HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2014
15. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

747. BGH 4 StR 158/14 - Urteil vom 17. Juli 2014 (LG Magdeburg)

Rücktritt vom Versuch (beendeter Versuch: Definition, Korrektur des Rücktrittshorizonts).

§ 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB; § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB

1. Ein beendeter Versuch liegt vor, wenn der Täter nach der letzten Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGHSt 39, 221, 227).

2. Eine Korrektur des Rücktrittshorizonts ist allerdings in engen Grenzen möglich. Der Versuch eines Tötungsdelikts ist daher nicht beendet, wenn der Täter zunächst irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber „nach alsbaldiger Erkenntnis seines Irrtums“ von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 273, 274).

3. Die Frage, ob nach diesen Rechtsgrundsätzen von einem beendeten oder unbeendeten Versuch auszugehen ist, bedarf insbesondere dann eingehender Erörterung, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch - vom Täter wahrgenommen - zu körperlichen Reaktionen fähig ist, die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Opfer sei bereits tödlich verletzt (BGH NStZ-RR 2002, 73, 74). So liegt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs etwa in dem Fall, dass das Opfer noch in der Lage ist, sich vom Tatort wegzubewegen Ein solcher Umstand kann geeignet sein, die Vorstellung des Täters zu erschüttern, alles zur Erreichung des gewollten Erfolgs getan zu haben (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 335, 336).


Entscheidung

748. BGH 4 StR 168/14 - Beschluss vom 4. Juni 2014 (LG Ulm)

Rücktritt vom Versuch (Fehlschlag des Versuchs).

§ 24 Abs. 1 StGB

1. Ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 StGB scheidet aus, wenn der Versuch fehlgeschlagen ist (st. Rspr). Ob ein fehlgeschlagener Versuch vorliegt, ist für jedes im Versuchsstadium stecken gebliebene Delikt ungeachtet der konkurrenzrechtlichen Bewertung gesondert zu prüfen (vgl. BGH NStZ 2012, 562).

2. Von einem fehlgeschlagenen Versuch ist auszugehen, wenn die Tat nach dem Misslingen des zunächst vorgestellten Tatablaufs mit den bereits eingesetzten oder anderen naheliegenden Mitteln objektiv nicht mehr vollendet werden kann und der Täter dies erkennt. Gleiches gilt, wenn eine Tatvollendung objektiv zwar noch möglich ist, der Täter diese aber subjektiv nicht mehr für möglich hält. Maßgeblich dafür ist nicht der ursprüngliche Tatplan, dem je nach Fallgestaltung allenfalls Indizwirkung für den Erkenntnishorizont des Täters zukommen kann (vgl. BGH NStZ 2008, 393), sondern dessen Vorstellung nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung (st. Rspr). Lässt sich den Urteilsfeststellungen das zur revisionsrechtlichen Prüfung unerlässliche Vorstellungsbild des Angeklagten nicht hinreichend entnehmen, hält das Urteil sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 273, 274).


Entscheidung

788. BGH 5 StR 134/14 - Urteil vom 1. Juli 2014 (LG Hamburg)

Notwehr (Erforderlichkeit: tödlicher Einsatz eines Messers; Gebotenheit: sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten); Strafzumessung beim minder schweren Fall des Totschlags (Provokation; Tötung im Grenzbereich der Notwehr).

§ 32 StGB; § 213 StGB

1. In einer Notwehrlage muss der Angegriffene auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur dann zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz einer Waffe kann mithin durch Notwehr gerechtfertigt sein. Gegenüber einem unbewaffneten Angreifer ist der Gebrauch eines bis dahin noch nicht in Erscheinung getretenen Messers allerdings in der Regel anzudrohen.

2. Eine Einschränkung der Notwehr und dem Gesichtspunkt der Gebotenheit der Verteidigung liegt schon bei der dem Angegriffenen bekannten massiven alkoholischen Beeinträchtigung des Opfers nahe.


Entscheidung

750. BGH 4 StR 176/14 - Beschluss vom 2. Juli 2014 (LG Dortmund)

Tateinheit bei mittäterschaftlich begangener Mehrzahl von Delikten (gesonderte Prüfung jedes einzelnen Beteiligten).

§ 52 Abs. 1 StGB; § 25 Abs. 2 StGB

1. Sind an einer Deliktserie mehrere Personen als Mittäter beteiligt, ist die Frage, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich zusammentreffen, bei jedem Beteiligten gesondert zu prüfen und zu entscheiden. Maßgeblich ist dabei der Umfang des erbrachten Tatbeitrags.

2. Leistet ein Mittäter für alle oder einige Einzeltaten einen individuellen, nur diese fördernden Tatbeitrag, so sind ihm diese Taten – soweit keine natürliche Handlungseinheit vorliegt – als tatmehrheitlich begangen zuzurechnen. Fehlt es an einer solchen individuellen Tatförderung, erbringt der Täter aber im Vorfeld oder während des Laufs der Deliktserie Tatbeiträge, durch die alle oder mehrere Einzeltaten seiner Tatgenossen gleichzeitig gefördert werden, sind ihm die gleichzeitig geförderten einzelnen Straftaten als tateinheitlich begangen zuzurechnen, da sie in seiner Person durch den einheitlichen Tatbeitrag zu einer Handlung im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB verknüpft werden. Ohne Bedeutung ist dabei, ob die Mittäter die einzelnen Delikte tatmehrheitlich begangen haben (st. Rspr).

II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

741. BGH 2 StR 608/13 - Urteil vom 16. April 2014 (LG Köln)

Misshandlung von Schutzbefohlenen (Verhältnis zum Totschlag: keine Gesetzeseinheit, Schutz auch der psychischen Integrität); Strafzumessung (Berücksichtigung von Vor- und Nachtatverhalten).

§ 225 Abs. 3 Nr. 1 StGB; § 212 StGB; § 46 StGB.

1. Die Qualifikation der Körperverletzung gemäß § 225 Abs. 3 Nr. 1 StGB wird nicht von § 212 StGB verdrängt.

2. Neben der körperlichen Unversehrtheit wird mithilfe des § 225 StGB – über § 223 StGB hinaus – auch die psychische Integrität einer unter besonderen Schutzverhältnissen stehenden Person geschützt.

3. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt Gesetzeseinheit nur vor, wenn der Unrechtsgehalt einer Handlung durch einen von mehreren, dem Wortlaut nach anwendbaren Straftatbeständen erschöpfend erfasst wird. Maßgebend für die Beurteilung sind die Rechtsgüter, gegen die sich der Angriff des Täters richtet, und die Tatbestände, die das Gesetz zu ihrem Schutz aufstellt. Die Verletzung des durch den einen Straftatbestand geschützten Rechtsguts muss eine – wenn nicht notwendige, so doch regelmäßige – Erscheinungsform des anderen Tatbestandes sein (vgl. BGHSt 39, 100, 108).

4. Vor- und Nachtatverhalten sind bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, wenn ein schuldrelevanter Zusammenhang mit der Tat besteht (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 170, 171). Die fehlende Berücksichtigung entsprechenden relevanten Verhaltens im Rahmen der Strafzumessung stellt einen den Angeklagten begünstigenden Rechtsfehler dar (vgl. BGH NStZ 2011, 512, 513).


Entscheidung

795. BGH 5 StR 216/14 - Beschluss vom 17. Juni 2014 (LG Berlin)

Räuberische Erpressung (kein Vermögensnachteil bei Zugriffsmöglichkeit auf EC-Karte ohne korrekte PIN-Nummer).

§ 253 StGB; § 255 StGB

Erlangt der Täter unter dem Einsatz qualifizierter Nötigungsmittel die Zugriffsmöglichkeit auf eine EC-Karte des Opfers, so begründet das nur dann den Eintritt eines Vermögensnachteils i.S.d. §§ 253, 255 StGB, wenn er auch über die zutreffende PIN-Nummer verfügt. Ist dies nicht der Fall (hier: aufgrund der Angabe einer falschen PIN-Nummer durch das Opfer), kommt alleine eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht.


Entscheidung

734. BGH 2 StR 445/13 - Urteil vom 19. März 2014 (LG Marburg)

Unternehmen des Sich-Besitzverschaffens von kinderpornographischen Schriften (keine Strafbarkeit bei Erfüllung rechtmäßiger dienstlicher oder beruflicher Pflichten: Besitzverschaffung durch Strafverteidiger).

§ 184b Abs. 2, Abs. 5 StGB

1. Nur wenn die Besitzverschaffung zur Erfüllung eines Gutachtenauftrags erforderlich war, wurde sie gemäß § 184b Abs. 5 StGB vom Tatbestand des § 184b Abs. 2 StGB ausgeschlossen; denn § 184b Abs. 5 StGB ist eine eng auszulegende Ausnahme von dem auch zum Schutz der Intimsphäre der abgebildeten Kinder (vgl. BVerwGE 111, 291, 294) umfassenden Verbot des Unternehmens der Besitzverschaffung an kinderpornographischen Schriften. Diese Ausnahme betrifft „ausschließlich“ solche Handlungen, welche der Erfüllung rechtmäßiger dienstlicher oder beruflicher Pflichten dienen.

2. Zwar ist der Ausnahmetatbestand nicht auf die Tätigkeit der Behörden bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben beschränkt, sondern kann auch Strafverteidiger und Sachverständige betreffen (vgl. BT-Drucks. 12/4883 S. 8). Zu Verteidigungszwecken kann der Strafverteidiger das Aktenmaterial, das kinderpornographische Schriften enthält, auswerten und dazu auch Berufshelfer einschalten. Die Besitzverschaffung an Dritte innerhalb dieses Personenkreises ist aber nach der Regelungskonzeption eines umfassenden Verkehrsverbots bezüglich kinderpornographischer Schriften auch dem Strafverteidiger nur erlaubt, soweit dies zur Wahrnehmung seiner Verteidigungsaufgabe erforderlich ist.


Entscheidung

766. BGH 3 StR 154/14 - Urteil vom 12. Juni 2014 (LG Mainz)

Anforderungen an die tatrichterliche Beweiswürdigung hinsichtlich der subjektiven Voraussetzungen der

Heimtücke (Ausnutzungsbewusstsein; umfassende Würdigung aller Umstände; Grenzen der Revisibilität); Rücktritt (ausnahmsweise Bestand des Urteils trotz fehlender Feststellungen zum Rücktrittshorizont).

§ 261 StPO; § 211 StGB; § 24 StGB

1. Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise i.S.d. § 211 StGB ist in subjektiver Hinsicht, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt. Dafür muss er die Umstände, welche die Tötung zu einer heimtückischen machen, nicht nur äußerlich wahrgenommen, sondern auch in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst haben; ihm muss mithin bewusst geworden sein, dass er einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen überrascht.

2. Die Spontaneität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters können hierbei Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlte; psychische Ausnahmezustände können auch unterhalb der Schwelle des § 21 StGB der Annahme des Bewusstseins des Ausnutzens entgegenstehen.

3. Die Feststellung des Ausnutzungsbewusstseins erfordert insoweit eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalles. Diese ist einer Überprüfung durch das Revisionsgericht in demselben (eingeschränkten) Umfang zugänglich, wie die Beweiswürdigung im Allgemeinen.


Entscheidung

760. BGH 3 StR 60/14 - Beschluss vom 27. Mai 2014 (LG Koblenz)

Mordmerkmal der Heimtücke (kein Erfordernis eines direkten Vermögenszuwachses beim Täter); Ablehnung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit.

§ 211 StGB; § 244 Abs. 3 StPO

Das Mordmerkmal der Habgier setzt eine Verknüpfung zwischen dem geplanten Tod des Opfers und einer Bereicherung des Täters voraus. Eine unmittelbare Vermehrung des Vermögens des Täters in dem Sinn, dass durch die Tat direkt ein Vermögenszuwachs beim Täter entsteht, ist hingegen nicht erforderlich.


Entscheidung

778. BGH 3 StR 265/13 - Beschluss vom 6. Mai 2014 (OLG Hamburg)

Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland (PKK; keine völkerrechtliche Rechtfertigung des Kampfes der PKK gegen das türkische Militär; gerichtliche Kontrolle der Verfolgungsermächtigung); keine Wiedereinsetzung bei unvollständig erhobener Verfahrensrüge.

§ 129a StGB; § 129b StGB; § 44 StPO

1. Art. 43 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte vom 8. Juni 1977 (ZP I) statuiert das sog. Kombattantenprivileg, mithin das Recht der Angehörigen der Streitkräfte einer am Konflikt beteiligten Partei, unmittelbar an Feindseligkeiten teilzunehmen. Dieses Recht umfasst auch die Tötung von militärischen Gegnern.

2. Das Kombattantenprivileg steht grundsätzlich nur Kämpfern in internationalen Konflikten zu. In diese bezieht Art. 1 Abs. 4 ZP I indes solche bewaffnete Konflikte ein, in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regime in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen, wie es in der Charta der Vereinten Nationen und in der Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist. Diese Voraussetzungen liegen in Bezug auf den militärischen Kampf der kurdischen PKK gegen das türkische Militär nicht vor.


Entscheidung

790. BGH 5 StR 154/14 - Beschluss vom 16. Juli 2014 (LG Berlin)

Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (Begriff der Zwangslage; Einschränkung der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten aufgrund von prekären wirtschaftlichen Verhältnissen.

§ 232 StGB

Ist die mit einem Leben in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen verbundene Einschränkung der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten konkret geeignet, ihren Widerstand gegen Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung herabzusetzen, genügt dies regelmäßig zur Erfüllung des Merkmals der „Zwangslage“ i.S.d. § 232 StGB. Es ist demgegenüber nicht erforderlich, dass zu den schlechten sozialen Verhältnissen in Bezug auf das jeweilige Opfer noch weitere erschwerende Umstände hinzukommen.


Entscheidung

767. BGH 3 StR 168/14 - Beschluss vom 24. Juni 2014 (LG Hannover)

Schwere Körperverletzung (Begriff der „Lähmung“; Erfordernis der Aufhebung der Integrität des gesamten Körpers); Strafrahmenwahl bei Vorhandensein eines Sonderstrafrahmens und eines weiteren vertypten Milderungsgrundes.

§ 226 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 3 StGB; § 226 Abs. 3 StGB; § 49 StGB

Eine Lähmung im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist die erhebliche Beeinträchtigung der bestimmungsgemäßen Bewegungsfähigkeit eines Körperteiles, wenn sie die Integrität des gesamten Körpers aufhebt. Die Versteifung etwa des Handgelenks oder einzelner Finger genügt insoweit nicht.


Entscheidung

735. BGH 2 StR 465/13 - Beschluss vom 14. Mai 2014 (LG Frankfurt a. M.)

Schwerer Bandendiebstahl (Bandenbegriff).

§ 244a Abs. 1 StGB

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine Bande im Sinne des § 244a StGB den Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, von denen jede auf der Grundlage einer ausdrücklichen oder konkludenten Abrede den Willen hat, mit den anderen Bandenmitgliedern in Zukunft für eine gewisse Dauer eine unbestimmte Zahl von Straftaten zu begehen (vgl. BGHSt 46, 321, 328 ff.).