HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2010
11. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Informationelle Selbstbestimmung im Strafvollzug: Anspruch des Gefangenen auf Einsichtnahme in seine Krankenakte

Zugleich Anmerkung zu KG HRRS 2010 Nr. 370 (in diesem Heft)

Von Privatdozent Dr. Jochen Bung, M.A., Humboldt-Universität zu Berlin

I. Einleitung

Das Wortlautargument hat die Funktion, der Interpretation von Rechtsnormen eine Grenze zu ziehen, die üblicherweise als jene des möglichen Wortsinns charakterisiert wird. Wo diese verläuft, wäre Thema eines sprachphilosophischen Kolloquiums. Klar ist, dass ihr Verlauf nicht unabhängig vom Standpunkt des Interpreten bestimmt werden kann. Es gibt also eine gewisse Beweglichkeit. Allerdings ist die Kenntnis des genauen Verlaufs auch nicht erforderlich. Denn das Wortlautargument besagt nicht, die Norm müsse so angewendet werden, wie es ihrem Wortlaut entspricht. Es besagt, die Norm dürfe nicht so angewendet werden, dass der Anwendung eine Interpretation zugrunde liegt, die die Grenze des möglichen Wortsinns verletzt.

Schauen wir auf die Vorschrift des § 185 StVollzG, die das Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht des Gefangenen regelt. Nach deren Wortlaut erhält "der Betroffene[…]nach Maßgabe des § 19 des Bundesdatenschutzgesetzes Auskunft und, soweit eine Auskunft für die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen nicht ausreicht und er hierfür auf die Einsichtnahme angewiesen ist, Akteneinsicht". Würde man der rechtsmethodologisch falschen Annahme folgen, Rechtsvorschriften seien so anzuwenden, wie es ihr Wortlaut besagt, käme man aller Voraussicht nach zu einer Deutung, wonach die Aussage des § 185 StVollzG auf ein abgestuftes Informationsrecht des Gefangenen hinausläuft. Bei den Informationsrechten der Auskunft und der Akteneinsicht würde es sich danach nicht um Rechte handeln, die unter gleichen Voraussetzungen bestehen. Nicht in allen Fällen, in denen der Gefangene ein Auskunftsrecht hat, bestünde zugleich ein Recht auf Akteneinsicht, sondern nur soweit die Auskunft für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen nicht ausreicht.

Geht man hingegen vom korrekten Verständnis des Wortlautarguments aus, ist diese Lesart nur eine von mehreren möglichen Deutungen, so dass über die Privilegierung einer Lesart nicht wiederum mit einem Wortlautargument entschieden werden kann. Es bedarf vielmehr anderer Überlegungen, um hier zu einer begründeten Entscheidung zu kommen.

II. Der Beschluss des KG

Im Beschluss des Kammergerichts vom 14. Januar 2010 [1] tritt das verbreitete Missverständnis über die Funktion des Wortlautarguments offen zu Tage. "Dem Wortlaut des § 185 StVollzG", heißt es, sei "eindeutig zu entnehmen, dass das Akteneinsichtsrecht nicht unbeschränkt und ohne Angabe von Gründen gewährt werden soll". [2]

In der Entscheidung geht es um die Frage des Anspruchs eines Strafgefangenen auf Einsichtnahme in seine Krankenakte. Die Anstaltärztin hatte einem Gefangenen der JVA Tegel die von ihm begehrten Kopien der ärztlichen Befunde über einen bestimmten Zeitraum nicht in vollem Umfang gewährt, weil ein Anspruch auf Einsichtnahme der handschriftlichen Vermerke nicht bestehe. Auf den Antrag des Gefangenen (§ 109 StVollzG) verpflichtete die Strafvollstreckungskammer des LG Berlin die Anstalt, dem Antragsteller vollständige Einsicht in seine Krankenakte zu gewähren. Den Anspruch leitete das LG aus § 185 StVollzG in Verbindung mit dem Recht des Gefangenen auf informationelle Selbstbestimmung ab (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG).

Gegen diese Auffassung wendet sich das KG in seiner der Rechtsbeschwerde des Anstaltsleiters (§ 116 StVollzG) stattgebenden Begründung: Die Strafvollstreckungskam-

mer habe einen Anspruch des Gefangenen auf vollständige, nicht auf sog. "objektivierte" Befunde und Behandlungsergebnisse beschränkte [3] Akteneinsicht bejaht, "ohne sich zuvor der rechtlich vorrangigen Frage zuzuwenden, ob der Antragsteller den Anforderungen des § 185 StVollzG gemäß ausreichend dargelegt hatte, ob ein Anspruch auf Akteneinsicht bestand, weil eine Auskunft gegenüber der Akteneinsicht nicht ausreiche". Nach Auffassung des KG ist das Stufenverhältnis der Informationsrechte, "[d]em Wortlaut des § 185 StVollzG[…]eindeutig zu entnehmen". Wie der Vorschrift des in § 185 StVollzG in Bezug genommen § 19 BDSG zu entnehmen sei, werde selbst das Auskunftsrecht nicht schrankenlos gewährt, so dass dies "erst recht" für den Anspruch auf Akteneinsicht gelten müsse. Ohne Darlegung konkreter Gründe, aus denen hervorgeht, dass die Akteneinsicht zur Wahrung rechtlicher Interessen des Gefangenen erforderlich ist, könne ein Anspruch nicht bejaht werden. Es reiche nicht aus (wie im Schriftsatz des Antragstellers) zu erklären, das Interesse an einer umfassenden Kenntnis der medizinischen Dokumentation sei "evident".

Argumenten, die aus dem informationellen Selbstbestimmungsrecht des Gefangenen ein Interesse auf Akteneinsicht ohne Substantiierungspflicht ableiten bzw. die Erklärung, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrnehmen zu wollen, als Nachweis des

berechtigten Interesses ausreichen lassen [4], versagt das Gericht die Anerkennung. Zwar entspreche diese Auffassung der neuen Entwicklung im Informationsfreiheitsrecht. [5] Am Strafvollzug soll diese Entwicklung nach Ansicht des Senats aber einstweilen vorbeigehen, zumindest solange der Landesgesetzgeber keine die Vorschrift des § 185 StVollzG ersetzende Regelung erlassen habe. [6] Nebenbei verweist der Senat auf die Ausführungsvorschriften der Senatsverwaltung für Justiz zu § 185 StVollzG, wonach Ansprüche des Gefangenen sowie seines Rechtsbeistandes auf Akteneinsicht und auch auf Aushändigung von Kopien (gegen Kostenerstattung) in weitem Umfang anerkannt seien. [7] Freilich beschränkten sich diese Einsichtsrechte im Falle von Gesundheitsunterlagen lediglich auf die medizinisch objektivierbaren Befunde, so dass über das Interesse eines Gefangenen an vollständiger Dokumentation noch nichts präjudiziert sei. Im vorliegenden Fall habe der Antragsteller jedoch noch nicht einmal für seinen Hilfsantrag auf Einsichtnahme in die objektivierbaren Befunde das berechtigte Interesse nach Maßgabe der §§ 185 StVollzG, 19 BDSG in substantiierter Weise dargetan, so dass sein Anspruch auch insoweit scheitern müsse.

III. Kritik

Der Rechtsauffassung des KG ist zu widersprechen. Den Strafvollzug von Tendenzen zur verfassungsrechtlich gebotenen Stärkung der Informationsfreiheitsrechte auszunehmen, erscheint in einer Tradition, in welcher die Idee vom besonderen Gewaltverhältnis − von vornherein herabgesetzter Grundrechtsschutz in bestimmten Kontexten [8] − immer noch seltsam nachklingt. Im Lichte der informationellen Selbstbestimmung versteht sich die Evidenz der Berechtigung des Interesses am Zugang zu persönlichen Daten in der Tat von selbst. Bedeutet informationelle Selbstbestimmung die "Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden" [9], dann ergibt sich als normative Kehrseite dieser Befugnis unmittelbar die Pflicht des Staates, solche persönlichen Daten auf Wunsch des Betroffenen zu offenbaren. [10] Auf ausgreifendere Erwägungen kann es nur ankommen, wo es Anlass zur Vermutung gibt, dass das Informationsinteresse des Gefangenen mit legitimen Geheimhaltungs- oder Sicherheitsinteressen der Anstalt kollidiert oder gar die öffentliche Sicherheit gefährden könnte. Dann muss abgewogen werden [11], wobei zu beachten ist, dass "[d]as Auskunftsinteresse[…]erhebliches verfassungsrechtliches Gewicht[hat]" [12]. Wie das BVerfG festgestellt hat, liegt "[e]ine Grundrechtsverletzung […]auch dann vor, wenn unterstellt wird, dass das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung[…]nur ein Recht auf abwägende Berücksichtigung des Informationsinteresses und folglich nur einen durch gegenläufige Belange von vornherein[…]eingeschränkten Anspruch auf Information umfasst" [13]. Auch im Rahmen der Abwägung wird man jedoch kaum ernstlich behaupten wollen, dass die Kenntnis des Gefangenen von seiner Krankenakte eine Gefahr für die Sicherheits- oder Geheimhaltungsinteressen der Anstalt darstellt. Was den Gesichtspunkt der Geheimhaltung aus überwiegenden berechtigten Interessen eines Dritten anbelangt (§ 19 Abs. 4 Nr. 3 BDSG), hat das BVerfG für die Argumentationsfigur des sog. therapeutischen Vorbehalts festgestellt, dass "diese Erwägung eine Beschränkung der Akteneinsicht auf die sogenannten objektiven Befunde schon deshalb nicht rechtfertigen[kann], weil eine solche Beschränkung dem Umfang nach über das zum Schutz personenbezogener Daten des Therapeuten gegebenenfalls Erforderliche hinausginge" [14].

Wem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung noch nicht ausreicht, dem sei gesagt, dass die informationelle Asymmetrie das Behandlungsverhältnis jener grundrechtlich geschützten Dimension beraubt, die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Resozialisierungsinteresse anerkannt ist (Art. 1, Abs. 1., Art. 2. Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip). [15] Für das Recht der Einsicht in den Vollzugsplan einschließlich der Aushändigung einer vollständigen Abschrift desselben, sofern der Gefangene eine solche begehrt, ist das unmittelbar einleuchtend, denn der Vollzugsplan ist das Kernelement des Resozialisierungsvollzugs. [16] Dem Resozialisierungsinteresse, das auf der autonomen Entscheidung des Gefangenen zur Mitwirkung beruht, [17] widerspricht es jedoch auch, wenn man den Gefangenen im Hinblick auf seine Krankenakte informatorisch bevormundet. Es widerspricht vor allem der in § 4 Abs. 1 S. 2 StVollzG normierten Förderungspflicht. Die vom Gefangenen begehrte Einsichtnahme darf nach richtiger Auffassung auch nicht auf objektivierte Befunde und Behandlungsunterlagen beschränkt werden, sondern muss sich in gleicher Weise auf schriftliche fixierte persönliche Eindrücke und Wertungen erstrecken. [18] Ausdrücklich hat das BVerfG auf die Missbrauchsgefahr hingewiesen, die in den Formeln vom therapeutischen Vorbehalt und den objektivierten Befunden angelegt ist, insbesondere in einem "Bereich, der[…] durch ein besonders hohes Machtgefälle zwischen den Beteiligten geprägt ist" [19]. Argumente, die wegen der Art der Aktenführung mangelnde Praktikabilität der Einsicht geltend machen, weist das BVerfG fast schroff zurück ("nicht nachvollziehbar") und stellt fest, dass diesem Gesichtspunkt jedenfalls "kein Vorrang vor dem Informationsinteresse des Betroffenen eingeräumt werden[kann]" [20].

IV. Fazit

Es wurde festgestellt, dass das Wortlautargument nicht zur Entscheidung zwischen Lesarten herangezogen werden kann, von denen keine die Grenze des möglichen Wortsinns verletzt. Zumal kann keine Auslegung, die Ergebnis einer korrekten Schlussfolgerung ist, die Grenze des Wortsinns verletzen. "A bekommt B und wenn B nicht ausreicht, auch C." Ein Satz dieser Form (vgl. § 185 StVollzG) ist ohne weiteres vereinbar mit der Aussage "Wenn A nicht nur B will, sondern C, dann reicht B nicht aus." Daraus folgt logisch und in den Grenzen des möglichen Wortsinns, dass A nicht nur B bekommt. Zu zeigen, dass sich die Wahrheit der Zusatzprämisse aus den Gesichtspunkten des informationellen Selbstbestimmungsrechts und des verfassungsrechtlich fundierten Resozialisierungsinteresses ergibt, war das Anliegen dieser Entscheidungsanmerkung. Es ist zu wünschen, dass die Rechtsprechung im Bereich des Strafvollzugs für diese Gesichtspunkte künftig sensibler wird. Die stufentheoretische Lesart des § 185 StVollzG mag sogar noch als erste Stufe der Auslegung durchgehen, solange sie nicht als selbstimmunisierendes Argument gegen die verfassungsrechtliche Gebotenheit ihrer eigenen Zurückstufung fungiert.


[1] 2 Ws 511/09 Vollz = HRRS 2010 Nr. 370. Ich danke Ulf Buermeyer für den Hinweis auf diese Entscheidung sowie für weitere wichtige Anregungen.

[2] Vgl. auch KG, Beschl. v. 5. September 2007, 2/5 Ws 700/06 Vollz. Diese Auffassung entspricht der ganz h.M. in Rspr. und Lit., vgl. LG Augsburg NJW 1980, 465 m. Anm. Haß, LG Braunschweig StV 1981, 80, OLG Karlsruhe StV 1981, 80, OLG Celle NStZ 1982, 45 f., OLG Koblenz NJW 1996, 3160; vgl. auch Arloth, StVollzG, 2. Aufl. (2008), § 185 Rn. 4 sowie Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal-Schmid, StVollzG, 5. Aufl. (2009), § 185 Rn. 9.

[3] Vgl. dazu AK-Boetticher/Stöver, StVollzG, 5. Aufl. (2006), § 56 Rn. 24 m.w.N.

[4] Linkhorst, Das Akteneinsichtsrecht des Strafgefangenen nach § 185 (2005), S. 31 ff., 172 ff., Weichert, ZfStrVo 2000, 100 sowie AK-Weichert, StVollzG, 5. Aufl. (2006), § 185 Rn. 13 mit zahlreichen Nachweisen, auch zur Gegenansicht in Lit. und Rspr.

[5] Der Senat bezieht sich auf die Informationsfreiheitsgesetze des Bundes und der Länder, namentlich das Gesetz zur Förderung der Informationsfreiheit im Land Berlin (IFG) vom 16. Oktober 1999. Zur Frage der Anwendbarkeit dieser Gesetze im Strafvollzug Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal-Schmid (Fn. 2), § 185 Rn. 2.

[6] Vgl. schon KG, Beschl. v. 5. September 2007, 2/5 Ws 700/06.

[7] Vgl. dazu Linkhorst (Fn. 4), S. 200 ff., 214 ff., AK-Weichert (Fn. 4), § 185 Rn. 5.

[8] Dagegen bereits BVerfGE 33, 1.

[9] BVerfGE 65, 1, 44 f.; BVerfGE 80, 367, 373; BVerfGE 103, 21, 33.

[10] Vgl. BVerfG, 1 BvR 2388/03 vom 10. März 2008 (= BVerfGE 120, 351) Rn. 58 f.: "Der durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vermittelte Grundrechtsschutz erschöpft sich nicht in einem Abwehrrecht gegen staatliche Datenerhebung und Datenverarbeitung. Dieses Grundrecht schützt auch das Interesse des Einzelnen, von staatlichen informationsbezogenen Maßnahmen zu erfahren, die ihn in seinen Grundrechten betreffen. Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umgebung bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen und zu entscheiden."

[11] Zur Verfassungskonformität des Abwägungsmaßstabs in § 19 Abs. 4 BDSG s. BVerfG, 1 BvR 2388/03 vom 10. März 2008 (= BVerfGE 120, 351) Rn. 76 f.

[12] Ebd., Rn. 101.

[13] BVerfG, 2 BvR 443/02 vom 9. Januar 2006, Rn. 29.

[14] Ebd., Rn. 39.

[15] Grundlegend BVerfGE 35, 202 (Lebach).

[16] Bung, StV 2009, 201 ff.

[17] Vgl. dazu Bung (Fn. 16) sowie ders. KJ 2009, 292 ff.

[18] AK- Weichert (Fn. 4), § 185 Rn. 12 m.w.N.

[19] BVerfG, 2 BvR 443/02 vom 9. Januar 2006, Rn. 33. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall ging es um einen im Maßregelvollzug Untergebrachten, der Einsicht in seine Krankenunterlagen begehrte.

[20] Ebd., Rn. 54.