HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2013
14. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

294. BGH 1 StR 93/11 – Beschluss vom 10. Januar 2013 (LG Deggendorf)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; Vergewaltigung; Vorbehalt der Sicherungsverwahrung (Gefahr schwerer Sexualdelikte: regelmäßiges Schwerwiegen von Delikten gegen Kinder; Wahrscheinlichkeitsprognose).

§ 176a Abs. 1 StGB; § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 66a StGB

1. Ob Gewalttaten schwerwiegend sind, wird sich – unbeschadet der letztlich stets entscheidenden Umstände des Einzelfalls – regelmäßig aus einer Gesamtschau ergeben, die insbesondere das Motiv der Gewaltanwendung, ihre Art und ihr Maß sowie die durch sie verursachten oder zumindest konkret drohenden physischen und/oder psychischen Folgen beim Opfer umfasst. Wendet der Täter Gewalt an, um den sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willen des Opfers zu brechen, insbesondere auch, um in dessen Körper einzudringen (Vergewaltigung), wird in aller Regel eine Tat vorliegen, die so schwer wiegt, dass sie nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG NJW 2011, 1931 ff.) Grundlage einer Sicherungsverwahrung sein kann.

2. Seelische Schäden bei kindlichen Opfern sexuellen Missbrauchs liegen zwar meist nahe, sie sind aber nicht immer ohne weiteres leicht festzustellen. Ob eine Sexualstraftat zum Nachteil eines Kindes im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schwer wiegt, ist daher jedenfalls regelmäßig im Wesentlichen nach dem Tatbild zu beurteilen.

3. Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern lassen regelmäßig eine schwerwiegende Beeinträchtigung von deren sexueller Entwicklung besorgen. Auch wenn sie – wie häufig – statt mit Gewalt durch den Missbrauch von – etwa erzieherischen – Einwirkungsmöglichkeiten, letztlich meist unter Ausnutzung altersbedingt noch unzureichender Verstandes- bzw. Widerstandskräfte begangen werden, weisen sie einen erheblichen Schuld- und Unrechtsgehalt auf. Dementsprechend wäre es rechtsfehlerhaft, von Sicherungsverwahrung trotz eines Hanges zum sexuellen Missbrauch von Kindern maßgeblich deswegen abzusehen, weil gewaltsamer Missbrauch nicht zu befürchten sei.


Entscheidung

234. BGH 3 StR 330/12 – Urteil vom 10. Januar 2013 (LG Stade)

Unzulässigkeit der Anordnung von Sicherungsverwahrung neben der lebenslangen Freiheitsstrafe (einschränkende verfassungskonforme Auslegung der verfassungswidrigen Vorschrift über die Sicherungsverwahrung; Unerlässlichkeit; strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung)

§ 66 StGB; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 GG; Art. 5 EMRK

Die Anordnung der Sicherungsverwahrung erscheint neben der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe im Interesse der öffentlichen Sicherheit nicht als unabdingbar. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung zwar auch neben lebenslanger Freiheitsstrafe möglich. Gemäß der Entscheidung BVerfG HRRS 2011 Nr. 488 ist § 66 StGB aber mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG unvereinbar und bis zu einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Mai 2013, während der Übergangszeit nur anwendbar, soweit der Eingriff unerlässlich ist, um die Ordnung des betroffenen Lebensbereichs aufrechtzuerhalten. Der Senat schließt sich der Rechtsprechung des 2. Strafsenats (BGH HRRS 2012 Nr. 802) an, wonach im Rahmen der nach § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB zu treffenden Ermessensentscheidung ein Nebeneinander von lebenslanger Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung nicht unerlässlich ist.


Entscheidung

265. BGH 2 StR 170/12 – Beschluss vom 6. Dezember 2012 (LG Erfurt)

Strafmilderung bei Totschlag durch Unterlassen (minder schwerer Fall des Totschlags).

§ 212 StGB; § 213 StGB; § 13 Abs. 2 StGB; § 49 Abs. 1 StGB

Die Frage, ob von der Möglichkeit einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 13 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB Gebrauch zu machen ist, muss das Tatgericht in einer wertenden Gesamtwürdigung vor allem der wesentlichen unterlassungsbezogenen Gesichtspunkte (hier: fehlende Überwindung einer Antriebshemmung aufgrund möglicher Depression) prüfen und seine Auffassung in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise darlegen.


Entscheidung

242. BGH 5 StR 27/13 – Beschluss vom 12. Februar 2013 (LG Berlin)

Voraussetzungen der Aufklärungshilfe.

§ 46b StGB

Es kann für eine Aufklärungshilfe i.S.d. § 46 Abs. 1 Nr. 1 StGB genügen, dass die Angaben des Täters eine sicherere Grundlage für den Nachweis der betreffenden Tat der belasteten Person schaffen, also dessen Überführung erleichtern. Das kann etwa dadurch geschehen, dass den Ermittlungsbehörden bereits vorliegende Erkenntnisse durch die Angaben des Täters weiter bestätigt werden (ebenso bereits zu § 31 BtMG BGH HRRS 2005 Nr. 202 m.w.N.).


Entscheidung

310. BGH 4 StR 520/12 – Beschluss vom 16. Januar 2013 (LG Stuttgart)

Anordnung der Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenhaus (zeitliche Anforderungen an den schuldausschließenden Zustand; Gefährlichkeitsprognose: wertende Gesamtbetrachtung, schwere Störung des Rechtsfriedens).

§ 63 StGB; § 20 StGB

1. Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Taten begehen wird, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (vgl. BGH, NStZ-RR 2011, 240, 241). Ob eine zu erwartende Straftat zu einer schweren Störung des Rechtsfriedens führt, muss anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden werden (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 202).

2. Sind die zu erwartenden Delikte nicht wenigstens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen, ist die Annahme einer schweren Störung des Rechtsfriedens nur in Ausnahmefällen begründbar (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 240, 241). Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln.


Entscheidung

243. BGH 5 StR 378/12 – Urteil vom 22. Januar 2013 (LG Görlitz)

Rechtsfehlerhaft versäumte Erörterung der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; unzutreffende beweiswürdigende Erwägungen hinsichtlich der Beteiligung am Mordversuch.

§ 64 StGB; § 261 StPO; § 211 StGB; § 23 StGB

Bei langjährigem Drogenkonsum des Angeklagten sowie bereits mehreren erfolglosen Entzugsmaßnahmen und einer Tatbegehung zur Beschaffung von Drogengeld ist das Tatgericht gehalten, sich mit der Frage der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Einzelnen auseinanderzusetzen. Das gilt auch, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB nicht besteht (namentlich mehrere erfolglose Behandlungen), sowie dafür, dass das Ermessen unter Umständen im negativen Sinne ausgeübt werden kann (womöglich fehlende deutsche Sprachkenntnisse des Angeklagten).