HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2014
15. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

983. BVerfG 1 BvR 482/13 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 28. Juli 2014 (OLG Düsseldorf / LG Duisburg)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung (enge Auslegung des Begriffs der Schmähkritik; kritische Äußerung über eine Richterin in einem Zivilprozess; Recht auf polemische Zuspitzung; mehrdeutige Äußerungen; überschaubarer Adressatenkreis; „Kampf ums Recht“).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 185 StGB

1. Die Einstufung einer Äußerung als Schmähkritik, die ohne einzelfallbezogene Abwägung zur Strafbarkeit der Aussage führt, ist nur dann mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar, wenn der Begriff der Schmähkritik eng ausgelegt wird. Daher muss auch bei einer überzogenen oder ausfälligen Kritik hinzutreten, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht und die persönliche Kränkung das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängt.

2. Bei der Äußerung eines Prozessbeteiligten in einem Schadensersatzprozess, es müsse verhindert werden, dass die Richterin auf eine schiefe Bahn gerate, handelt es sich zwar um polemische und überspitzte Kritik, bei der jedoch die Auseinandersetzung in der Sache im Vordergrund steht, soweit der Beteiligte damit einem von ihm verfolgten sachlichen Anliegen Nachdruck verleihen will.

3. Die genannte Äußerung ist mehrdeutig und kann nicht ausschließlich dahingehend verstanden werden, dass der betroffenen Richterin damit die künftige Begehung von Straftaten unterstellt werde. Eine Verurteilung auf der Grundlage dieser Auslegung verletzt daher die Meinungsfreiheit.

4. Bei der grundsätzlich erforderlichen Abwägung zwischen Ehrschutz und Meinungsfreiheit darf nicht außer Betracht bleiben, dass eine Äußerung nur gegenüber einem überschaubaren Adressatenkreis kundgetan wurde und dass es in einem Gerichtsverfahren erlaubt ist, auch starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um seine Rechtsposition zu unterstreichen.


Entscheidung

985. BVerfG 2 BvR 571/14 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 31. Juli 2014 (LG Münster / AG Münster)

Wiederaufnahme eines Strafbefehlsverfahrens wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (Rechtsstaatsprinzip; Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes; neue Tatsachen; Abgrenzung zu Rechtsanwendungsfehlern; Aufklärungspflicht des Wiederaufnahmegerichts).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 359 Nr. 5 StPO; § 373a Abs. 2 StPO; § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG; § 6 Abs. 3 Nr. 3 FeV

1. Das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens dient dem Ziel, den Konflikt zwischen materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit angemessen zu lösen, die sich beide aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten. Das Wiederaufnahmegericht darf das Wiederaufnahmeverfahren nicht in dem Sinne ineffektiv machen, dass die Chancen des Verurteilten auf Erlangung eines gerechten Richterspruchs in Abweichung von dem Ziel des Wiederaufnahmeverfahrens wesentlich verschlechtert werden.

2. Bei Strafbefehlen ist für die Frage, ob neue Tatsachen und Beweismittel beigebracht sind, auf die Aktenlage abzustellen. Im Wiederaufnahmeverfahren gegen einen Strafbefehl ist es wegen des summarischen Charakters des Strafbefehlsverfahrens rechtsstaatlich geboten, sich aus den Akten aufdrängende, klar auf der Hand liegende Fehler bei der Tatsachenfeststellung zu berücksichtigen.

3. Ob eine Tatsache im wiederaufnahmerechtlichen Sinne neu ist, beurteilt sich allein danach, ob das Gericht sie bereits bei der Urteilsfindung verwertet hat. Neu ist damit grundsätzlich alles, was der Überzeugungsbildung des Gerichts nicht zugrunde gelegt worden ist, auch wenn es ihr hätte zugrunde gelegt werden können.

4. Bleibt bei einem Strafbefehl wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis unklar, ob die für die Strafbarkeit maßgebliche Frage, ob die bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit des geführten Fahrzeugs über 25 km/h lag, übersehen oder – unzutreffenderweise – stillschweigend bejaht worden ist, so darf das Wiederaufnahmegericht nicht ohne Weiteres von dem zweitgenannten Fall ausgehen, der eine Wiederaufnahme ausschließen würde, sondern muss die Zweifel freibeweislich aufklären.


Entscheidung

984. BVerfG 2 BvR 64/14 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 2. Juli 2014 (OLG München / LG Memmingen)

Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach Entlassung aus der Maßregelunterbringung; tiefgreifender Grundrechtseingriff); Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; Abwägung im Einzelfall; Tatsachengrundlage; gerichtliche Sachaufklärungspflicht; Begründungstiefe; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte); Gefährlichkeitsprognose (erhebliche Gefahr künftiger rechtswidriger Taten; Konkretisierung künftig zu erwartender Delikte; Erheblichkeit; Grad der Wahrscheinlichkeit); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (milderes Mittel; Führungsaufsicht; Auflagen und Weisungen; erfolgreich durchlaufene Lockerungen; Zuverlässigkeit und Absprachefähigkeit des Untergebrachten).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d StGB

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht fort, auch wenn die angefochtene Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage für die Unterbringung bildet.

2. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der besonderen Verfahrensgarantien nach Art. 104 Abs. 2 bis Abs. 4 GG eingeschränkt werden. Eine Einschränkung kommt außerdem nur aus besonders gewichtigen Gründen in Betracht, zu denen in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts – einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus – zählen.

3. Bei Prüfung der Aussetzungsreife einer Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Betroffenen einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und einzelfallbezogen gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die von dem Täter ausgehende Gefahr zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen.

4. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten künftig von dem Untergebrachten zu erwarten sind, wie ausgeprägt die Rückfallgefahr hinsichtlich Häufigkeit und Frequenz ist und wie schwer die bedrohten Rechtsgüter wiegen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen. Ausreichend sind nur erhebliche rechtswidrige Taten.

5. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch mildere Maßnahmen wie insbesondere durch geeignete Auflagen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann.

6. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

7. Die von einem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist nicht in hinreichendem Maße konkretisiert, wenn das Gericht nicht darlegt, welche konkreten Taten im Einzelfall von dem Untergebrachten zu erwarten sind und inwiefern diese konkret das Merkmal der Erheblichkeit erfüllen würden. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich bei den Anlasstaten sowohl um Körperverletzungs- als auch um Beleidigungsdelikte handelte und der Fortdauerbeschluss ohne Spezifizierung des Deliktstyps nur ausführt, es seien gleichartige erhebliche Delikte zu erwarten.

8. Stützt sich eine Fortdauerentscheidung auf zu erwartende Körperverletzungsdelikte, so sind Ausführungen zu den Besonderheiten des Einzelfalls insbesondere dann erforderlich, wenn ein Gutachten die Wahrscheinlichkeit insoweit lediglich als gering einstuft, der Betroffene von der behandelnden Klinik als zuverlässig und absprachefähig beurteilt wird und sich bereits in Lockerungen bewährt hat und die Anlasstaten allein auf einen Konflikt zwischen dem Betroffenen und seiner früheren psychologischen Beraterin zurückzuführen sind.


Entscheidung

986. BVerfG 2 BvR 689/14 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. Juli 2014 (OLG München)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Mindestanforderungen an die Wahrheitserforschung; verfassungsrechtliches Gebot bestmöglicher Sachaufklärung); externer Sachverständiger (Sollvorschrift; Abweichung nur in Ausnahmefällen; fehlende Bereitschaft des Untergebrachten zur Mitwirkung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 63 StGB; § 67d StGB; § 67e Abs. 2 StPO; § 463 Abs. 4 StPO

1. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter Beachtung strenger formeller Gewährleistungen eingeschränkt werden.

2. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG ergeben sich auch Mindestanforderungen für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. So müssen alle Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen. Das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung gilt auch für den Straf- und Maßregelvollzug.

3. Bei der Prognose über die Gefährlichkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten ist das Gericht in der Regel verpflichtet, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen. Hiervon kann es auch bei einer turnusmäßigen Überprüfung der Unterbringung nach § 67e Abs. 2 StGB nur dann absehen, wenn im Einzelfall anderweitig eine hinreichende Gründlichkeit bei der Entscheidungsfindung gewährleistet ist.

4. Befindet sich der Untergebrachte seit langer Zeit in demselben psychiatrischen Krankenhaus, ist es in der Regel geboten, von Zeit zu Zeit einen anstaltsfremden („externen“) Sachverständigen hinzuzuziehen, um der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen vorzubeugen und um auszuschließen, dass Belange der Anstalt oder die Beziehung zwischen Untergebrachtem und Therapeuten das Gutachten beeinflussen.

5. Die verfassungsrechtliche Vorgabe einer regelmäßigen Begutachtung durch einen externen Sachverständigen wird durch die Vorschrift des § 463 Abs. 4 StPO konkretisiert und verfahrensrechtlich abgesichert. Die Einhaltung dieser Vorschrift ist ein Verfassungsgebot. Das Bundesverfassungsgericht prüft nach, ob die Fachgerichte bei ihrer Anwendung Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts erkennen und ihm angemessen zur Wirkung verhelfen.

6. Ein externes Gutachten als Grundlage einer jeweils nach fünf Jahren zu treffenden Prognoseentscheidung ist nach der Sollvorschrift des § 463 Abs. 4 StPO allenfalls in eng begrenzten Ausnahmefällen entbehrlich. So kann von einer externen Begutachtung etwa dann abgesehen werden, wenn ansonsten eine bevorstehende Entlassung des Untergebrachten verzögert würde oder wenn das Gericht bereits auf ein externes Gutachten zurückgreifen kann, das nach einer landesrechtlichen Regelung erstellt worden ist, die eine externe Begutachtung in kürzeren Zeitabständen vorsieht.

7. Die fehlende Bereitschaft des Untergebrachten zur Mitwirkung an einer externen Begutachtung macht diese regelmäßig nicht entbehrlich, weil auch ein ohne Mitwirkung des Betroffenen erstelltes Gutachten einen Beitrag zur Verbesserung der Prognosesicherheit des Gerichts leisten kann; denn der externe Sachverständige kann insbesondere Stellungnahmen der Klinik eigenständig bewerten und dabei seine gesteigerte Unvoreingenommenheit und kritische Distanz zur Geltung bringen.


Entscheidung

987. BVerfG 2 BvR 1056/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 2. Juli 2014 (OLG Hamm)

Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach Entlassung aus der Maßregelunterbringung; tiefgreifender Grundrechtseingriff); Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; Abwägung im Einzelfall; Tatsachengrundlage; gerichtliche Sachaufklärungspflicht; Begründungsanforderungen; Erörterung einer möglichen bedingten Entlassung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 63 StGB; § 67d StGB

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht fort, auch wenn der Betroffene zwischenzeitlich aus dem Maßregelvollzug entlassen worden ist.

2. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der besonderen Verfah-

rensgarantien nach Art. 104 Abs. 2 bis Abs. 4 GG eingeschränkt werden. Eine Einschränkung kommt außerdem nur aus besonders gewichtigen Gründen in Betracht, zu denen in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts – einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus – zählen.

3. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG folgt, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden gerichtlichen Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben müssen, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht.

4. Das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung kann Ausführungen dazu verlangen, welche Sicherungsmaßnahmen zur Verfügung stehen, mit denen die bedingte Entlassung eines im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten zu verantworten ist. Solche Ausführungen sind etwa dann erforderlich, wenn bei einem seit nahezu acht Jahren aufgrund einer wahnhaften Störung Untergebrachten, der sich grundsätzlich therapiebereit zeigt und dessen Wahn sich ausschließlich auf seine Ehefrau bezieht, nach der Stellungnahme der Vollzugseinrichtung die Behandlungsmöglichkeiten zwar im Inland weitgehend ausgeschöpft sind, eine Behandlung im Herkunftsland unter den dortigen soziokulturellen Norm- und Wertevorstellungen jedoch Erfolg verspricht.


Entscheidung

988. BVerfG 2 BvR 2632/13 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 6. August 2014 (OLG Frankfurt am Main / LG Marburg)

Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Freiheitsgrundrecht; Mindestanforderungen an die Wahrheitserforschung; verfassungsrechtliches Gebot bestmöglicher Sachaufklärung); Sachverständigengutachten (Erforderlichkeit bei Prognoseentscheidungen; Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen; Pflicht zur regelmäßigen Heranziehung eines „externen“ Sachverständigen; Berücksichtigung neuer Entwicklungen in der Person des Verurteilten).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 66 StGB; § 67d StGB; § 463 Abs. 3 Satz 3 StPO; § 454 Abs. 2 StPO

1. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG, die auch im Verfahrensrecht Beachtung erfordert, ergeben sich Mindestanforderungen für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. So müssen alle Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen. Das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung gilt auch für die Fortdauer einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung.

2. Wenn es um eine Prognoseentscheidung geht, bei der geistige und seelische Anomalien in Frage stehen, ist das Gericht in der Regel verpflichtet, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen. Um der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen entgegenzuwirken und um auszuschließen, dass anstaltsinterne Belange oder die Beziehung zwischen Therapeut und Untergebrachtem das Gutachten beeinflussen, ist mit der Begutachtung von Zeit zu Zeit ein anstaltsfremder („externer“) Sachverständiger zu beauftragen.

3. Die Einholung eines (externen) Sachverständigengutachtens kann – auch über die gesetzliche Regelung nach § 463 Abs. 3 Satz 3 i. V. m. § 454 Abs. 2 StPO hinaus – von Verfassungs wegen geboten sein, insbesondere, wenn neuere Entwicklungen in der Person des Verurteilten oder der seit der letzten Begutachtung verstrichene Zeitraum die bisherige Gefahrenprognose beeinflussen können.

4. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben sind verletzt, wenn eine Strafvollstreckungskammer auf die Einholung eines aktuellen, externen Sachverständigengutachtens verzichtet, obwohl das bislang einzige – noch im Rahmen der Hauptverhandlung eingeholte – psychiatrische Gutachten im Zeitpunkt der Fortdauerentscheidung bereits über 13 Jahre zurückliegt und der Untergebrachte während der seit viereinhalb Jahren vollstreckten Sicherungsverwahrung noch überhaupt nicht durch einen anstaltsexternen Sachverständigen begutachtet worden ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Betroffene nunmehr bereit ist, seine Taten aufzuarbeiten und an therapeutischen Maßnahmen teilzunehmen.


Entscheidung

989. BVerfG 2 BvR 2848/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. Juli 2014 (OLG Hamm / LG Bochum)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; Abwägung im Einzelfall; Tatsachengrundlage; gerichtliche Sachaufklärungspflicht; Begründungstiefe; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte); Gefährlichkeitsprognose (erhebliche Gefahr künftiger rechtswidriger Taten; Konkretisierung künftig zu erwartender Delikte; Erheblichkeit; Grad der Wahrscheinlichkeit; fehlende Gewaltausübung durch den Untergebrachten); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (milderes Mittel; Führungsaufsicht; Auflagen und Weisungen; nahezu 27 Jahre dauernde Unterbringung; ausgeschöpfte Behandlungsmöglichkeiten im Maßregelvollzug).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d StGB

1. Der mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Bei Entscheidungen über die Aussetzung der Maßregelvollstreckung ist ihm dadurch Rechnung zu tragen, dass die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und einzelfallbezogen gegeneinander abgewogen werden.

2. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten künftig von dem Untergebrachten zu erwarten sind, wie ausgeprägt die Rückfallgefahr hinsichtlich Häufigkeit und Frequenz ist und wie schwer die bedrohten Rechtsgüter wiegen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen. Ausreichend sind nur erhebliche rechtswidrige Taten.

3. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch mildere Maßnahmen wie insbesondere durch geeignete Auflagen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann.

4. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

5. Die von einem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist nicht in hinreichendem Maße konkretisiert, wenn das Gericht ohne Benennung der konkret zu erwartenden Straftaten lediglich von der Gefahr gewalttätiger Übergriffe ausgeht, ohne zu thematisieren, dass der Betroffene die bei den Anlasstaten mitgeführten Werkzeuge lediglich zum Zweck der Drohung eingesetzt, niemanden verletzt, bei Gegenwehr regelmäßig die Flucht ergriffen und auch im Maßregelvollzug nie Gewalt ausgeübt hat.

6. Die Verhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung ist nicht in ausreichendem Maße begründet, wenn das Gericht nicht würdigt, dass auf den Betroffenen noch Jugendstrafrecht zur Anwendung gekommen ist, die Dauer der Unterbringung von nahezu 27 Jahren den Strafrahmen der verwirklichten Strafgesetze weit übersteigt und die Behandlungsmöglichkeiten im Maßregelvollzug ausweislich des letzten externen Sachverständigengutachtens weitgehend erschöpft sind.