HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2015
16. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

280. BVerfG 2 BvR 497/12, 2 BvR 498/12, 2 BvR 499/12, 2 BvR 1054/12 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. Januar 2015 (LG Stuttgart / AG Stuttgart)

Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei (Ermittlungsverfahren gegen einen Rechtsanwalt wegen des Verdachts der Verletzung der Unterhaltspflicht; Leistungsfähigkeit; erzielbare Einkünfte bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen); Wohnungsgrundrecht (Richtervorbehalt; besondere Anforderungen an die Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und der Verhältnismäßigkeit bei Berufsgeheimnisträgern; Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat; wenig schwer wiegender Tatverdacht; Angebot der freiwilligen Herausgabe von Unterlagen; Erörterung der Straferwartung im Einzelfall).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 170 StGB; § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO

1. Mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung erfährt die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen einen besonderen grundrechtlichen Schutz, in den mit einer Durchsuchung schwerwiegend eingegriffen wird. Dem Schutz unterfallen auch beruflich genutzte Räume wie Rechtsanwaltskanzleien.

2. Der besondere Schutz von Berufsgeheimnisträgern gebietet bei der Anordnung der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei die besonders sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Die Strafverfolgungsbehörden ha-

ben dabei die Grundrechte der Mandaten, das Interesse der Allgemeinheit an einem Vertrauensverhältnis zum Berufsgeheimnisträger und auch das Ausmaß der – mittelbaren – Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit der Betroffenen zu berücksichtigen.

3. Im Einzelfall können der Durchsuchung die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat, eine geringe Beweisbedeutung der zu beschlagnahmenden Gegenstände sowie die Vagheit des Auffindeverdachts entgegenstehen. Für die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat spricht es, wenn sie nicht von erheblicher Bedeutung ist. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, sind regelmäßig nicht von erheblicher Bedeutung.

4. Der gegen einen Rechtsanwalt gerichtete Verdacht einer Verletzung der Unterhaltspflicht ist nur von geringem Gewicht, wenn die Strafanzeige nicht vollständig plausibel und nicht widerspruchsfrei ist und sich der Tatverdacht vor allem daraus ableitet, dass der Anwalt sich in einem familiengerichtlichen Verfahren nicht von einem medizinischen Sachverständigen hat untersuchen lassen und möglicherweise die Unwahrheit über seinen Gesundheitszustand und damit über seine erzielbaren Einkünfte gesagt hat, wenn jedoch zugleich dokumentiert ist, dass er zumindest zeitweise an einem Burnout-Syndrom und anderen Beeinträchtigungen litt.

5. Der Beschluss, mit dem wegen des Vorwurf der Unterhaltspflichtverletzung die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei angeordnet wird, muss sich mit der Frage der Verhältnismäßigkeit insbesondere dann im Einzelnen auseinandersetzen, wenn der Beschuldigte die freiwillige Herausgabe aller relevanten Unterlagen angeboten hat, wenn belegt ist, dass der Beschuldigte über Jahre hinweg andere Gläubiger nicht befriedigt hat, um seinen Unterhaltspflichten nachzukommen und wenn die Straferwartung angesichts der – zu erörternden – Umstände des Einzelfalls nur sehr gering ist.


Entscheidung

281. BVerfG 2 BvR 1694/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 11. Februar 2015 (LG Darmstadt / AG Darmstadt)

Wohnungsdurchsuchung und Beschlagnahme von Cannabispflanzen bei einem Schmerzpatienten (medizinische Notwendigkeit zur Einnahme von Cannabinoiden; THC; Anbau zum Selbstverbrauch im Rahmen einer ärztlich begleiteten Schmerztherapie; Abwendung gravierender Gesundheitsgefahren); Begründungsanforderungen an einen Durchsuchungsbeschluss (Richtervorbehalt; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Geltung auch für die Beschlagnahme; keine Nachbesserung der Begründung im Beschwerdeverfahren hinsichtlich Tatvorwurf und Beweismitteln); Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Rechtswegerschöpfung; Zumutbarkeit).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 29 Abs. 5 BtMG; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO

1. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde erfordert es, dass ein Beschwerdeführer zunächst alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, um eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug zu verhindern oder zu beseitigen. Diese Obliegenheit steht allerdings unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit.

2. Einem Schmerzpatienten, der zwingend auf die – ihm behördlich erlaubte – Einnahme von Cannabinoiden angewiesen ist, jedoch nicht über die finanziellen Mittel zur Deckung seines Bedarfs verfügt, ist es nicht zuzumuten, die Zeit bis zur Gewährung verwaltungsrechtlichen (Eil-)Rechtsschutzes zur Frage eines Anbaurechts unversorgt zu überbrücken.

3. Dem mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss zur Ermittlung und Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich sein und in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen. Diese Maßstäbe beanspruchen auch für die Beschlagnahme Geltung.

4. Ein Durchsuchungsbeschluss genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn sich im Einzelfall die Erörterung eines offensichtlichen Problems aufdrängen musste und gleichwohl eine Prüfung vollständig fehlt. Im Beschwerdeverfahren können Defizite in der Begründung des Tatverdachts und der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich nachgebessert werden, während Mängel bei der Umschreibung des Tatvorwurfs und der zu suchenden Beweismittel nicht mehr heilbar sind.

5. Den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen ist nicht genügt, wenn der Ermittlungsrichter auf jede einzelfallbezogene Begründung der Durchsuchungsanordnung verzichtet, nachdem der beschuldigte Schmerzpatient selbst angezeigt hatte, dass er bis zu einer behördlichen Entscheidung über eine Anbauerlaubnis zur Abwendung einer akuten medizinischen Unterversorgung im Rahmen einer ärztlich begleiteten Schmerztherapie Cannabis zum Eigenverbrauch anbaue.

6. Soweit in einer derartigen Konstellation konkrete Anhaltspunkte für einen Cannabisanbau auch für Dritte bestehen, ist dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch Rechnung zu tragen, dass der Durchsuchungsbeschluss und die Beschlagnahmeanordnung auf Beweismittel beschränkt werden, die einen solchen Tatverdacht stützen.

7. Außerhalb derartiger atypischer Ausnahmekonstellationen sind die Gerichte allerdings nicht gehindert, Durchsuchungen ohne gesteigerte Begründungserfordernisse als erforderlich anzusehen und von einer Fremdgefährdung auszugehen, weil Beschuldigte die angebauten Betäubungsmittel in aller Regel auch in den Verkehr bringen.


Entscheidung

282. BVerfG 2 BvR 2049/13, 2 BvR 2445/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 22. Januar 2015 (OLG Dresden / LG Zwickau)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Abwägung im Einzelfall; Mindestanforderungen an die Wahrheitserforschung; verfassungsrechtliches Gebot bestmöglicher Sachaufklärung; Notwendigkeit von Feststellungen zum aktuellen Vollzugsverhalten des Untergebrachten; bloßer Verweis auf frühere Stellungnahmen; Reichweite der ärztlichen Schweigepflicht im Maßregelvollzug); hinreichende Substantiierung der Verfassungsbeschwerde (Vorlage von Dokumenten); Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach Erlass einer Folgeentscheidung; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG; § 63 StGB; § 67d Abs. 3 StGB; § 454 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 463 Abs. 3 Satz 1 StPO

1. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG, der unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, ergeben sich auch Mindestanforderungen für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. So müssen alle Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen. Das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung gilt auch für den Straf- und Maßregelvollzug.

2. Die bei Entscheidungen über die Fortdauer der Maßregelvollstreckung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebotene einzelfallbezogene Abwägung zwischen den Sicherungsbelangen der Allgemeinheit und dem Freiheitsanspruch des Untergebrachten hat sich unter anderem darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten künftig von dem Untergebrachten zu erwarten sind, wie ausgeprägt die Rückfallgefahr hinsichtlich Häufigkeit und Frequenz neuer Taten ist und wie schwer die bedrohten Rechtsgüter wiegen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen.

3. Ein Beschluss, mit dem die Fortdauer einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wird, genügt nicht dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung, wenn das Gericht keine Feststellungen über das Vollzugsverhalten des Untergebrachten seit der vorangegangenen Fortdauerentscheidung getroffen hat. Der Verweis der Unterbringungseinrichtung auf frühere Stellungnahmen beinhaltet nicht die Erklärung, dass sich das Vollzugsverhalten des Untergebrachten seither nicht verändert habe.

4. Der Verzicht auf eine Stellungnahme der Unterbringungseinrichtung zum aktuellen Unterbringungsverlauf ist auch nicht unter Hinweis darauf zu rechtfertigen, dass der Untergebrachte die behandelnden Ärzte nicht von ihrer Schweigepflicht entbunden hat.

5. Die ärztliche Schweigepflicht im Maßregelvollzug erstreckt sich nicht auf Tatsachen, die im Rahmen der Wahrnehmung von Ordnungs- und Verwaltungsfunktionen auch für nicht mit therapeutischen Aufgaben betraute Dritte erkennbar sind. Dabei handelt es sich insbesondere um den Unterbringungsverlauf, das Vollzugs- und Sozialverhalten des Untergebrachten jenseits seiner therapeutischen Betreuung und den Umgang in Konfliktsituationen mit anderen Untergebrachten oder dem Betreuungspersonal. Solche Tatsachen sind von der Vollzugseinrichtung im Rahmen einer Stellungnahme mitzuteilen.

6. Zu einer hinreichenden Substantiierung der Verfassungsbeschwerde gehört es, dass alle Dokumente vorgelegt werden, die erforderlich sind, um dem Bundesverfassungsgericht die Prüfung der Verfassungsbeschwerde ohne weitere Ermittlungen zu ermöglichen. Dem ist jedenfalls dann Genüge getan, wenn sich der geltend gemachte Verfassungsverstoß den vorgelegten Dokumenten ohne Weiteres entnehmen lässt.

7. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Unterbringung im Maßregelvollzug besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht fort, auch wenn die Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage der Vollstreckung bildet, weil zwischenzeitlich ein erneuter Fortdauerbeschluss ergangen ist.