HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2010
11. Jahrgang
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Schrifttum

Jörg Antoine: Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, Duncker & Humblot, zgl. Univ.-Diss. Humboldt-Universität 2002, 479 Seiten, 89,80 €, Berlin 2004.

Wie viel Sterbehilfe darf, und wie viel Sterbehilfe muss, der Staat zulassen, wenn er seinem vom Grundgesetz gezogenen Handlungsrahmen gerecht werden will? Der Beantwortung dieser Frage widmet sich Jörg Antoines von Hasso Hofmann betreute Dissertation. Der Verfasser geht von einem weiten Begriff von Sterbehilfe aus, dem - auf der aktiven Seite - nicht nur die Tötung auf Verlangen und die Beihilfe zum Selbstmord, sondern auch bestimmte Formen von Mitleidstötungen (namentlich die Tötung schwerstbehinderter Säuglinge, die so genannte Früheuthanasie) und die indirekte Sterbehilfe (womit die Lebensverkürzung als unvermeidliche Begleiterscheinung effektiver Schmerzlinderung gemeint ist) unterfallen. Die Abgrenzung der aktiven von der passiven Sterbehilfe soll dabei primär unter Ausrichtung "am Integritätsschutz des Patienten und nicht allein am phänotypischen Verhalten des Täters" (S. 44) erfolgen, was den Verfasser zwar zu sachgerechten Ergebnissen führt, aber vom Begründungsansatz her zirkulär ist, denn als passiv soll nach der vorgeschlagenen Unterscheidung anhand des Integritätsschutzes des Patienten dasjenige lebensverkürzende Verhalten gelten, dessen Nichtvornahme das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen würde: eben jenes Recht, dessen Reichweite mit der Arbeit erst genau bestimmt werden soll. Mit der Einführung der Begriffe verbindet der Verfasser einen Überblick über die strafrechtliche Behandlung der verschiedenen Formen der Sterbehilfe. Wichtig für die weitere Untersuchung ist hier insbesondere die Einordnung der indirekten Sterbehilfe als (strafrechtlich gesprochen) zumindest bedingt vorsätzliche, aber nach Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigte Tötung.

Die "verfassungsrechtliche Grundlegung des Themas" beginnt mit einem längeren Traktat über die Menschenwürde. Hier wird viel aus der Ideengeschichte und der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Bekanntes referiert, um schließlich einer diskursethischen Verankerung der Menschenwürde den Vorzug zu gegeben. Letztere begründet die Menschenwürde mit dem angeblich in "jeder[r]sinnvollen Rede[enthaltenen]notwendigen Bezug auf alle möglichen anderen" (S. 123). Diese Ableitung der Menschenwürde aus der notwendigen wechselseitigen Anerkennung aktueller sowie potenzieller Kommunikationspartner ist zwar attraktiv und könnte auch dem Demokratieprinzip als Grundlegung dienen. Aber eine überzeugende philosophische Basis für die Zuschreibung von Menschenwürde an permanent diskursunfähige Menschen kann Antoine auf dieser Grundlage ebenso wenig entwickeln wie die von ihm verworfenen philosophischen Ansätze, die die Menschenwürde auf eine bestimmte Eigenschaft oder Qualität des Menschen gründen. Antoine verweist zwar richtig auf die tatsächliche Unmöglichkeit, "im praktischen Diskurs … alle Betroffenen ausreichend[zu hören]", aus der auch folge, dass die "Verpflichtung zur Bemühung um die Annäherung an die ideale Kommunikationsgemeinschaft … nur durch die Stellvertretung von Kommunikationsunfähigen realisiert werden" könne (S. 126). Aber Hindernisse im praktischen Diskurs, die sich "aus zeitlichen und räumlichen Schwierigkeiten der Organisation der Beteiligung" (S. 126) ergeben, lassen sich denklogisch nicht mit "Verständnisschwierigkeiten bis hin zum Ausfall aller kommunikativen Fähigkeiten beim Betroffenen" (S. 126) gleichsetzen. Wenn die Diskursethik mir eine "Verpflichtung zum advokatorischen Diskurs all derjenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht aktuell am Diskurs teilnehmen können", auferlegt (S. 126-7), dann verlangt die Umsetzung dieser Verpflichtung von mir eine andere Herangehensweise im Bezug auf diejenigen, die nur aus organisatorischen Schwierigkeiten nicht am Diskurs teilnehmen können, als im Bezug auf diejenigen, die in keiner noch so diskursfreundlich ausgestalteten Welt jemals reale Diskursteilnehmer sein könnten. Was die ersteren angeht, fordert der "advokatorische Diskurs", dass ich mich soweit wie möglich an den Meinungsäußerungen und früheren Diskursbeiträgen der konkret an der Teilnahme Verhinderten orientiere. Der Diskurs, den ich insoweit in meiner Vorstellung entwerfe, kann von den wirklichen Äußerungen und Meinungen dieser potenziellen Diskursteilnehmer geprägt sein. Ganz anders liegt der Fall, wenn ich mir einen konstitutionell absolut diskursunfähigen Diskurspartner vorstellen soll. Hier kann ich mich an nichts anderes halten als an meine Vorstellung von dem, was objektiv im Interesse dieses Diskursunfähigen liegen würde. Dann aber urteile und handle ich im Bezug auf absolut diskursunfähige Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft nicht aufgrund irgendeiner vorgestellten wechselseitigen Anerkennung dieser Menschen als Diskurspartner, sondern indem ich die Bewertung der Interessen dieser Menschen unmittelbar zum Leitbild meines Handelns mache.

Nun ist es aus der Sicht der Rezensentin nicht nur wünschenswert, sondern zwingend geboten, auch absolut diskursunfähige Menschen als Mitglieder der Sozialgemeinschaft anzuerkennen. Den besten Begründungsansatz hierfür liefert aber wohl nicht die Moralphilosophie, sondern die politische Philosophie. Ein geordnetes staatliches Zusammenleben ist nur möglich, wenn Mitglied-

schaft in der Gruppe derjenigen, die sich untereinander eben nicht nur Anerkennung, sondern auch Unterstützung schulden, nach Kriterien bemisst, die dem sozialen Frieden und der Sicherheit aller dienen. Diesem Ziel wird am besten durch die einfache Regel genügt, dass jeder Mensch von Geburt an Mitglied dieser Gemeinschaft ist. Jede darüber hinaus gehende "Mitgliedschaftsprüfung" birgt die Gefahr sozial unerträglicher Konsequenzen. Die verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde für jeden geborenen Menschen lässt sich damit als politische Statusgarantie verstehen und fruchtbar machen.

Glücklicherweise schlägt der Verfasser im Fortgang der Arbeit schnell den Bogen zur verfassungsgerichtlichen Interpretation der Menschenwürdegarantie zurück. Seine detaillierten und engagierten Ausführungen zur Reichweite staatlicher Schutzpflichten, dem Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde, der möglichen Fundierung eines Rechts auf einen menschenwürdigen Tod (in der Schutzpflicht) sowie eines (wenn auch nicht schrankenlosen) Rechtes auf selbstbestimmtes Sterben sind durchweg lesenswert und wohlbegründet. Ob man nun - mit dem Verfasser - ein mögliches Recht auf selbstbestimmtes Sterben als "status negativus" dem Schutzbereich des Rechts auf Leben oder - wie es der Rezensentin vorzugswürdig erscheint - dem Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes zuordnen sollte, mag dahingestellt bleiben. Das Zwischenergebnis des Verfassers, wonach die Entscheidung für den eigenen Tod sich als Ausübung eines Grundrechtes darstellt, dessen Einschränkung einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf, verdient jedenfalls Zustimmung.

Trotz dieser Grundrechtsbetroffenheit ist es für den Verfasser nicht selbstverständlich, dass der Staat die aktive Sterbehilfe tatsächlich erlauben darf. Der Staat muss nämlich auch seiner Schutzpflicht für das Leben genügen. Auch wenn diese Schutzpflicht (wie Antoine richtigerweise hervorhebt) bezogen auf den einzelnen Grundrechtsträger keine Handhabe bietet, um den Grundrechtsträger, der eine bewusste und verantwortliche Entscheidung für den eigenen Tod getroffen hat, staatlicherseits an der Umsetzung seiner Entscheidung zu hindern, erfordert die Schutzpflicht ein Regime, das möglicherweise nicht wirklich sterbewillige Personen vor übereilten Entscheidungen schützt. Wegen des hohen Stellenwerts des Rechts auf Leben muss der Staat auch bei jeder erweiterten Zulassung der Sterbehilfe dafür Sorge tragen, dass keine Tötungen gegen den Willen der Getöteten vorgenommen werden. Mit beachtenswerten Gründen kommt der Verfasser deshalb zu dem Ergebnis, dass eine Übernahme des niederländischen Modells, bei der Ärzte nur einer Berichtspflicht unterliegen und jede Überprüfung ihrer Entscheidung erst nach deren Umsetzung durch Tötung des Patienten erfolgt, den Mindestanforderungen für einen effektiven Grundrechtsschutz unter dem Grundgesetz nicht genügen würde. Dieser Teil der Arbeit erörtert auch so wichtige Einzelfragen wie Sterbehilfe bei minderjährigen Grundrechtsträgern und den Behandlungsabbruch aufgrund von Patiententestamenten und Entscheidungen durch Betreuer. Zu viel Raum nimmt dagegen die Diskussion über die "richtige" Todesdefinition ein, bei der der Verfasser das Hirntodkriterium zurückweist und auf dieser Basis die Organtransplantation von hirntoten Spendern als einen bereits nach dem geltenden Recht zugelassenen Fall antizipierter aktiver Sterbehilfe einstuft.

Eingehend setzt sich Antoine auch mit der Frage auseinander, ob der Gesetzgeber die aktive Sterbehilfe umfassend verbieten könnte. Hier hält er fest, dass legitime Zwecke eines solchen umfassenden Verbots nur der Schutz des Sterbewilligen vor Übereilung und der Schutz sterbeunwilliger Dritter vor einer Aufweichung des Tötungstabus sein könnten. Unter beiden Gesichtspunkten sei § 216 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt aufzufassen und auch prinzipiell zu rechtfertigen. Das Übermaßverbot werde allerdings in den Fällen verletzt, in denen ein Patient mit ernsthaftem, intersubjektiv plausiblen Sterbewunsch zum Selbstmord außerstande sei. Einige Überlegungen zu einer angemessenen Verfahrensgestaltung und ein Vorschlag für eine gesetzgeberische Klarstellung der Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe schließen die Untersuchung ab.

Aktive Sterbehilfe ist einer jener schwierigen Bereiche, wo Lebenspraxis und bestehende Rechtslage zunehmend auseinanderdriften und wo der politische Diskurs an der Präsenz fundamentalistischer Grundhaltungen und faktischer Missverständnisse, die vernünftige rechtliche Reformen behindern, krankt. Jörg Antoine ist dafür zu danken, dass er den verfassungsrechtlichen Rahmen einer hoffentlich bald vorzunehmenden Neuregelung minutiös bestimmt und damit gleichzeitig den implizit aus der Verfassung abzuleitenden politischen Rahmenkonsens korrekt absteckt. Leider hält sich Antoine aus den rechtspolitischen Fragestellungen, die sich nach der Akzeptanz seiner Analyse stellen, weitgehend heraus. Dies beschränkt den praktischen Nutzen seines Buches. Die Rezensentin hätte sich gewünscht, dass dieser ganz offensichtlich über Rechtslage und "Tatsachenseite" wohlinformierte Verfasser am Ende seines Buches seine Zurückhaltung aufgibt und einen rechtspolitischen Vorschlag für diejenige Regelung, die er im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen für die sinnvollste Lösung hält, macht. Dies wäre insbesondere deshalb von großem Interesse gewesen, weil Antoine mit bemerkenswerten Gründen zu der Auffassung gelangt, dass das niederländische Sterbehilferegime aus prozeduralen Gründen den Anforderungen des Grundgesetzes an einen effektiven Lebensschutz nicht genügen würde. Ein solcher Diskussionsvorschlag, der nicht verfassungsrechtlich Zwingendes, sondern auf dem Boden der Verfassung rechtspolitisch Wünschenswertes widerspiegelt, hätte für die zukünftige Debatte von großer Bedeutung sein können. Denn eine Grundvoraussetzung für eine ergiebige Reformdiskussion ist es, dass man alternative Regelungskonzepte anbieten kann, die bei der Entwicklung einer den konkreten Bedürfnissen lebender Menschen - ob sie nun lebenshungrig, lebensmüde oder bereits im Sterben sein mögen - gerecht werdenden Regelung eine Orientierungshilfe bieten können. Diesen rechtsreformerischen Impuls gibt eine Arbeit, die nach aller verdienstvoller Mühe um die Absteckung des verfassungsrechtlichen Rahmens letztendlich bei einem Ergebnis stehen bleibt, wonach es der Gesetzgeber (von einer ausdrücklichen Zulassung der indirekten Sterbehilfe abgesehen) auch beim Status quo belassen könnte, nicht.

Dr. Antje du Bois-Pedain, Cambridge