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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2016
17. Jahrgang
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1. Der Auslieferungsverkehr der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist durch den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl unionsrechtlich determiniert. Entsprechende Akte der deutschen öffentlichen Gewalt
sind mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen.
2. Der Anwendungsvorrang findet seine Grenzen jedoch in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für änderungs- und integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung, zu denen namentlich die Garantien des Art. 1 GG zählen. Deren Verletzung kann mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 - [= HRRS 2016 Nr. 100]).
3. Dem Beschuldigten im Strafverfahren steht von Verfassungs wegen ein Schweigerecht zu. Ein solches gehört seit langem zu den anerkannten Grundsätzen des Strafprozesses und ist selbstverständlicher Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung. Ein Zwang zur Selbstbezichtigung berührt die Menschenwürde des Beschuldigten. Sein Schweigen darf jedenfalls dann nicht als belastendes Indiz gegen ihn verwendet werden, wenn er die Einlassung zur Sache vollständig verweigert.
4. Droht einem Auszuliefernden im ersuchenden Staat (hier: Großbritannien) ein Strafverfahren, in dem seine – auch vollumfängliche – Weigerung, sich zu den Tatvorwürfen zu äußern, zu seinem Nachteil verwertet werden und – wenngleich ergänzt durch andere Beweismittel – Grundlage für seine strafrechtliche Verurteilung sein kann, so ist es zumindest möglich, dass die Auslieferung den unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz unterschreiten würde, der nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl im Einzelfall zu gewährleisten ist.
5. Der durch einen Verfahrensbevollmächtigten erhobene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist grundsätzlich unzulässig, solange nicht die Bevollmächtigung durch Vorlage einer schriftlichen Vollmacht nachgewiesen wird, die sich ausdrücklich auf das Eilverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht oder eine zugleich erhobene Verfassungsbeschwerde beziehen muss.
6. Das Bundesverfassungsgericht kann für die Nachreichung der Vollmacht eine Frist bestimmen. Dies gilt ausnahmsweise auch für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn eine sofortige Entscheidung erforderlich ist, um den Eintritt irreversibler Tatsachen zu verhindern.
1. Das Verständigungsgesetz regelt die Zulässigkeit von Verfahrensabsprachen umfassend und abschließend. „Informelle“ Verfahrensweisen oder „Gentlemen’s Agreements“ an der gesetzlichen Regelung vorbei sind untersagt. Andernfalls würde das Ziel des Gesetzgebers unterlaufen, Verständigungen im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Erforschung der materiellen Wahrheit, der Schuldangemessenheit der Strafe und der Verfahrensfairness in das Strafverfahrensrecht zu integrieren.
2. Unter die sonstigen verfahrensbezogenen Maßnahmen, die nach dem Gesetz zulässiger Gegenstand einer Verständigung sein können, fallen auch Verfahrenseinstellungen unter Opportunitätsgesichtspunkten oder Verfolgungsbeschränkungen gemäß § 154a Abs. 2 StPO. Dasselbe gilt für eine mit der Beschränkung synallagmatisch verknüpfte Rücknahme gestellter Beweisanträge.
3. Weist ein Verfahrensgeschehen typische Merkmale einer Verständigung auf, so ist es an dem für Absprachen geltenden Maßstab zu messen. Eine entgegenstehende Absichtserklärung des Gerichts oder der Verfahrensbeteiligten, eine Verständigung komme nicht in Betracht, ist unbeachtlich. Soweit eine Revisionsentscheidung gleichwohl auf den fehlenden Rechtsbindungswillen der Beteiligten abstellt, geht sie von einem mit dem gesetzlichen Regelungskonzept und den dahinterstehenden verfassungsrechtlichen Wertungen unvereinbaren Maßstab aus.
4. Ungeachtet der grundsätzlichen Zulässigkeit von Absprachen über Verfolgungsbeschränkungen liegt eine unzulässige Verständigung über den Schuldspruch nahe, wenn in einem Verfahren wegen einer einheitlichen Beihilfe zur Untreue durch Einreichen mehrerer überhöhter Rechnungen die Verfolgung hinsichtlich der Höhe des Vermögensnachteils auf einen bestimmten Gesamtbetrag begrenzt wird, obwohl ausdrücklich sämtliche Rechnungen Gegenstand des Verfahrens bleiben sollen.
Der Auslieferung eines an Hepatitis C und einer Leberzirrhose erkrankten mazedonischen Staatsangehörigen nach Bosnien-Herzegowina kann zwar entgegenstehen, dass die Erkrankung im Zielstaat nicht ausreichend behandelbar ist. Eine darauf gestützte Verfassungsbeschwerde ist jedoch nur dann hinreichend substantiiert, wenn Art und Umfang der Behandlungsbedürftigkeit hinreichend dargestellt und belegt werden.
1. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so auszulegen, dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit wiedergeben und eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage rechtfertigt.
2. Die Darlegungsanforderungen werden in einer gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoßenden Weise überspannt, wenn von dem Antragsteller gefordert wird, den Inhalt von Vernehmungen der Beschuldigten mitzuteilen, obwohl er über diese nicht informiert worden ist und sie zur Begründung seines Antrags auch nicht herangezogen hat.
3. In einem Verfahren gegen zwei Ärzte wegen eines Todesfalls nach einer unterbliebenen Operation ist von dem Antragsteller allerdings zu verlangen, ein Sachverständigengutachten nicht nur hinsichtlich der belastenden, sondern auch der dort dargelegten entlastenden Umstände – hier: die fehlende Feststellbarkeit der Schuld einer bestimmten Person – wiederzugeben und diese zu entkräften.
1. Die Feststellung und Speicherung eines DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein, wonach der Einzelne befugt ist, grundsätzlich selbst zu entscheiden, inwieweit ihn betreffende persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.
2. Die Anordnung der molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen zur Verwendung in künftigen Strafverfahren nach § 81g StPO setzt eine Prognose voraus, wonach wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftaten, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden.
3. Der Prognoseentscheidung, die einzelfallbezogen zu begründen ist, muss eine zureichende Sachaufklärung und eine nachvollziehbare Abwägung aller relevanten Umstände zugrundeliegen.
4. Die Anordnung einer DNA-Untersuchung aus Anlass einer Verurteilung wegen einer gemeinschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung erfüllt die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht, wenn die gerichtliche Anordnung keinerlei Ausführungen dazu enthält, dass der geständige und zuvor unbestrafte Verurteilte sich ausweislich der Urteilsgründe in hohem Maße einsichtig gezeigt und dem Verletzten die Zahlung von Schmerzensgeld angeboten hat (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 16. Dezember 2015 [= HRRS 2016 Nr. 99]).
5. Ein erhöhter Begründungsbedarf entsteht regelmäßig dann, wenn eine Maßnahme nach § 81g StPO angeordnet werden soll, obwohl dem Verurteilten im Rahmen einer Bewährungsentscheidung eine günstige Prognose gestellt worden ist. Zwar entfaltet die Strafaussetzung insoweit keine Bindungswirkung; erforderlich ist in solchen Fällen jedoch immer eine Auseinandersetzung mit sämtlichen Gründen der positiven Sozialprognose.