung (tatrichterlicher Beurteilungsspielraum: revisionsrechtliche Überprüfbarkeit, Darstellung im Urteil).

§ 56 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 4 StPO

1. Grundsätzlich gilt, dass – wie überhaupt bei der Rechtsfolgenbemessung – dem Tatrichter für die Entscheidung über die Strafaussetzung ein weiter Beurteilungsspielraum zuerkannt ist, in dessen Rahmen das Revisionsgericht jede rechtsfehlerfrei begründete Entscheidung hinzunehmen hat (vgl. BGH NStZ 2001, 366). Hat das Gericht die für und gegen eine Aussetzung sprechenden Umstände gesehen und gewürdigt und ist –

namentlich aufgrund seines in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks – zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wahrscheinlichkeit künftigen straffreien Verhaltens nicht größer ist als diejenige neuer Straftaten (vgl. BGH NStZ 1997, 594), so ist dessen Entscheidung grundsätzlich auch dann hinzunehmen, wenn auch eine andere Bewertung denkbar gewesen wäre.

2. Erforderlich ist aber, dass das Gericht die für und gegen eine Aussetzung sprechenden Umstände vollständig erfasst und würdigt und dabei auch und gerade die Wirkung einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe auf den Angeklagten in den Blick zu nehmen hat.


Entscheidung

664. BGH 2 StR 471/15 – Beschluss vom 12. April 2016 (LG Frankfurt a. M.)

Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis (Festsetzung einer neuen einheitlichen Sperre bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung).

§ 69a StGB; § 55 Abs. 2 StGB

Bei einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 55 Abs. 2 StGB hat der Tatrichter, wenn in der früheren Entscheidung eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis gemäß § 69a StGB bestimmt war und der Angeklagte erneut wegen einer Straftat verurteilt wird, die seine fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen erneut belegt, eine neue einheitliche Sperre festzusetzen (vgl. BGH NJW 2000, 3654), die die alte Sperre gegenstandslos werden lässt.


Entscheidung

711. BGH 3 StR 566/15 – Beschluss vom 19. April 2016 (LG Koblenz)

Rechtsfehlerhaftes Absehen von der Unterbringungsanordnung (Begriff des Hangs; eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung zum übermäßigen Betäubungsmittelkonsum; fortbestehende Arbeits- und Leistungsfähigkeit; Therapieunwilligkeit; Erfolgsaussicht; Ausmaß des Betäubungsmittelkonsums); Erforderlichkeit des Teilfreispruchs zur Erschöpfung des Eröffnungsbeschlusses; Anrechnung der im Ausland erlittenen Untersuchungshaft.

§ 64 StGB; § 51 Abs. 4 S. 2 StGB; § 203 StPO; § 207 StPO

1. Ein Hang i.S.d. § 64 Satz 1 StGB liegt nicht nur im Falle einer chronischen, auf körperlicher Sucht beruhenden Abhängigkeit vor; vielmehr genügt bereits eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, wobei noch keine physische Abhängigkeit bestehen muss

2. Die Beeinträchtigung der Gesundheit oder der Arbeits- und Leistungsfähigkeit durch den Rauschmittelkonsum indiziert zwar einen Hang im Sinne des § 64 Satz 1 StGB, ihr Fehlen schließt diesen indes nicht aus.

3. Auch die aktuelle Therapieunwilligkeit steht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht notwendig entgegen. Sie kann zwar im Einzelfall gegen die Erfolgsaussicht einer Maßregel nach § 64 StGB sprechen. Es bleibt jedoch geboten, im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgeblichen Umstände die Gründe des Motivationsmangels festzustellen und zu prüfen, ob eine Therapiewilligkeit für eine erfolgversprechende Behandlung geweckt werden kann, da auch darin das Ziel einer Behandlung im Maßregelvollzug bestehen kann.


Entscheidung

665. BGH 2 StR 478/15 – Urteil vom 6. April 2016 (LG Köln)

Anordnung der Sicherungsverwahrung (einheitliche Jugendstrafe als Anlassverurteilung).

§ 66 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 StGB; § 31 JGG

Ein in einem früheren Verfahren ausgesprochene einheitliche Jugendstrafe nach § 31 JGG erfüllt die Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Nr. 1 StGB, wenn zu erkennen ist, dass der Täter wenigstens bei einer der ihr zugrundeliegenden Straftaten eine Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hätte, sofern sie als Einzeltat gesondert abgeurteilt worden wäre. Dies festzustellen, ist tatrichterliche Aufgabe, die über die Sicherungsverwahrung entscheidenden Richter obliegt. Dabei hat der Tatrichter festzustellen, wie der Richter des Vorverfahrens die einzelnen Taten bewertet hat; er darf sich nicht an dessen Stelle setzen und im Nachhinein eine eigene Strafzumessung vornehmen. Entsprechende Feststellungen muss der Tatrichter so belegen, dass eine ausreichende revisionsgerichtliche Überprüfung möglich ist (vgl. BGH NStZ 2015, 510, 511).