HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2010
11. Jahrgang
PDF-Download

IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

521. BGH 2 StR 595/09 – Urteil vom 28. April 2010 (LG Aachen)

BGHR; Recht auf den gesetzlichen Richter (unabhängiges und unparteiisches Gericht; Bekenntnis eine Schöffen zur Selbstjustiz; Bezeichnung des Verteidigers als „Spannmann“); Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen.

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 EMRK; Art. 13 EMRK; § 24 Abs. 2 StPO; § 31 Abs. 1 StPO; § 338 Nr. 3 StPO

1. Ein offenes Bekenntnis eines Schöffen zu Methoden der Selbstjustiz und zur Eintreibung von Forderungen mit Hilfe rechtswidriger Drohungen in seiner beruflichen Tätigkeit als Inkassounternehmer begründet jedenfalls dann die Besorgnis der Befangenheit, wenn eine – wenn auch nur mittelbare – Verbindung eines solchen Verhaltens zu dem Strafverfahren besteht, in dem der ehrenamtliche Richter tätig ist. (BGHR)

2. Dem Schöffen kommen in seiner Eigenschaft als zur Entscheidung berufenen Richter grundsätzlich dieselben Rechte und Pflichten zu wie den Berufsrichtern. Das Gesetz stellt daher an ehrenamtliche Richter dieselben Anforderungen der Unbefangenheit und Rechtstreue, wie sie für Berufsrichter gelten, und lässt konsequent die

Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit unter denselben Voraussetzungen wie bei jenen zu (§ 31 Abs. 1 StPO). Zu den Mindestanforderungen an die Rechtstreue und charakterliche Eignung eines Schöffen gehört es, dass er sich – namentlich in rechtlich geregelten Verfahren – dem Recht verpflichtet fühlt. Ein Schöffe, der sich offen zur Selbstjustiz und zur Durchsetzung von (angeblichen) Forderungen mittels rechtswidriger Drohungen oder Gewalt bekennt, begründet regelmäßig Zweifel an seiner Rechtstreue. (Bearbeiter)


Entscheidung

541. BGH StB 48/09 – Beschluss vom 24. November 2009 (Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs)

Überwachung der Telekommunikation; Beschlagnahme von E-Mails beim Provider (Verhältnismäßigkeit; Verfahrensbezug; Beachtung von Beschlagnahmeverboten); offene Ermittlungsmethode (zwingende Unterrichtung des Beschuldigten; keine Zurückstellung der Unterrichtung).

§ 100a StPO; § 100g StPO; § 96 TKG; § 113a TKG; § 129a StGB; § 129b StGB; § 110 StPO; § 33 StPO; § 35 StPO

1. Die Anordnung der Beschlagnahme des gesamten auf dem Mailserver des Providers gespeicherten Email-Bestandes eines Beschuldigten verstößt regelmäßig gegen das Übermaßverbot. (BGHR)

2. Zur Pflicht der Benachrichtigung des Beschuldigten über die Beschlagnahme der in seinem elektronischen Postfach gelagerten Email-Nachrichten. (BGHR)

3. Das Vorliegen der Voraussetzungen von Eingriffen, die einem Richtervorbehalt unterliegen, insbesondere des erforderlichen Tatverdachts, hat der zuständige Ermittlungsrichter eigenständig zu prüfen. An die Bewertung der Verdachtslage oder einzelner Beweismittel durch die Ermittlungsbehörden ist er dabei nicht gebunden. Dieser Pflicht zur umfassenden Prüfung (auch) des Tatverdachts kann er nur dann genügen, wenn ihm von der Staatsanwaltschaft grundsätzlich alle maßgeblichen Beweismittel vorgelegt werden. Auswertevermerke der Ermittlungsbehörden oder eines Nachrichtendienstes vermögen dies regelmäßig nicht zu ersetzen. Sie sind – soweit sie lediglich Beweisergebnisse zusammenfassend schildern und bewerten – ein nur mittelbares Beweismittel, dem nur ein eingeschränkter Beweiswert zukommt. (Bearbeiter)

4. Beim Vollzug von Beschlagnahmen, insbesondere beim Zugriff auf einen umfangreichen elektronischen Datenbestand, ist darauf zu achten, dass die Gewinnung überschießender, für das Verfahren bedeutungsloser und dem Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO unterliegender Daten vermieden wird. Die Beschlagnahme sämtlicher gespeicherten Daten ist deshalb allenfalls dann mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der gesamte Datenbestand, auf den zugegriffen werden soll, für das Verfahren potentiell beweiserheblich ist. Bei einem Email-Postfach wird dies in aller Regel nicht der Fall sein. (Bearbeiter)

5. Als mildere Maßnahme zur Sicherung beweiserheblicher Emails unter Vermeidung der Gewinnung überschießender Informationen kann die Beschlagnahme eines Teils des Datenbestands unter Eingrenzung der ermittlungsrelevanten Emails anhand bestimmter Sender- oder Empfängerangaben oder anhand von Suchbegriffen in Betracht kommen. Außerdem kommt die vorläufige Sicherstellung des gesamten Email-Bestandes in Betracht, an die sich dann zunächst eine Durchsicht des sichergestellten Datenmaterials nach § 110 Abs. 1 bzw. Abs. 3 StPO zur Feststellung der Beweiserheblichkeit und verwertbarkeit anzuschließen hat. (Bearbeiter)

6. Durchsuchung und Beschlagnahme sind offene Ermittlungsmaßnahmen, deren Anordnung den Betroffenen und Verfahrensbeteiligten bekannt zu machen ist (§ 33 Abs. 1, § 35 Abs. 2 StPO). Der Beschuldigte ist deshalb auch dann von der Beschlagnahme der in seinem elektronischen Postfach gelagerten Email-Nachrichten zu unterrichten, wenn die Daten aufgrund eines Zugriffs beim Provider auf dessen Mailserver sichergestellt wurden. Eine Zurückstellung der Benachrichtigung wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks sieht die StPO für diese Untersuchungshandlung nicht vor. (Bearbeiter)


Entscheidung

540. BGH 4 StR 650/09 – Urteil vom 15. April 2010 (LG Münster)

Zeugnisverweigerungsrecht yezidischer Geistlicher (Gleichstellung mit sonstigen staatlich anerkannten öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften; Begriff des Geistlichen; Reichweite des Schweigerechts: Begriff der Seelsorge); Beruhen (Zeugenaussage und Beweisthema).

Art. 4 GG; Art. 9 EMRK; § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO; § 245 Abs. 1 StPO; § 337 StPO

1. Das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO steht nicht nur den Geistlichen der staatlich anerkannten, öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften zu. Es gilt z.B. auch für Geistliche der Yeziden.

2. Das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO schützt in erster Linie das Vertrauensverhältnis zwischen dem Geistlichen und demjenigen, der sich ihm anvertraut (vgl. BVerfGE 109, 279, 322). Dem Rat- und Hilfesuchenden soll die Möglichkeit eröffnet sein, sich mit einem Geistlichen zu besprechen, ohne befürchten zu müssen, dass dieser die ihm mitgeteilten Tatsachen und Umstände als Zeuge offenbaren muss. Der Schutz erfolgt um der Menschenwürde des Gesprächspartners des Seelsorgers willen (BVerfG aaO). Denn „das Zwiegespräch mit dem Seelsorger ist dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen, der dem staatlichen Zugriff schlechthin entzogen ist, und bedarf daher umfassenden Schutzes vor staatlicher Kenntnisnahme“. Mit diesem Schutzzweck des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ist eine Beschränkung des Personenkreises der Geistlichen, die auf den rechtlichen Status der Religionsgemeinschaft abstellt, unvereinbar.

2. Geistlicher im Sinne des § 53 StPO ist nur derjenige, dem die seelsorgerische Tätigkeit von der Religionsgemeinschaft übertragen und ein entsprechendes Amt – verbunden mit einer herausgehobenen Stellung innerhalb der Religionsgemeinschaft – anvertraut wurde, und dem

hinsichtlich geführter seelsorgerischer Gespräche eine ihm von der Religionsgemeinschaft auferlegte Schweigepflicht obliegt. Allein bei Vorliegen dieser Voraussetzung ist das Vertrauen seines Gesprächspartners darauf, der Geistliche werde den Inhalt des Gesprächs oder die ihm in Zusammenhang mit diesem sonst bekannt gewordenen Tatsachen nicht weitergeben, schutzwürdig und schutzbedürftig.

3. Bei der Moderation eines yezidischen Versöhnungsgesprächs handelt es nicht um eine seelsorgerische Tätigkeit im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO. Seelsorge im Sinne dieser Vorschrift umfasst nur eine von religiösen Motiven und Zielsetzungen getragene Zuwendung, die der Fürsorge für das seelische Wohl des Beistandsuchenden, der Hilfe im Leben oder Glauben benötigt, dient. Zu ihr gehören dagegen nicht Gespräche, Erkenntnisse oder Tätigkeiten des Geistlichen auf dem Gebiet des täglichen Lebens bei Gelegenheit der Ausübung von Seelsorge ohne Bezug zum seelischen Bereich. Deshalb ist ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht anzuerkennen, soweit es sich um eine karitative, fürsorgerische, erzieherische oder verwaltende Tätigkeit des Geistlichen handelt (BGHSt 51, 140, 141 ff.; ebenso BGH, Urteil vom 4. Februar 2010 – 4 StR 394/09; ähnlich bereits BGHSt 37, 138, 140).

4. Die Frage, ob einem Geistlichen Tatsachen in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut oder bekannt geworden sind, ist objektiv und in Zweifelsfällen unter Berücksichtigung der Gewissensentscheidung des Geistlichen zu beurteilen (vgl. BVerfG NJW 2007, 1865, 1866 f.; BGHSt 51, 140, 141). Vorrangig ist sie dem Tatgericht anvertraut, das bei seiner Entscheidung den ihm etwa aus Zeugenaussagen oder der Einlassung des Beschuldigten bekannten Inhalt des Gesprächs zu berücksichtigen und auch zu beachten hat, dass die Rechtsprechung von einer Unterscheidbarkeit seelsorgerischer und nichtseelsorgerischer Teile eines Gesprächs ausgeht (BVerfG und BGH aaO). Kommt der Tatrichter zu dem Ergebnis, dass jedenfalls Teile des Gesprächs nicht dem Bereich der Seelsorge zuzurechnen sind, muss es den Geistlichen hierzu vernehmen und kann allenfalls im Übrigen der (gegebenenfalls glaubhaft gemachten) Einschätzung des Geistlichen folgen, bei weiteren Teilen des Gesprächs habe es sich um eine seiner Schweigepflicht unterliegende Seelsorge gehandelt.

5. Die durch Art. 4 GG gewährleistete Religions- und Glaubensfreiheit schützt nicht jede Handlung, die im weitesten Sinne auf religiöse Ansichten zurückgeführt werden kann. Erforderlich – und auch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften hinreichend berücksichtigend – ist, dass es sich um eine zwingende Verhaltensregel handelt, von der der Betroffene nicht ohne innere Not absehen kann (vgl. BVerfG NJW 2007, 1865, 1867).

6. § 53 StPO regelt nur Zeugnisverweigerungsrechte „aus beruflichen Gründen“, lässt also eine allein religiös motivierte, indes nicht mit der Übertragung eines entsprechenden Amtes verbundene seelsorgerische Tätigkeit nicht genügen.


Entscheidung

496. BGH StB 16/09 – Beschluss vom 11. März 2010 (Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs)

militante gruppe (mg); Überwachung der Telekommunikation (Fernmeldegeheimnis; Verdachtsgrad, hinreichende Tatsachenbasis); irreführende Sachverhaltsdarstellung gegenüber dem Ermittlungsrichter (Verschweigen wesentlicher entlastender Umstände); Textanalysen (äußerst geringer indizieller Beweiswert); keine Gefahrenabwehr im Gewande der Strafverfolgung.

§ 129a StGB; § 129 StGB; § 101 Abs. 7 Satz 3 StPO; § 304 Abs. 5 StPO; Art. 10 Abs. 1 GG

1. Eine Anordnung nach § 100a StPO erfordert zwar für sich betrachtet keinen bestimmten Verdachtsgrad, sondern nur den „einfachen“ Tatverdacht einer Katalogtat. Dieser Verdacht muss allerdings auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage beruhen. Dabei sind mit Blick auf das Gewicht des in Rede stehenden Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG Verdachtsgründe notwendig, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Es müssen Umstände vorliegen, die nach der – auch kriminalistischen – Lebenserfahrung in erheblichem Maße darauf hindeuten, dass jemand eine Katalogtat begangen hat. Der Verdacht muss auf Grundlage schlüssigen Tatsachenmaterials bereits ein gewisses Maß an Konkretisierung und Verdichtung erreicht haben.

2. Bei Analysen von Bekennerschreiben vorgefundene Übereinstimmungen in thematischer, stilistischer und textgestalterischer Hinsicht sind regelmäßig Indizien mit einem allenfalls äußerst geringen Beweiswert.

3. Die präventive Gefahrenabwehr ist nicht Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden und darf nicht durch Ermittlungsmaßnahmen auf der Grundlage der Strafprozessordnung durchgeführt werden. Dies gilt ungeachtet der Tatsachen, dass die Verhütung von Gefahren für die Allgemeinheit oder einzelne Personen eine vordringliche staatliche Aufgabe ist und dass aufgrund der Vorverlagerung des Rechtsgüterschutzes durch die §§ 129 ff. StGB die Abgrenzung zwischen präventiven und repressiven Ermittlungen nicht in jedem Falle trennscharf möglich ist.

4. Staatsanwaltschaften und Gerichte müssen davon ausgehen können, dass sie im Ermittlungsverfahren ihre Entscheidungen auf der Grundlage aller maßgebenden bisherigen Ermittlungsergebnisse treffen. Der Ermittlungsrichter ist bereits von Verfassungs wegen verpflichtet, die Zulässigkeit der beabsichtigten Maßnahme eigenständig zu prüfen. Die Erfüllung seiner Funktion als Kontrollorgan der Ermittlungsbehörden wird nicht unerheblich erschwert und verzögert, wenn der Ermittlungsrichter nicht annehmen kann, dass die Beweislage – soweit sie für die Entscheidung relevant ist – in den Antragsschriften der Ermittlungsbehörden nicht ohne erhebliche Lücken dargetan ist.


Entscheidung

480. BGH 3 StR 404/09 – Beschluss vom 27. Oktober 2009 (LG Wuppertal)

Angemessene Rechtsfolge (Jugendstrafe; Zurückhaltung des Revisionsgerichts; eigene Sachentscheidung); Schwere der Schuld; schädliche Neigungen.

§ 354 Abs. 1a StPO; § 17 JGG; § 18 JGG

1. Grundsätzlich kann das Revisionsgericht auch eine Sanktion nach dem JGG als angemessen im Sinne des § 354 Abs. 1a StPO behandeln.

2. Hierbei ist aufgrund der Besonderheiten bei der Zumessung einer jugendrechtlichen Sanktion jedoch eine gewisse Zurückhaltung des Revisionsgerichts geboten.


Entscheidung

537. BGH 4 StR 612/09 – Beschluss vom 16. März 2010 (LG Halle)

Verfahrensrüge der mangelnden Ausschöpfung einer verlesenen Urkunde (Urteilsgründe); mangelnde Unterrichtung nach Abwesenheit (Entfernung) des Angeklagten (effektive Verteidigung; Fragerecht).

§ 261 StPO; § 247 Satz 4 StPO; § 240 Abs. 1 StPO; Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK

1. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Gericht Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zugunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Erwägungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 29, 18, 20; BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 7). Eine Verletzung von § 261 StPO kommt daher grundsätzlich auch dann in Betracht, wenn der Tatrichter den Inhalt einer Urkunde, die durch Verlesung zum Inbegriff der Hauptverhandlung geworden ist, bei seiner Beweiswürdigung nicht berücksichtigt hat, obwohl deren Bedeutsamkeit auf der Hand lag (vgl. BGH NStZ 2008, 475).

2. Der Vorsitzende hat den Angeklagten gemäß § 247 Satz 3 StPO, sobald dieser wiederum anwesend ist, vom wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist. Die Unterrichtung muss stattfinden, bevor weitere Verfahrenshandlungen erfolgen. Damit soll er weitgehend so gestellt werden, wie er ohne Zwangsentfernung gestanden hätte (vgl. BGHSt 3, 384, 385; BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 2). Auch wenn die während der Entfernung des Angeklagten durchgeführte Zeugenvernehmung noch nicht abgeschlossen, sondern nur unterbrochen war, muss der Angeklagte von dem in seiner Abwesenheit Ausgesagten unterrichtet werden, bevor in seiner Anwesenheit die Beweisaufnahme fortgesetzt wird. Nur so ist sichergestellt, dass der Informationsstand des Angeklagten im Wesentlichen dem der anderen Prozessbeteiligten entspricht und er seine Verteidigung, etwa durch Fragen an weitere Zeugen, sachgerecht auszuüben vermag (st. Rspr.; vgl. BGHSt 38, 260; BGH NStZ-RR 2005, 259).


Entscheidung

477. BGH 3 StR 390/08 – Beschluss vom 10. November 2008 (LG Hannover)

Verlesung eines richterlichen Protokolls (Verteidigererklärung; Hauptverhandlungsprotokoll); Begründung der Verfahrensrüge (Mitteilung der den Mangel enthaltenden Tatsachen; kein Beweisantritt); Verfall (Vorrang der Ansprüche des Verletzten; Anspruchsübergang auf den Versicherer).

§ 254 StPO; § 249 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 86 Abs. 1 VVG; § 67 Abs. 1 VVG aF

1. Wenn sich der Angeklagte bei seiner Einlassung in der Hauptverhandlung der Hilfe seines Verteidigers in der Form bedient, dass der Verteidiger mit seinem Einverständnis oder seiner Billigung für ihn eine schriftlich vorbereitete Erklärung abgibt und diese sodann vom Gericht entgegengenommen und als Anlage zum Protokoll der Hauptverhandlung genommen wird, so darf die in der Protokollanlage enthaltene Erklärung in einem späteren Strafverfahren nicht gemäß § 254 Abs. 1 StPO verlesen werden. Bei der geschilderten Verfahrensweise äußert sich der Angeklagte im Rechtssinne mündlich. Seine Erklärung wird nicht zum Bestandteil des Hauptverhandlungsprotokolls; ebenso wenig ist sie im Sinne des § 254 Abs. 1 StPO in einem richterlichen Protokoll enthalten.

2. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO verpflichtet den Beschwerdeführer nur zum vollständigen Tatsachenvortrag, nicht auch darüber hinausgehend zum Beweisantritt.

3. Ansprüche des Verletzten gehen auch dann gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB vor, wenn dem Bestohlenen der Schaden von einem Versicherer ersetzt worden ist. In diesem Fall geht die Forderung des Versicherungsnehmers im Wege des gesetzlichen Anspruchs-Übergangs auf den Versicherer über (§ 86 Abs. 1 VVG = § 67 Abs. 1 VVG aF).


Entscheidung

538. BGH 4 StR 637/09 – Beschluss vom 1. April 2010 (LG Arnsberg)

Unbegründeter Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Hindernis; Verschulden; wirksamer Rechtsmittelverzicht nach Verständigung).

§ 44 StPO; § 302 StPO a.F.; § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO n.F.

Die zu späte Kenntnisnahme des Angeklagten oder seines Verteidigers von einer gesetzlichen Bestimmung (hier § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO) stellt – ebenso wenig wie die Unkenntnis höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2005 – 5 StR 354/05, wistra 2006, 28 m.w.N.) – keine Verhinderung im Sinne dieser Vorschrift dar.


Entscheidung

474. BGH 3 StR 350/08 – Beschluss vom 23. Oktober 2008 (LG Düsseldorf)

Anordnung der Sicherungsverwahrung (rechtlicher Hinweis; keine zu geringen Anforderungen an die Hinweispflicht; Gutachtenauftrag); psychiatrischer Sachverständiger (Tauglichkeit prognostischer Methoden).

§ 265 Abs. 2 StPO; § 261 StPO; § 246a StPO; § 66 StGB

Der Angeklagte muss in der Hauptverhandlung gemäß § 265 Abs. 2 StPO darauf hingewiesen werden, wenn die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung in Betracht kommt, soweit weder die Anklageschrift noch der Eröffnungsbeschluss einen Hinweis auf die Möglichkeit einer solchen Anordnung enthielten (BGHR StPO § 265 Abs. 2 Hinweispflicht 2). Da die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungs-

verwahrung einen besonders gravierenden Eingriff darstellt, dürfen an die Hinweispflicht des Gerichts keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (BGHR StPO § 265 Abs. 2 Hinweispflicht 6; BGH NStZ-RR 2004, 297). Der Hinweis wird nicht dadurch entbehrlich, dass die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren den Sachverständigen beauftragt hatte, den (damals) Beschuldigten „auf seine Schuldfähigkeit gem. §§ 20, 21 StGB sowie hinsichtlich der Voraussetzungen der §§ 63, 66 StGB psychiatrisch zu begutachten“. Gleiches gilt im Hinblick darauf, dass in der Hauptverhandlung die Frage der Gefährlichkeit des Angeklagten zwischen den Verfahrensbeteiligten erörtert wurde.


Entscheidung

507. BGH 2 StR 42/10 – Beschluss vom 14. April 2010 (LG Köln)

Anforderungen an die Zulässigkeit der Verfahrensrüge.

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

Es genügt den Anforderungen an einen ordnungsgemäßen Revisionsvortrag (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) nicht, wenn Aktenbestandteile und Ausschnitte aus dem Hauptverhandlungsprotokoll „der Einfachheit halber in chronologischer Reihenfolge und nicht nach Rügen getrennt überreicht werden“. Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, sich aus einem Aktenkonvolut denkbare Verfahrensfehler selbst herauszusuchen und den dazu möglicherweise passenden Verfahrenstatsachen zuzuordnen.


Entscheidung

483. BGH 3 StR 428/09 – Beschluss vom 5. November 2009 (LG Krefeld)

Unzulässiger Adhäsionsantrag (fehlender Nachweis der Erbfolge; Erbschein; internationales Erbrecht).

§ 403 StPO; Art. 25 EGBGB; Art. 26 EGBGB

Beruht die Antragberechtigung eines Adhäsionsklägers auf seiner Erbenstellung, so ist zum Nachweis der Erbfolge entweder ein Erbschein vorzulegen oder die Erbenstellung auf andere Weise nachzuweisen.


Entscheidung

482. BGH 3 StR 427/09 – Beschluss vom 3. November 2009 (LG Mönchengladbach)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Aufhebung und Zurückverweisung durch das Revisionsgericht; Verschlechterungsverbot).

§ 55 StGB; § 358 Abs. 2 StPO

Bei Aufhebung einer Gesamtstrafe durch das Revisionsgericht und Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht ist in der neuen Verhandlung die Gesamtstrafenbildung nach Maßgabe der Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten tatrichterlichen Verhandlung vorzunehmen. Dem Beschwerdeführer darf ein früher erlangter Rechtsvorteil durch sein Rechtsmittel nicht genommen werden.