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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 99

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2349/15, Beschluss v. 16.12.2015, HRRS 2016 Nr. 99


BVerfG 2 BvR 2349/15 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. Dezember 2015 (LG Augsburg / AG Augsburg)

Einstweilige Anordnung gegen die Entnahme von Körperzellen zur molekulargenetischen Untersuchung (DNA-Analyse; Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren; Recht auf informationelle Selbstbestimmung; Prognoseentscheidung; Abwägung; Einzelfallbetrachtung; Folgenabwägung).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; § 81g StPO; § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Anordnung der Entnahme und der molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren setzt eine Prognose bezüglich zu erwartender Taten des Verurteilten voraus, die einzelfallbezogen zu begründen ist.

2. Basiert die beabsichtigte DNA-Untersuchung auf einer Verurteilung wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung, so ist ein Verfassungsverstoß nicht ausgeschlossen, wenn die gerichtlichen Entscheidungen sich lediglich auf eine aus der Anlasstat hergeleitete Gewaltbereitschaft stützen und keine Ausführungen dazu enthalten, dass der Verurteilte nicht vorbestraft ist und die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.

3. Bei der Folgenabwägung im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG über eine Anordnung nach § 81g StPO wiegt das das Interesse an einer sofortigen Vollziehung der Untersuchung regelmäßig weniger schwer als der drohende Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der auch durch eine spätere Löschung der erhobenen Daten nicht vollständig rückgängig gemacht werden kann.

Entscheidungstenor

1. Die Vollziehung der Beschlüsse des Amtsgerichts Augsburg vom 6. Oktober 2015 - 61 Gs 6885/15 - und des Landgerichts Augsburg vom 6. November 2015 und vom 26. November 2015 - 3 Qs 562/15 - wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde - längstens für die Dauer von sechs Monaten - ausgesetzt.

2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfahren der einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe

I.

1. Das Amtsgericht Augsburg verurteilte den nicht vorbestraften Beschwerdeführer am 25. November 2014 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach den Feststellungen schlug der Beschwerdeführer am 30. Mai 2013 im Rahmen einer längeren Auseinandersetzung in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit einem Mitangeklagten auf den Nebenkläger ein, wodurch dieser diverse Prellungen im Gesicht und an den Rippen, Schwellungen sowie andauernde Übelkeit und Schmerzen am Schultergelenk erlitt. Das Urteil ist rechtskräftig.

2. Vor dem Hintergrund dieser Verurteilung ordnete das Amtsgericht Augsburg mit Beschluss vom 6. Oktober 2015 die molekulargenetische Untersuchung der durch eine körperliche Untersuchung zu erlangenden Körperzellen des Beschwerdeführers zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren an. Zur Begründung führte es aus, dass es sich bei der abgeurteilten Straftat um eine solche von erheblicher Bedeutung im Sinne von § 81g Abs. 1 Satz 1 StPO handle, denn sie zeuge „von einem hohen Maß an Brutalität und Gewaltbereitschaft des Betroffenen“. Wegen dieser erheblichen Gewaltbereitschaft bestehe zudem Grund zu der Annahme, dass gegen den Beschwerdeführer auch künftig Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden.

3. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Beschwerdeführers wurde vom Landgericht Augsburg mit Beschluss vom 6. November 2015 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führte das Landgericht lediglich aus, es teile die Auffassung des Erstgerichts und trete den Gründen der angefochtenen Entscheidung bei. Auf eine Gehörsrüge des Beschwerdeführers hin lehnte das Landgericht Augsburg mit Beschluss vom 26. November 2015 eine Abänderung seiner Entscheidung ab.

4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und beantragt, die Vollziehung der im Tenor genannten Beschlüsse im Wege der einstweiligen Anordnung auszusetzen.

II.

1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 134, 135 <137 Rn. 3>; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; stRspr).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

Der Beschwerdeführer trägt vor, die angefochtenen Entscheidungen würden nicht den Anforderungen genügen, die von Verfassungs wegen an die Begründung einer Negativprognose im Sinne des § 81g Abs. 1 Satz 1 StPO zu stellen seien.

Da die im Tenor bezeichneten Entscheidungen des Amtsgerichts Augsburg und des Landgerichts Augsburg die Negativprognose lediglich aus der pauschalen Feststellung, der Beschwerdeführer sei erheblich gewaltbereit, herleiten und eine einzelfallbezogene Abwägung der für die Entscheidung bedeutsamen Umstände - insbesondere dass der Beschwerdeführer keine Vorstrafen aufweist und die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde - nicht erkennbar ist, kann der Verfassungsbeschwerde jedenfalls nicht von vornherein die Erfolgsaussicht abgesprochen werden (vgl. BVerfGE 103, 21 <35 ff.>).

3. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so könnte die Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen des Beschwerdeführers in der Zwischenzeit vollzogen werden. Der damit verbundene Eingriff in die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann in der Regel auch durch eine spätere Löschung der erhobenen Daten nicht vollständig rückgängig gemacht werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2013 - 2 BvR 2392/12 -, juris, Rn. 9 m.w.N).

Gegenüber diesem zumindest teilweise irreparablen Rechtsverlust, der dem Beschwerdeführer droht, wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber später keinen Erfolg hätte, weniger schwer. Zwar könnte in diesem Fall die gegen den Beschwerdeführer ergangene Anordnung der Entnahme und Untersuchung von Körperzellen vorübergehend nicht vollzogen werden. Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass wegen dieser Verzögerung ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre.

4. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 99

Bearbeiter: Holger Mann