HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2014
15. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

9. BGH 2 StR 267/13 – Beschluss vom 24. September 2013 (LG Marburg)

BGHSt; Verständigung (Umgehung der gesetzlichen Vorschriften durch informelle Urteilsabsprache: Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts; Beweiskraft des Protokolls für das Vorliegen einer Absprache).

§ 302 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 257c StPO; § 273 Abs. 1a StPO

1. Wenn Verteidigung und Staatsanwaltschaft in Gegenwart der für die Entscheidung zuständigen Richter Anträge zur Strafart und Strafhöhe nach Teileinstellung des Verfahrens und Ablegung eines Geständnisses erörtern, im Anschluss daran das Gericht nach dem Vortrag eines Formalgeständnisses auf eine – an sich vorgesehene – Beweisaufnahme verzichtet, den übereinstimmenden Anträgen folgt und der Angeklagte Rechtsmittelverzicht erklärt, ist in der Regel von einer konkludent geschlossenen Urteilsabsprache auszugehen, die dem Zweck dient, die Anforderungen und Rechtswirkungen einer Verständigung rechtswidrig zu umgehen. Bloßes Schweigen der Richter bei einem Verständigungsgespräch oder die Erklärung, das Gericht trete den Vorschlägen nicht bei, stehen dem nicht entgegen. (BGHSt)

2. Ein Rechtsmittelverzicht ist unwirksam, wenn dem Urteil eine informelle Verständigung vorausgegangen ist. (BGHSt)

3. Der Protokollvermerk, dass eine „qualifizierte Absprache“ gemäß § 257c StPO nicht stattgefunden habe, steht der freibeweislichen Feststellung nicht entgegen, dass ein hiervon abweichendes Verfahren stattgefunden hat. (Bearbeiter)

4. Nach dem Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl. 2009 I, S. 2353) ist für informelle Absprachen über das Prozessergebnis kein Raum. Nach dem Zweck des gesetzlichen Ausschlusses eines Rechtsmittelverzichts gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO muss diese Regelung für informelle Absprachen erst recht gelten. Ein Angeklagter, der an Erörterungen der Richter, Verteidiger und Vertreter der Staatsanwaltschaft im Beratungszimmer nicht beteiligt war, dem die für das Verständigungsverfahren vorgesehenen Informationen über den wesentlichen Inhalt der Erörterungen (§ 243 Abs. 4 Satz 1 StPO) nicht protokollfest erteilt wurden (vgl. BGH NJW 2013, 3046, 3047 f.) und der nach der Urteilsverkündung vom Gericht nicht qualifiziert über seine Rechtsmittelmöglichkeit belehrt wurde, ist besonders schutzwürdig. Er kann unmittelbar nach Urteilsverkündung nicht eigenverantwortlich entscheiden, ob eine Rechtsmittelmöglichkeit noch mit Aussicht auf Erfolg genutzt werden kann oder ein Rechtsmittelverzicht erklärt werden soll. (Bearbeiter)


Entscheidung

42. BGH 3 StR 162/13 – Urteil vom 22. November 2013 (LG Hannover)

Betrug (Irrtum; sachgedankliches Mitbewusstsein; Anforderungen an die beweisrechtliche Feststellung; Erforderlichkeit der Ermittlung und Vernehmung der irrenden Person); Absehen vom Verfall wegen entgegenstehender Ansprüche von Verletzten; Entbindung des Schöffen (Besetzungsrüge; Prüfungsumfang des Revisionsgerichts; Verhinderung des Schöffen in Fällen der Verlegung der Hauptverhandlung).

§ 263 StGB; § 244 Abs. 2, Abs. 3 StPO; § 111i Abs. 2 StPO; § 54 GVG; § 338 StPO

1. Bei Verurteilungen wegen vollendeten Betruges (§ 263 StGB) ist in den Urteilsgründen grundsätzlich festzustellen und darzulegen, welche irrigen Vorstellungen die Person hatte, die die Verfügung getroffen hat. Dabei wird es regelmäßig erforderlich sein, die irrende Person zu ermitteln und in der Hauptverhandlung über die tatrelevante Vorstellung zu vernehmen.

2. Ausnahmsweise kann jedoch in Fällen eines normativ geprägten Vorstellungsbildes (hier: bei Bargeschäften) des Verfügenden die Vernehmung weniger Zeugen genügen; wenn deren Angaben das Vorliegen eines Irrtums (in den sie betreffenden Fällen) belegen, kann auf die Erregung eines Irrtums auch bei anderen Verfügenden geschlossen werden. Im Übrigen kann das Gericht auch aus Indizien auf einen Irrtum schließen. In diesem Zusammenhang kann etwa eine Rolle spielen, ob der Verfügende ein eigenes Interesse daran hatte oder im Interesse eines anderen verpflichtet war, sich von der Wahrheit der Behauptungen des Täters zu überzeugen. Wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Verfügende kollusiv mit dem täuschenden Täter zusammengearbeitet oder aus einem sonstigen Grund Kenntnis von der Täuschung erlangt hatte und der durch die Täuschung erregte Irrtum deshalb nicht verfügungsursächlich geworden sein könnte, können sogar nähere Feststellungen dazu, wer verfügt hat, entbehrlich sein.

3. Die – bislang in Rechtsprechung und Literatur noch nicht geklärte – Frage, ob bei Verlegung des ordentlichen Sitzungstages die Verhinderung des Hauptschöffen an diesem oder an dem – infolge der Verlegung an einem anderen Tag stattfindenden – tatsächlichen Sitzungstag für seine Entbindung von der Dienstleistung maßgebend ist, ist dahin zu entscheiden, dass für die Entbindung des („Haupt-") Schöffen von der Dienstleistung seine Verhinderung am tatsächlichen Sitzungstag, nicht diejenige an dem als ordentlichen Sitzungstag bestimmten Tag maßgeblich ist.

4. Die Entbindungsentscheidung selbst ist gemäß § 54 Abs. 3 Satz 1, § 77 Abs. 1 GVG unanfechtbar und unterliegt daher nicht der Prüfung des Revisionsgerichts (§ 336 Satz 2 Alt. 1 StPO). Die auf der Entbindungsentscheidung beruhende Gerichtsbesetzung kann somit grundsätzlich nicht nach § 338 Nr. 1 StPO mit der Revision gerügt werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Entscheidung objektiv willkürlich und der verfassungsrechtliche Grundsatz des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 16 Satz 2 GVG verletzt ist (st. Rspr.). Angesichts der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung von § 54 Abs. 3 Satz 1 GVG, § 336 Satz 2 Alt. 1 StPO kommt eine Richtigkeitsprüfung über den Willkürmaßstab hinaus nicht in Betracht und ist auch verfassungsrechtlich nicht erforderlich.


Entscheidung

41. BGH 3 StR 154/13 – Beschluss vom 15. Oktober 2013 (LG Osnabrück)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache (Anforderungen an die prognostische Beurteilung der Bedeutsamkeit); Betrug (einheitliche Tat beim sog. uneigentlichen Organisationsdelikt; Ermittlung des Vermögensschadens).

§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 263 StGB; § 261 StPO

Zur gegebenenfalls möglichen Antizipation des Beweisergebnisses bei Beweisanträgen auf die Vernehmung möglicherweise irrender Opferzeugen in Massenverfahren (serienmäßiger Betrug) bei vorheriger Vernehmung einiger Opferzeugen.


Entscheidung

8. BGH 2 StR 265/13 – Beschluss vom 5. November 2013 (LG Koblenz)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Gesetzbindung des Richters: Amtsermittlungsgrundsatz; Überprüfung eines Geständnisses).

Art. 20 Abs. 3 GG; § 261 StPO; § 155 Abs. 2 StPO

1. Aus dem verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzip folgt im Strafprozess die Verpflichtung der Gerichte, von Amts wegen den wahren Sachverhalt zu erforschen (vgl. BVerfG NJW 2013, 1058, 1060). Die Amtsaufklärungspflicht darf schon wegen der Gesetzesbindung des Richters (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht dem Interesse an einer einfachen und schnellstmöglichen Erledigung des Verfahrens geopfert werden. Es ist unzulässig, dem Urteil

einen Sachverhalt zu Grunde zu legen, der nicht auf einer Überzeugungsbildung unter Ausschöpfung des verfügbaren Beweismaterials beruht. Dies gilt auch dann, wenn sich der Angeklagte geständig gezeigt hat.

2. Zwar unterfällt auch die Bewertung eines Geständnisses dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO. Das Tatgericht muss aber, will es die Verurteilung des Angeklagten auf dessen Einlassung stützen, von deren Richtigkeit überzeugt sein. Es ist deshalb stets zu untersuchen, ob das Geständnis den Aufklärungsbedarf hinsichtlich der erforderlichen Feststellungen zur Tat erfüllt, ob es in sich stimmig ist und auch im Hinblick auf sonstige Erkenntnisse keinen Glaubhaftigkeitsbedenken unterliegt. Es genügt nicht, das Geständnis des Angeklagten durch bloßen Abgleich des Erklärungsinhalts mit der Aktenlage zu überprüfen, weil dies keine hinreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung darstellt (vgl. BVerfG NJW 2013, 1058, 1063).


Entscheidung

22. BGH 4 StR 389/13 – Beschluss vom 22. Oktober 2013 (LG Halle)

Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit zum Schutz der Privatsphäre (Zeitpunkt der Antragsstellung; Information der Verfahrensbeteiligten).

§ 171b GVG a.F.; § 174 Abs. 2, Abs. 3 GVG

1. Der Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit zum Schutze der Intimsphäre gemäß § 171b Abs. 2 GVG a.F. kann vom Zeugen auch außerhalb der Hauptverhandlung gestellt werden.

2. Allerdings ergibt sich aus dem Regelungszusammenhang von § 171b Abs. 1 und 2 GVG a.F. und § 174 Abs. 1 Satz 2 und 3 GVG, dass alle Verfahrensbeteiligten sowie die Zuhörer im Gerichtssaal in der Lage sein müssen, den Ausschlussgrund eindeutig zu erkennen (vgl. BGHSt 45, 117, 119 f.).


Entscheidung

12. BGH 2 StR 357/13 – Urteil vom 6. November 2013 (LG Frankfurt am Main)

Beweiswürdigung des Tatrichters (Bewertung entlastender Aussagen: Gesamtwürdigung der Ergebnisse der Beweisaufnahme); Anforderungen an ein freisprechendes Urteil.

§ 261 StPO; § 267 Abs. 5 StPO

Entlastende Angaben eines Angeklagten, für deren Richtigkeit es keine zureichenden Anhaltspunkte gibt und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, sind nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinzunehmen und den Feststellungen zugrunde zu legen, nur weil es für das Gegenteil keine Beweise gibt. Der Tatrichter muss sich vielmehr aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung bilden (vgl. BGHSt 34, 29, 34).


Entscheidung

15. BGH 2 StR 460/13 – Urteil vom 20. November 2013 (LG Mühlhausen)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an ein freisprechendes Urteil).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 5 StPO

Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist das durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Ein Urteil kann indes keinen Bestand haben, wenn die Beweiswürdigung Rechtsfehler aufweist. Das ist etwa der Fall, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht berücksichtigt oder nahe liegende Schlussfolgerungen nicht erörtert werden, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden (st. Rspr.). Der Tatrichter ist gehalten, die Gründe für den Freispruch so vollständig und genau zu erörtern, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, an Hand der Urteilsgründe zu prüfen, ob der Freispruch auf rechtsfehlerfreien Erwägungen beruht. Insbesondere muss er sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinandersetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen (vgl. BGH NJW 2008, 2792, 2793).


Entscheidung

21. BGH 4 StR 368/13 – Beschluss vom 22. Oktober 2013 (LG Magdeburg)

Adhäsionsverfahren (Zeitpunkt der Stellung des Adhäsionsantrags; Begründung des Antrags).

§ 404 Abs. 1 StPO

Gemäß § 404 Abs. 1 Satz 1 StPO kann der Adhäsionsantrag nach Beginn der Schlussvorträge, die dem den Rechtszug abschließenden Urteil vorausgehen, nicht mehr gestellt werden. Diese Präklusion greift jedoch nicht ein, wenn das Gericht erneut in die Beweisaufnahme eingetreten ist; es ist stets auf den Beginn der letzten Schlussvorträge abzustellen. Der Zweck der Regelung in § 404 Abs. 1 Satz 1 StPO ist, dass der Staatsanwalt Gelegenheit haben muss, zu dem geltend gemachten vermögensrechtlichen Anspruch des Verletzten Stellung zu beziehen (vgl. BGH NStZ 2009, 566, 567).


Entscheidung

18. BGH 4 StR 242/13 – Urteil vom 21. November 2013 (LG Halle)

Anforderungen an ein freisprechendes Urteil (Feststellungen zu Leben und Persönlichkeit des Angeklagten); Hehlerei (Anforderungen an den subjektiven Tatbestand: bedingter Vorsatz; Wahlfeststellung bei Erpressung).

§ 267 Abs. 5 Satz 1 StPO; § 259 Abs. 1 StGB; § 253 StGB; Vor § 1 StGB

Auch bei freisprechenden Urteilen ist der Tatrichter aus sachlich-rechtlichen Gründen zumindest dann zu Feststellungen über Werdegang, Vorleben und Persönlichkeit des Angeklagten verpflichtet, wenn diese für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können und deshalb zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler hin notwendig sind (vgl. BGH NStZ 2000, 91).