HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2015
16. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

605. BVerfG 2 BvR 987/11 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 19. Mai 2015 (OLG Düsseldorf)

Klageerzwingungsverfahren (erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung von Ermittlungen gegen einen Oberst der Bundeswehr wegen des Todes von Zivilisten bei einem Luftangriff in Kunduz; Recht auf Leben; staatliche Schutzpflicht; Anspruch auf Strafverfolgung Dritter nur in Ausnahmefällen; Strafverfolgungsanspruch Angehöriger bei Kapitaldelikten; Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung; nachvollziehbare Begründung von Einstellungsentscheidungen; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Anforderungen an einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung; Mitteilung von Inhalten der Ermittlungsakte; rechtliches Gehör; Zugänglichmachen von Beweismitteln; fehlende Entscheidungserheblichkeit).

Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 6 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 2 EMRK; § 211 StGB; § 8 VStGB; § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB; § 170 Abs. 2 StPO; § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 120 Abs. 1 Nr. 8 GVG; § 142a GVG

1. Wenngleich das Grundgesetz den Staat verpflichtet, Grundrechte des Einzelnen zu schützen, so besteht doch regelmäßig kein grundrechtlich begründeter Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter.

2. Anderes gilt allerdings, soweit der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – wie insbesondere das Recht auf Leben – abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und der Gewalt führen kann.

3. Bei Kapitaldelikten kann ein Anspruch auf ein strafrechtliches Tätigwerden des Staates auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG auch nahen Angehörigen zustehen.

4. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf effektive Strafverfolgung kann auch in Betracht kommen, wenn sich Personen in einem strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnis zum Staat befinden und diesem – wie etwa im Maßregel- oder Strafvollzug – eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt, oder wenn der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben.

5. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung bezieht sich auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane, die – nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes – zu gewährleisten haben, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen von Rechtsgütern auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Erfüllung der Verpflichtung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle und setzt eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung von Einstellungsentscheidungen.

6. Der Vater zweier bei der Bombardierung von Tanklastzügen in Kunduz getöteter Kinder hat einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung des Obersts der Bundeswehr, der den Luftangriff befohlen hatte.

7. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens ist jedoch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die umfangreichen Ermittlungen, bei denen unter anderem (Untersuchungs-)Berichte der ISAF und einer Nichtregierungsorganisation sowie die verfügbare Bild- und Videodokumentation ausgewertet wurden, ergeben haben, dass der Beschuldigte unwiderlegbar in der Überzeugung handelte, in der Nähe der Tanklastwagen aufhältige Personen seien ausschließlich bewaffnete Aufständische und nicht auch Zivilisten gewesen.

8. Die Ermittlungsbehörden waren nicht gehalten, unmittelbare Zeugen der Bombardierung zu befragen, weil der Luftangriff als solcher ebenso wie der Tod zahlreicher unbeteiligter Zivilisten nicht in Frage steht und von Beobachtern der Bombardierung keine Angaben zu der entscheidenden Frage zu erwarten waren, ob der Beschuldigte mit Blick auf die Anwesenheit von Zivilisten vorsätzlich handelte.

9. Die Annahme des Generalbundesanwalts, er sei bei der Verfolgung von Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch auch für durch die gleiche Handlung mitverwirklichte Straftaten nach dem Strafgesetzbuch zuständig, ist nach dem Wortlaut des § 120 Abs. 1 Nr. 8 GVG jedenfalls ohne Weiteres vertretbar und daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

10. Zwar erfordert ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO grundsätzlich nur die Mitteilung des wesentlichen Inhalts der angegriffenen Bescheide sowie der Einlassung des Beschuldigten, soweit diese im Einstellungsbescheid mitgeteilt wird. Wird der Antrag jedoch maßgeblich auch mit Inhalten aus den Ermittlungsakten begründet, so verletzt es nicht den Anspruch des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Oberlandesgericht von ihm verlangt, zumindest den wesentlichen Inhalt der Beweismittel mitzuteilen, aus denen er auszugsweise vorträgt oder zitiert.

11. Der Anspruch des Antragstellers im Klageerzwingungsfahren auf rechtliches Gehör ist nicht verletzt, wenn der Generalbundesanwalt dem Oberlandesgericht Beweismittel und Akteninhalte zur Verfügung gestellt hat, auf die der Beschwerdeführer im Zuge seiner Akteneinsicht nicht zugreifen konnte, diese Beweismittel jedoch für die Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht entscheidungserheblich waren.


Entscheidung

606. BVerfG 2 BvR 1753/14 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 4. Mai 2015 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Resozialisierungsgebot im Strafvollzug (lebenslange Freiheitsstrafe; fehlende Entlassungsperspektive; Erhaltung der Lebenstüchtigkeit langjährig Inhaftierter; Vollzugslockerungen; Ausführungen; personelle Ressourcen; einzelfallbezogene Feststellungen); effektiver Rechtsschutz (Absehen von der Begründung einer Rechtsbeschwerdeentscheidung; Leerlaufen der Beschwerdemöglichkeit; erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit Grundrechten; Abweichen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 11 StVollzG; § 109 StVollzG; § 119 Abs. 3 StVollzG

1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf eine Resozialisierung auszurichten. Dies gilt auch für den Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Auch hier ist den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Lebenstüchtigkeit des Inhaftierten zu erhalten und zu festigen. Dem dienen insbesondere Vollzugslockerungen wie Urlaub, Ausgänge oder – soweit sich ein Gefangener für Lockerungen ohne Aufsicht noch nicht eignet – auch Ausführungen.

2. Auch wenn bei einem – insbesondere langjährig inhaftierten – Strafgefangenen (noch) keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, dürfen ihm Lockerungen zumindest in Gestalt von Ausführungen nicht generell und nicht allein unter Hinweis auf den damit verbundenen personellen Aufwand versagt werden. Wenngleich der Strafgefangene nicht verlangen kann, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Grundrechtsbeschränkungen zu vermeiden, setzen die Grundrechte auch Maßstäbe für die Beschaffenheit und Ausstattung von Vollzugsanstalten.

3. Eine Strafvollstreckungskammer verkennt grundlegend den Resozialisierungszweck von Ausführungen, wenn es diese mit der Begründung verwehrt, eine Ausführung habe im Hinblick auf die Behandlung des – seit über 18 Jahren – Inhaftierten lediglich einen minimalen Effekt, weil sie im Wesentlichen nur eine Abwechslung von der Alltagsroutine bewirke.

4. Eine Versagung von Lockerungen unter Verweis auf eine Personalknappheit setzt die Feststellung einer auch mit besonderem Einsatz nicht behebbaren Personalnot voraus. Selbst dann ist die Personalsituation außerdem lediglich geeignet, die Versagung einer konkreten Lockerungsmaßnahme zu rechtfertigen, soweit dieser im Einzelfall vorrangige Rechte anderer Gefangener oder ähnlich gewichtige Belange entgegenstehen. Allein die Erwägung, dass die eingesetzten Beamten bei einer Ausführung für andere Aufgaben nicht zur Verfügung stünden, vermag die Versagung hingegen nicht zu rechtfertigen.

5. Sieht das Beschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung der Rechtsbeschwerdeentscheidung ab, so ist dies mit Art. 19 Abs. 4 GG nur vereinbar, wenn dadurch die Beschwerdemöglichkeit nicht leer läuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung mit Grundrechten bestehen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Entscheidung offenkundig von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht.


Entscheidung

607. BVerfG 2 BvR 2319/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 12. Mai 2015 (OLG München)

Rechtsschutzbedürfnis bei Entscheidungen über die Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Garantie effektiven Rechtsschutzes; Feststellungsinteresse nach Erlass einer Folgeentscheidung; tiefgreifender Grundrechtseingriff; prozessuale Überholung; kein Rechtsschutzinteresse für erneute fachgerichtliche Entscheidung nach bereits festgestelltem Verstoß gegen das Freiheitsgrundrecht).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 63 StGB; § 67d StGB; § 67e Abs. 2 StGB

1. Mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung vom Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses abhängig zu machen. Es ist ein allgemein anerkanntes Rechtsprinzip, dass jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt.

2. Eine fachgerichtliche Entscheidung, mit der die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wird, ist prozessual überholt, wenn eine erneute (turnusmäßige) Entscheidung ergeht, welche fortan die Grundlage für die Fortdauer, die Unterbrechung oder die Beendigung der angeordneten Unterbringung bildet.

3. Allerdings besteht das Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung einer etwaigen Verfassungswidrigkeit der früheren Fortdauerentscheidung im Hinblick auf den mit dem Freiheitsentzug verbundenen schwerwiegenden Grundrechtseingriff fort, auch wenn die Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage der Vollstreckung bildet, etwa weil der Untergebrachte zwischenzeitlich aus dem Maßregelvollzug entlassen worden ist.

4. Diesem Rechtsschutzbedürfnis ist Genüge getan, wenn (verfassungsgerichtlich) festgestellt worden ist, dass die überholte Fortdauerentscheidung den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht genügte und deshalb gegen das Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten verstieß. Ein darüber hinausgehendes Rechtsschutzbedürfnis für eine erneute fachgerichtliche Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in dem betreffenden Zeitraum besteht aufgrund der eingetretenen prozessualen Überholung nicht mehr.

5. Ein solches weitergehendes Rechtsschutzbedürfnis ergibt sich anders als bei Fortdauerentscheidungen über die Untersuchungshaft auch nicht mit Blick auf mögliche Entschädigungsansprüche nach dem Strafverfolgungsentschädigungsgesetz (StrEG), weil solche in Bezug auf den Maßregelvollzug nicht in Betracht kommen.


Entscheidung

604. BVerfG 2 BvR 869/15 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. Mai 2015 (LG Darmstadt)

Effektiver Rechtsschutz im Strafvollzug (Eilrechtsschutz gegen anstaltsinterne Verlegungen; wirksame gerichtliche Kontrolle; Differenzierung zwischen Aussetzungsanordnung und Vornahmeanordnung; rechtsfehlerhafte Einordnung eines Eilantrags als Vornahmeantrag; Erforderlichkeit einer Interessenabwägung; Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG; § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG; § 80 VwGO; § 123 Abs. 1 VwGO

1. Aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ergibt sich für die Fachgerichte die Verpflichtung, auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht wirksame Kontrolle zu gewährleisten.

2. Wenngleich es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass der Gesetzgeber im Bereich des Strafvollzuges die sofortige Vollziehung einer Maßnahme als Regelfall vorsieht, muss sichergestellt werden, dass der Strafgefangene im Einzelfall umgehend eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann, ob das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung einer Maßnahme oder sein Interesse an der einstweiligen Aussetzung der Vollstreckung überwiegt.

3. Beantragt ein Strafgefangener gerichtlichen Eilrechtsschutz gegen seine Verlegung innerhalb der Justizvollzugsanstalt, so wendet er sich gegen eine ihn belastende Maßnahme, deren Vollzug bereits unter den Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG ausgesetzt werden kann, ohne dass die erhöhten Voraussetzungen für eine Vornahmeentscheidung erfüllt sein müssen.

4. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ist in einem solchen Fall verletzt, wenn die Strafvollstreckungskammer die Gewährung von Eilrechtsschutz ohne die erforderliche Interessenabwägung unter Verweis auf das grundsätzliche Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsache ablehnt und dadurch zu erkennen gibt, dass sie rechtsfehlerhaft von einem Vornahmeantrag ausgegangen ist.

5. Um eine Vorwegnahme der Hauptsache handelt es sich nur dann, wenn die vorläufige Entscheidung faktisch

einer endgültigen gleichkäme, nicht hingegen, wenn es lediglich um die vorübergehende Aussetzung einer Maßnahme geht, die als solche nicht rückgängig gemacht werden könnte. Letzteres ist gerade der typische Gehalt des vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen.

6. Die Hauptsache wird jedenfalls dann nicht vorweggenommen, wenn die anstaltsinterne Verlegung eines Strafgefangenen, der bei Antragstellung noch eine Restfreiheitsstrafe von fünf Monaten zu verbüßen hat, einstweilen untersagt wird. In Fällen noch sehr viel kürzerer Restfreiheitsstrafen wird das Gericht auch in seine Erwägungen einzustellen haben, dass die Hauptsacheentscheidung für den Strafgefangenen zu spät käme.