HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2014
15. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1. BVerfG 2 BvR 1579/11 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 5. November 2013 (BGH)

Rechtsstaatsprinzip; Recht auf ein faires Verfahren (Rechtsfolgen einer fehlenden Belehrung über die Rechte aus dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen; Recht auf konsularischen Beistand; verfassungsrechtliche Pflicht zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs; umfassende Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs; „review and reconsideration“; Beweisverwertungsverbot; Abwägungslehre; relativer Revisionsgrund; Beruhensprüfung; Vollstreckungslösung).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK; § 136 StPO; § 137 StPO; § 337 StPO, § 344 Abs. 2 StPO; Art. 6 EMRK

1. Aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes sowie aus der Gesetzesbindung der Gerichte ergibt sich deren Verpflichtung, die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes (IGH) auf dem Gebiet des Konsularrechts zu berücksichtigen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, wobei nur eine erkennbar fehlerhafte Rezeption einen Verfassungsverstoß begründet (Folgeentscheidung zu BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a. – [= HRRS 2006 Nr. 726] sowie BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a. – [= HRRS 2010 Nr. 779]).

2. Die Missachtung der verfassungsrechtlichen Berücksichtigungspflicht begründet im Strafprozess regelmäßig einen Verstoß gegen das Grundrecht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, welches auch durch völker-

vertragsrechtliche Vorschriften ausgestaltet wird, sofern diese hinreichend bestimmt („self-executing“) sind.

3. Es entspricht den Vorgaben des IGH zur Auslegung des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK, wenn eine strafgerichtliche Entscheidung (hier: BGH, Beschluss vom 7. Juni 2011 – 4 StR 643/10 – [= HRRS 2011 Nr. 975]) einen Verstoß gegen die Pflicht zur Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand als relativen Revisionsgrund anerkennt, der eine umfassende Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs („review and reconsideration“) eröffnet.

4. Allerdings darf die Revisionsentscheidung von einer Beruhensprüfung in dem Sinne abhängig gemacht werden, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen unterbliebener Belehrung und einem dem Beschuldigten entstandenen Nachteil festgestellt werden muss.

5. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn eine Revisionsentscheidung bei einem Verstoß gegen die konsularische Belehrungspflicht nicht von einem zwingenden Beweisverwertungsverbot ausgeht, sondern eine Abwägung der im Rechtsstaatsprinzip angelegten gegenläufigen strafverfahrensrechtlichen Gebote und Ziele vornimmt („Abwägungslehre“). Dabei ist es nicht geboten, die Abwesenheit eines Verteidigers bei einer polizeilichen Vernehmung zu berücksichtigen.

6. Die Nichtgewährung einer vollstreckungsrechtlichen Kompensation für einen Verstoß gegen die konsularische Belehrungspflicht kann den Beschuldigten von vornherein nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzen, weil nach der Rechtsprechung des IGH eine umfassende Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs zu ermöglichen ist, so dass eine Kompensation keine angemessene Wiedergutmachung darstellen würde.