HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Jul./Aug. 2010
11. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Schutz vor staatlich veranlasstem Zwang und inszenierter Täuschung

Anmerkung zu BGH v. 18.5.2010 – 5 StR 51/10 = HRRS 2010 Nr. 573

Von Rechtsanwalt Privatdozent Dr. Joachim Kretschmer, Freie Universität Berlin

Verlässt den BGH der Mut? Oder: Von BGH v. 28.4.1987 – 5 StR 666/86[1] über BGH v. 26.7.2007 – 3 StR 104/07[2] zu BGH v. 27.1.2009 – 4 StR 296/08[3] und mit der vorliegenden Entscheidung v. 18.5.2010 -5 StR 51/10 wieder zurück. Und dazwischen oder darüber steht der EGMR mit seinem Urteil v. 5.11.2002 – Allan vs. Großbritannien.[4]

1. Sachverhalt

Gegenstand des mit der Revision erfolgreich angegriffenen Urteils ist eine eher seltene Verurteilung nach § 30 II StGB. Der Angeklagte wurde wegen der Annahme des Erbietens zur Begehung eines Mordes zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.

Die Ehe des Angeklagten mit seiner Ehefrau entwickelte sich über die Jahre zu einer tiefen gegenseitigen Abneigung. Zwischen 1998 und 2005 bot der Angeklagte mehreren Personen Geld, um sie dazu zu bewegen, seine Frau zu töten. Er wurde deswegen am 1.3.2006 wegen versuchter Anstiftung zum Mord zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Während dieser Strafhaft geschah Folgendes: Der Angeklagte traf im Strafvollzug den S. Dieser gab dem Angeklagten gegenüber mit seinem teilweise erfundenen kriminellen Hintergrund – Fremdenlegion, Rockermilieu – an. S. unterbreitete dem Angeklagten in der Zeit von Anfang März bis zum 20.3.2007 das Angebot, für 150. 000 EUR durch seine Leute außerhalb der Haftanstalt dessen Ehefrau töten zu lassen. Der Angeklagte nahm dieses Angebot ernst. Noch am 20. 3. 2007 berichtete S. dem für ihn zuständigen Gruppenleiter in der JVA, dass ihn ein anderer Gefangener um die Vermittlung eines Auftragsmordes gebeten hätte. Am 22. 3. erklärte S. sich zur Zusammenarbeit mit der Polizei bereit und "verpetzte" den Angeklagten namentlich.

In der Folgezeit ergriffen die Ermittlungsbehörden verschiedene Ermittlungsmaßnahmen, um im letzten Schritt folgendermaßen vorzugehen: "Zur Verbesserung der bisherigen Beweislage ist von hier aus vorgesehen, dass ein nicht offen ermittelnder Polizeibeamter den Beschuldigten in der JVA Charlottenburg besucht (Besucherraum) und diesem unter der Vorgabe einer Legende zwei Bilder (eines mit der Ehefrau des Beschuldigten in ihrem Pkw sitzend und eines mit einer Frau vergleichbaren Alters, in bauähnlichem Pkw sitzend) vorlegt, um von diesem zu erfahren, welche der beiden Frauen die zu tötende sei." Dieses Vorgehen wurde von Staatsanwaltschaft und Polizei ohne Einbezug des Ermittlungsrichters vereinbart. Warum wohl? Am 24.5.2007 suchte POK H. den Angeklagten unter einem Vorwand im Besuchsraum der JVA auf. Wie es anschaulich im Urteil heißt, hätte dieser auf Grund seiner langen Haare und Tätowierungen dem äußeren Erscheinungsbild nach glaubhaft als Rocker auftreten können. Dieser stellte sich dem Angeklagten als "Micha" vor und erklärte, dass er von S. käme. Er behauptete ihm gegenüber, dass es Probleme mit der Identifizierung der Ehefrau gebe. Er legte ihm die beiden Fotos vor. "Micha" = POK H. erklärte, dass vor den beiden Häusern der beiden abgebildeten Frauen seine Männer stünden, und fragte den Angeklagten, ob er seine Frau anhand körperlicher Merkmale beschreiben könne. H. erklärte weiterhin, dass notfalls auch beide Frauen weggemacht werden könnten. Der Angeklagte reagierte aufgebracht und ablehnend. Schließlich fragte H. ihn, ob es denn richtig sei, dass sie seine Frau wegmachen

sollten. Darauf nickte der Angeklagte. Um die Verwertung dieses "Gesprächs" zwischen dem Angeklagten "Micha" = POK H. im Strafverfahren wegen § 30 II StGB geht es.

2. Die Selbstbelastungsfreiheit in der Rechtsprechung des BGH und des EGMR

"Ein verdeckter Ermittler darf einen Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat, nicht unter Ausnutzung eines geschaffenen Vertrauensverhältnisses beharrlich zu einer Aussage drängen und ihm in einer vernehmungsähnlichen Befragung Äußerungen zum Tatgeschehen entlocken. Solchermaßen erlangte Angaben unterliegen einem Beweisverwertungsverbot." Der BGH stellt klar, dass eine solche Beweisgewinnung gegen den Grundsatz, dass niemand verpflichtet ist, sich selbst zu belasten, verstößt. Es ist der 4. Senat in seiner Entscheidung vom 27.1.2009, der das so deutlich sagt.[5] An dieser Entscheidung ist wichtig, dass der konkrete Sachverhalt losgelöst von jeder Haftsituation war. Weder saß die damals Beschuldigte in Strafhaft noch bestand Untersuchungshaft. Das entscheidende Kriterium war, dass der VE die Beschuldigte im Rahmen eines vorgetäuschten –lang andauernden-Vertrauensverhältnisses beharrlich zu einer Aussage drängte und eine Aussage entlockte. Nicht Zwang stand im Vordergrund, sondern Täuschung durch gezieltes Entlocken selbstbelastender Angaben.

In der vorliegenden Entscheidung des 5. Senats liegt der Begründungsschwerpunkt auf dem Zwangscharakter. Grundlage der Entscheidung ist das erneute Bekenntnis des BGH (Rn. 16) zum formalen Vernehmungsbegriff.[6] § 136 StPO ist demzufolge allein auf "offene" Vernehmungen anwendbar und will lediglich sicherstellen, dass der Beschuldigte vor der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht bewahrt wird, zu der er möglicherweise eben durch die Konfrontation mit dem amtlichen Auskunftsverlangen veranlasst werden könnte. Heimliches Ausforschen ist keine Vernehmung. Der 5. Senat sieht das "Gespräch" am 24.5.2007 als ein verdecktes Verhör eines Beschuldigten durch einen nicht offenen ermittelnden Polizeibeamten mit dem Ziel, eine selbstbelastende Äußerung des noch nicht förmlich vernommenen Beschuldigten herbeizuführen (Rn. 13). Im Unterschied zu verdeckten Ermittlern (VE) treten nichtöffentlich ermittelnde Polizeibeamte (NOEP) nicht auf Dauer unter einer Legende auf, sondern –wie in der vorliegenden Entscheidung- nur kurzfristig.[7] Vorliegend spricht sich der BGH für eine Gleichbehandlung beider Ermittlungspersonen aus. Das ist richtig.

Insgesamt verstieß nach Ansicht des 5. Senats das Vorgehen gegen das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren unter Berücksichtigung des Grundsatzes, dass niemand verpflichtet ist, zu seiner eigenen Überführung beizutragen, insbesondere sich selbst zu belasten (Rn. 21). In den Vordergrund tritt aber die Haftsituation des Angeklagten (Rn. 22): "Die Aushorchung des Angeklagten unter Ausnutzung der besonderen Situation seiner Inhaftierung begründet von vornherein Bedenken gegen die Zulässigkeit der heimlichen Ermittlungsmaßnahme. Nicht weniger als in anderen von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beanstandeten Fällen heimlicher Informationsgewinnung unter Ausnutzung begleitender belastender Haftsituationen liegen auch hier Umstände vor, die zur Bewertung des Vorgehens als unfaire Vernachlässigung der zu achtenden Selbstbelastungsfreiheit führt." In einer nicht ausdrücklich ausgesprochenen Einschränkung des Grundsatzes von nemo-tenetur-se-ipsum-accusare sieht der 5. Strafsenat durch die Anwendung von Zwang den Kernbereich der Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten als verletzt an (Rn. 23). Wenn er darauf hinweist, dass der VE nicht befugt ist, den Beschuldigten zu selbstbelastenden Äußerungen zu drängen (Rn. 23), so macht der 5. Senat es sich doch zu einfach, wenn er im Folgenden das Verhalten der Ermittlungspersonen als Nötigung nach § 240 StGB versteht. POK H. weist als "Micha" darauf hin, dass notfalls beide Frauen auf den dem Angeklagten vorgelegten Fotos getötet würden, falls er seine Ehefrau nicht identifiziere. Diesen Hinweis, eine unbeteiligte Dritte könne zu Tode kommen, stellt nach Ansicht des BGH eine Drohung mit einem empfindlichen Übel im Sinne des § 240 I StGB dar (Rn. 24). Es liege auf der Hand, dass –bei fortgesetzter Weigerung der Identifizierung des "Tatopfers"– eine dem Angeklagten bevorstehende Verantwortlichkeit für ein zweites, nicht gewolltes Tötungsverbrechen diesem als ein gewichtiger Nachteil erscheinen müsste. Auf der Hand liegt jedoch gar nichts! Angenommen, "Micha" würde die Drohung wahr machen. Würde sich der Anstifter dann wegen Anstiftung zu zwei Tötungen strafbar gemacht haben? Denn darin scheint ja wohl das angedrohte empfindliche Übel nach dem BGH zu liegen. Der Angeklagte will aber allein die Tötung seiner Ehefrau. Das macht er auch deutlich. Er will nur eine Tötung. Spricht nicht alles für einen Exzess, wenn die Haupttäter, um sicher zu gehen, auch noch eine andere Frau und vielleicht noch weitere töten? Darüber kann man gewiss streiten, aber das zeigt, dass entgegen dem 5. Senat gar nichts auf der Hand liegt.

Auf der Grundlage einer Nötigung nach § 240 StGB nimmt der 5. Senat konsequenterweise ein Beweisverwertungsverbot an. Der BGH (Rn. 29): "Der hier vorliegende Zwang zur Abgabe selbstbelastender Äußerungen im Rahmen eines verdeckten Verhörs wiegt nicht leichter als das Entlocken solcher Äußerungen unter Ausnutzung einer Vertrauensstellung nach angekündigter Inanspruchnahme des Schweigerechts oder die Verlegung eines Aushorchers in die Zelle einer Untersuchungsgefangenen." Es sind dann die eingangs erwähnten Entscheidungen, die als Beleg angeführt werden, und dazu die frühere Entscheidung im sog. Polizeispitzel-Fall (BGHSt 34, 362). Auffällig ist, dass in diesen mehrheitlich die Haftsituation und Zwang als kennzeichnend für den Eingriff in den Kernbereich der grundrechtlich und konventionsrechtlich geschützten Selbstbelastungsfreiheit angesehen werden. In der sog. Mallorca-Entscheidung[8] des 3. Senats befand sich der Beschuldigte gleichermaßen in anderer Sache in Strafhaft. Wegen eines Tötungsverdachtes

– Tatort war Mallorca - wurde ein VE auf den Beschuldigten angesetzt. Dieser baute zu diesem ein Vertrauensverhältnis auf, besuchte ihn oftmals in der JVA und war dessen einzige Kontaktperson außerhalb dieser. Während eines Hafturlaubs, den der Beschuldigte in einer ihm vom VE zur Verfügung gestellten Wohnung verbrachte, räumte er seine Täterschaft ein. Der 3. Senat[9] stellt den Konflikt im Inhalt des nemo-tenetur-Grundsatzes deutlich klar: "Nach der Rechtsprechung des BGH schützt er nur vor Zwang; der EGMR dehnt ihn auf alle Fälle der Beeinträchtigung der Aussagefreiheit aus." Auch der 3. Senat wagt noch nicht den großen Schritt. Er stellt klar, dass der VE dem Angeklagten durch beharrliches Fragen und unter Hinweis auf das vorgetäuschte Vertrauensverhältnis selbstbelastende Äußerungen entlockt hat, zu denen er bei einer förmlichen Vernehmung nicht bereit gewesen wäre. Vortäuschen und Entlocken sprechen für eine Täuschung und weniger für Zwang. Aber: "Die Missachtung des Rechts des Angeklagten, selbst frei zu entscheiden, ob er aussagen oder schweigen wollte, wiegt dabei hier umso schwerer, als die Strafverfolgungsbehörden gezielt die besonderen Belastungen der Haftsituation ausnutzten, um ihm Täterwissen zu entlocken." Auch wenn die Befragung im sog. Mallorca-Fall außerhalb der JVA während eines Hafturlaubs stattfand, war nach Ansicht des 3. Senats die Entscheidungsfreiheit des Angeklagten so sehr eingeschränkt, dass seine Situation der besonderen Zwangssituation eines Untersuchungshäftlings gleichkam, dem ein Polizeispitzel in die Zelle gelegt wird.

Es ist stets[10] vergleichend die frühere Entscheidung zum Polizeispitzel-Fall, die als Beleg angeführt wird und die zu einer direkten oder auch nur indirekten Beschränkung des nemo-tenetur-Schutzes auf Zwang führt. Diese Entscheidung aus dem Jahr 1987[11] hat noch immer eine Art Leitcharakter: Der Beschuldigte befand sich damals zu Recht in Untersuchungshaft. Die Ermittlungsbehörden setzten gezielt einen Mitgefangenen ein, um den Beschuldigten unter Vortäuschung eines Vertrauensverhältnisses –gemeinsame Fluchtpläne, gemeinsame Straftaten- aushorchen zu lassen. Die beiden entscheidenden Sätze aus diesem Urteil lauten: "Das an sich unzulässige Zwangsmittel der U-Haft wurde so zu einem prozessordnungswidrigen Zweck ausgenutzt. Das ist eine Zwangswirkung auf den Gefangenen, die vom Strafverfahrensrecht nicht mehr gedeckt und deshalb unzulässig ist." In diesem Polizeispitzel-Fall stellt der 5. Senat darauf ab, dass die Strafverfolgungsorgane die Freiheit der Willensentschließung des Angeklagten durch unzulässigen Zwang beeinträchtigt haben. Nur leider lag der BGH mit der Annahme von Zwang falsch. Die U-Haft war in diesem Fall rechtmäßig angeordnet wie auch in den anderen vergleichbaren Fällen die Haftsituation rechtmäßig war. Nicht Zwang veranlasste den Beschuldigten in diesem und in den anderen Fällen zu seinen selbstbelastenden Angaben gegenüber dem Mitgefangenen (BGHSt 34, 362) oder dem VE (BGHSt 51, 11 und BGH NStZ 2009, 343) oder wie vorliegend dem NOEP. Stets dominiert das Vortäuschen eines persönlichen Vertrauensverhältnisses. Stets werden dem Beschuldigten selbstbelastende Angaben entlockt, wenn er auch beharrlich bedrängt wird. Bei einer staatlicherseits aktiv arrangierten Bespitzelung eines U-Haftinsassen durch einen Mitgefangenen handelt es sich um einen Fall der Täuschung.[12] Desgleichen dominiert auch vorliegend das Täuschungselement. "Micha" täuscht dem Angeklagten seine verbrecherische Rolle vor, um ihm eine Selbstbelastung ihm gegenüber als POK H. zu entlocken. Es handelt sich um eine staatlicherseits veranlasste irrtumsbedingte Selbstbelastung.

Und das steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, dessen maßgebliche Entscheidung v. 5.11.2002 – Allan v. Großbritannien[13], das in den genannten Entscheidungen des BGH stets genannt wird, sich zunehmend durchsetzt. Der dortige Sachverhalt entspricht der Konstellation des "Polizeispitzel-Falls" in BGHSt 34, 362. Der EGMR: "Der Anwendungsbereich des Schweigerechts und des Schutzes vor Selbstbelastung ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Beschuldigte Zwang widerstehen musste oder in denen der Wille des Beschuldigten in irgendeiner Weise direkt überwunden wurde. Das Recht, das zum Kernbereich des fairen Verfahrens gehört, dient prinzipiell der Freiheit einer verdächtigten Person zu entscheiden, ob sie in Polizeibefragungen aussagen will oder schweigen will." Und dann heißt es weiter, dass eine solche freie Entscheidung unterlaufen wird, wenn die Behörden in einem Fall, in dem der Beschuldigte, der sich in der Vernehmung für das Schweigen entschieden hat, eine Täuschung anwenden, um dem Beschuldigten Geständnisse oder andere belastende Äußerungen zu entlocken, die sie in der Vernehmung nicht erlangen konnten. Es sind zwei maßgebende Aspekte, die nach dem EGMR für die Verletzung des Schweigerechts nach Art. 6 EMRK sprechen: (1) Das Handeln des Informanten muss den Strafverfolgungsorganen zuzurechnen sein. (2) Der Informant muss dem Beschuldigten die Äußerung entlockt haben. Das passt auf den vorliegenden Fall. Bedenklicherweise stellt auch der EGMR auf den psychologischen Druck ab, der die Freiwilligkeit der Äußerung des Beschuldigten eingeschränkt hat. Auch er löst sich im Einzelfall nicht gänzlich von der Haftsituation und von einem geforderten Einfluss von Druck –nicht Zwang-, der den Beschuldigten anfällig für Täuschungen macht. Auf dieser Linie liegt auch das aktuellste Urteil des EGMR v. 21.1.2009 – Bykov vs. Russland,[14] das im konkreten Einzelfall eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit –bedauerlicherweise- mangels einer angenommenen Drucksituation verneint.

3. Schutz vor Zwang und Täuschung

Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit stellt ein Grundprinzip des rechtsstaatlichen Strafverfahrens dar. Eine grundrechtliche Verankerung findet sich in Art. 1 und

2 I GG.[15] Zudem wird der Grundsatz in Art. 6 EMRK zum Kernbereich des Rechts auf ein faires Verfahren gezählt.[16] Der BGH:[17] "Die Selbstbelastungsfreiheit zählt zu den Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Sie hat in der Strafprozessordnung in den §§ 55, 136 I, 136 a I und 3, § 163 a III sowie § 243 IV Satz 1 Niederschlag gefunden und in Art. 14 III Buchst. g des Internationalen Paktes vom 19. 12. 1966 über bürgerliche und politische Rechte in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zu diesem Pakt vom 15. 11. 1973 eine ausdrückliche gesetzliche Verankerung erfahren. Sie ist verfassungsrechtlich abgesichert durch die gem. Art. 1, 2 I GG garantierten Grundrechte auf Achtung der Menschenwürde sowie der freien Entfaltung der Persönlichkeit und gehört zum Kernbereich des von Art. 6 MRK garantierten Rechts auf ein faires Strafverfahrens." Dieser Herleitung des 3. Senats stimmt vorliegend der 5. Senat (Rn. 21) zu. Die Selbstbelastungsfreiheit entspricht der prozessualen Stellung des Beschuldigten im Strafprozess. Zwang wie auch Täuschung können gleichermaßen die Willensfreiheit und so auch die Selbstbelastungsfreiheit beeinträchtigen. Zwang wie auch Täuschung können einen Menschen beherrschen und ihn zum willenlosen Objekt des Zwingenden und Täuschenden machen. Das ist materiell-rechtlich für die Täterform der mittelbaren Täterschaft anerkannt – Irrtums- und Nötigungsherrschaft. Prozessual beweist das § 136a StPO. Das verkennen diejenigen[18], die den Schutz vor Irrtum und den Schutz vor Zwang unterschiedlich bewerten wollen. Alle Senate[19] betonen übereinstimmend, dass es unbedenklich ist, wenn der VE das zwischen ihm und dem Beschuldigten aufgebaute Vertrauensverhältnis dazu nutzt, um Informationen aufzunehmen, die ihm der oder die Beschuldigte von sich aus gegeben hat. In Abgrenzung dazu steht die vernehmungsähnliche Situation oder die Frage, ob das "Gespräch" als "funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung" zu werten ist?[20] Die näheren Umstände des Einzelfalls sollen entscheiden. Auf dieser Linie liegt auch der EGMR.[21] Auch er grenzt ab zwischen spontanen und nicht veranlassten Eingeständnissen, die der Beschuldigte freiwillig macht, und Eingeständnissen, die durch beharrliches Fragen unter Lenkung der Polizei gemacht werden. Was ein Beschuldigter aus freien Stücken seiner Ehefrau gegenüber in einem Besuchsraum einer JVA äußert, weil er sich unbeobachtet fühlt, darf durch heimliche Ermittlungsmaßnahmen "abgeschöpft" werden.[22] Es war in diesem Fall ebenso, dass die Ehefrau kein Agent des Staates war. Im dortigen Fall veranlasste eine Gesamtschau aller Umstände den BGH, es war der 1. Senat, jedoch zu Recht dazu, einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren anzunehmen.

Bei der staatlich inszenierten Gesprächssituation, die zu den selbstbelastenden Angaben führt, handelt es sich dagegen nicht um ein Privatgespräch. Der Beschuldigte ist in der Situation nicht frei in seiner Entscheidung, was er wem sagt. Zwang kann er gegebenenfalls widerstehen. Eine Täuschung, die er nicht durchschaut, macht ihn zum fremdbestimmten Informationsobjekt der Strafverfolgungsorgane. Zwang ist erkennbar, Täuschung nicht. Es ist nicht das allgemeine Lebensrisiko eines Privatgesprächs, das sich im "Petzen" verwirklicht. Es fehlt durch die staatliche Inszenierung der Privatcharakter des Gesprächs. Die private Geschäftsgrundlage fehlt, wenn die strafprozessuale Zielsetzung verschleiert wird. Die Eigenverantwortlichkeit[23] des Handelns macht die Angaben des Beschuldigten nicht verwertbar, da das allgemeine Gesprächsrisiko durch die staatliche Inszenierung manipuliert wurde. Die Grenze verläuft zwischen einem Privatgespräch, dessen eigenverantwortlicher Inhalt abgeschöpft wird, und dem beharrlichen Ausforschen eines nur vorgetäuschten Privatgesprächs. Die Dauer des Einsatzes und die Dauer des aufgebauten und vorgetäuschten Vertrauensverhältnisses können nicht entscheidend sein. In der Entscheidung des 4. Senats dauerte das Vertrauensverhältnis fast 1½ Jahre an. Es bestand aber keinerlei Haftsituation. Im vorliegenden Fall des 5. Senats dauert die Inszenierung wohl nur wenige Minuten während des Besuchs in der JVA. In jedem Fall aber ist dem Staat die Inszenierung eines vorgetäuschten Privatgesprächs als vernehmungsähnliche Situation zuzurechnen. Lösen muss man sich auch von dem Postulat einer Drucksituation, die den Beschuldigten anfällig für Täuschungen macht. Dieses Erfordernis als Haftsituation –so bei dem BGH im sog. Mallorca-Fall[24] wie auch der EGMR in Allan vs. Großbritannien[25]- überzeugt nicht, wenn eine staatliche Inszenierung als gravierende Täuschung den Beschuldigten zu einem fremdbestimmten Objekt in seiner selbstbelastenden Äußerung macht – so gegen den EGMR auch im Fall Bykov vs. Russland.[26] Da ist der 4. Strafsenat[27] mit seiner Entscheidung bisher am mutigsten, da bei dem dortigen Sachverhalt keinerlei Haftsituation bestand. Vielleicht war er aber –unfreiwillig- nur so mutig, da nach Angaben des BGH das Urteil nicht auf den unverwertbaren Angaben beruhte. Sein Mut hat den BGH also nichts gekostet!

Geschützt ist die Selbstbelastungsfreiheit. Dieser Schutz besteht gegenüber dem strafverfolgenden Staat. Was man einem Mitgefangenen, einem VE oder einem sonstigen Gesprächspartner freiwillig mitteilt, ist verwertbar, da sich beim "Petzen" das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht. Wird der Mitgefangene oder ein anderer jedoch staatlicherseits gezielt auf einen Beschuldigten zum Aushorchen angesetzt, bedient sich der Staat dieses "Spitzels", wenn er nicht gar selbst als "Micha" wie vorliegend als "Spitzel" auftritt. In der Formulierung des EGMR handelt der Informant als Agent des Staates. Das ist dann

die so oft erwähnte vernehmungsähnliche Situation – das funktionale Äquivalent einer Vernehmung zur Umgehung einer solchen. Zwang wie auch Täuschung nehmen die Freiheit. Der nemo-tenetur-Grundsatz erfasst daher auch die Fälle staatlich manipulierter irrtumsbedingter Selbstbelastung.[28] Nicht entscheidend[29] ist, ob sich ein Beschuldigter bereits auf sein Schweigerecht berufen hat, mag dies auch in den meisten Entscheidungen des BGH[30] so formuliert sein. Das zeigt dann auch die vorliegende Entscheidung. Würde man in diesem Punkt differenzieren, würde das geradezu eine Umgehung provozieren.

Konsequenz einer Verletzung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit ist nach allem ein Beweisverwertungsverbot.[31] Das ist ohne jede Abwägung zwingende Folge, gehört diese Freiheit doch zum erwähnten Kernbereich eines grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Strafverfahrens.

4. Schlussbemerkung

In einem rechtsstaatlichen Strafverfahren, das die Grundrechte der Verfahrensbeteiligten und insbesondere die des Beschuldigten als freiheitliches und eigenverantwortliches Prozesssubjekt achtet, darf der strafverfolgende Staat bei aller erlaubten Heimlichkeit nicht zu Mitteln des Täuschens, Lügens und Manipulieren greifen, welche die eigenverantwortliche Freiheit des Beschuldigten missachten. Zwang und Täuschung nehmen dem Beschuldigten die Freiheit. Das gilt materiell-rechtlich und das gilt strafprozessual.


[1] Siehe BGHSt 34, 362 = NStZ 1989, 33.

[2] Siehe BGHSt 52, 11 = NStZ 2007, 714 = HRRS 2007 Nr. 676.

[3] NStZ 2009, 343 = StV 2009, 225 = HRRS 2009 Nr. 344.

[4] Nr. 48539/99, StV 2003, 257.

[5] So BGH NStZ 2009, 343.

[6] Siehe dazu Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. (2010), § 136a Rn. 4.

[7] Siehe Beulke, Strafprozessrecht, 11. Aufl. (2010), Rn. 423.

[8] Siehe BGHSt 52, 11 = NStZ 2007, 714 = HRRS 2007 Nr. 676; zustimmend: Meyer-Goßner (Fn. 6), § 136a Rn. 4a; Renzikowski JR 2008, 164; kritisch: Mitsch Jura 2008, 211, 214.

[9] Siehe BGH NStZ 2007, 714, 715.

[10] Siehe BGH v. 18.5.2010 – 5 StR 51/10, Rn. 22; BGH NStZ 2007, 714, 716.

[11] BGHSt 34, 362 = NStZ 1989, 33.

[12] So Beulke (Fn. 7), Rn. 136; HK-GS/Jäger, 1. Aufl. (2008), § 136a Rn. 16; KK/Diemer, StPO, 6. Aufl. (2008), § 136a Rn. 27; Renzikowski JR 2008, 164, 165 in Fußnote 12; Roxin NStZ-Sonderheft 2009, 41, 45.

[13] StV 2003, 257 mit Anm. Gaede.

[14] Nr. 4378/02, JR 2009, 514; dazu kritisch Gaede JR 2009, 493

[15] Siehe Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. (2009), § 25 Rn. 1.

[16] So der EGMR StV 2003, 257, 259; Roxin/Schünemann (Fn. 15), § 25 Rn. 1.

[17] Siehe BGHSt 51, 11.

[18] So Rogall NStZ 2008, 110, 112 f.

[19] Siehe BGH v. 18.5.2010 – 5 StR 51/10, Rn. 23; BGH NStZ 2009, 343; NStZ 2007, 714, 715; auch Gaede StV 2003, 260, 261; Roxin NStZ-Sonderheft 2009, 41, 45.

[20] Siehe BGH NStZ 2009, 343.

[21] Siehe StV 2003, 257, 260.

[22] Siehe BGH 53, 294 = NStZ 2009, 519; siehe dazu Geppert JK 1/2010 StPO § 100f/1a und 1b; das Urteil wird von Rogall, HRRS 2010, 289 heftig kritisiert.

[23] So aber Mitsch Jura 2008, 211, 214,

[24] Siehe NStZ 2007, 714, 716.

[25] Siehe StV 2003, 257, 260.

[26] Siehe Gaede JR 2009, 493, 497.

[27] Siehe BGH NStZ 2009, 343.

[28] So auch Gaede JR 2009, 493, 497 f.; Roxin NStZ-Sonderheft 2009, 41; Roxin/Schünemann (Fn. 15), § 24 Rn. 41.

[29] So Renzikowski JR 2008, 164, 165; Roxin NStZ-Sonderheft 2009, 41, 43; Rogall NStZ 2008, 110, 113.

[30] So BGH NStZ 2009, 343; BGHSt 52, 11 = NStZ 2007, 714

[31] Siehe BGH v. 18.5.2010 – 5 StR 51/10, Rn. 27 ff.; BGH NStZ 2007, 714, 716; Gaede StV 2003, 260, 262; Meyer-Goßner (Fn. 6), § 136a Rn. 4a; Satzger JK 1/10 StPO § 110a/3.