HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2010
11. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

260. BGH 2 StR 524/09 – Urteil vom 17. Februar 2010

BGHSt; Tenorierung beim Auffangrechtserwerb (Rückgewinnungshilfe; Aufnahme in die Urteilsformel; Revision als statthaftes Rechtsmittel; Wertersatzverfall); Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Ermöglichung einer Verfahrensrüge.

§ 111i Abs. 2 StPO; § 73a StGB; Art. 103 Abs. 1 GG; § 44 StPO

1. Die nach § 111i Abs. 2 StPO notwendige Feststellung ist in die Urteilsformel aufzunehmen. (BGHSt)

2. Die Revision ist das statthafte Rechtsmittel, wenn das Landgericht die Entscheidung gemäß § 111i Abs. 2 StPO nicht in der Urteilsformel, sondern im Anschluss an die Urteilsverkündung durch Beschluss getroffen hat. (BGHSt)


Entscheidung

232. BGH 1 StR 260/09 – Beschluss vom 24. Februar 2010 (BGH)

Vorlagebeschluss; Anforderungen an den Anklagesatz beim Vorwurf einer großen Zahl von Vermögensdelikten (Umgrenzungsfunktion; Informationsfunktion; Recht auf effektive Verteidigung).

Art. 6 EMRK; § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 132 Abs. 2, Abs. 4 GVG

Wenn einem Angeklagten eine große Zahl von Vermögensdelikten zur Last gelegt wird, die einem einheitlichen modus operandi folgen, genügt der Anklagesatz den Anforderungen des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200

Abs. 1 Satz 1 StPO, wenn in diesem neben der Schilderung der gleichartigen Tatausführung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum sowie der Gesamtschaden bezeichnet werden und die Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die Tatorte, die Tatopfer und die jeweiligen Einzelschäden, ergänzend in einem anderen nicht zu verlesenden Teil der Anklageschrift detailliert beschrieben sind.


Entscheidung

266. BGH 4 ARs 16/09 – Beschluss vom 18. Februar 2010 (OLG Oldenburg)

Auslieferungsfreiheit bei konkurrierender Gerichtsbarkeit und Verjährung im Inland (Substitution; Auslieferung Deutscher; grundrechtsschonende Auslegung; Grundsatz gegenseitiger Anerkennung; Verjährung nach ausländischem Recht); Reichweite der Bindungswirkung von BVerfG-Kammerentscheidungen.

Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG; § 9 Nr. 2 IRG; § 78c StGB; § 31 BVerfGG; Art. 10 EuAlÜbk

1. Die Auslegung von § 9 Nr. 2 IRG in der Weise, dass bei konkurrierender Gerichtsbarkeit die Auslieferung Deutscher zur Strafverfolgung auch dann zulässig sei, wenn die Tat im Inland wegen Verfolgungsverjährung nicht mehr geahndet werden kann, die Strafverfolgungsbehörden des ersuchenden Staates jedoch Handlungen vorgenommen haben, die „ihrer Art nach“ geeignet wären, die Verjährung nach deutschen Rechtsvorschriften zu unterbrechen, berücksichtigt die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend und greift unverhältnismäßig in die Auslieferungsfreiheit nach Art. 16 Abs. 2 GG ein.

2. Im Rahmen von § 9 Nr. 2 IRG in Verbindung mit § 78c StGB genügt eine Substitution nicht den Anforderungen des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG. Die unzuverlässige und mit Unsicherheiten behaftete Ermittlung funktionsäquivalenter Unterbrechungstatbestände bietet jedenfalls im grundrechtssensiblen verfahrensrechtlichen Kontext der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger keine hinreichende Vorhersehbarkeit der Grundrechtsbeeinträchtigungen.

3. Zugeständnisse im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung können nicht weiter gehen, als dies die grundrechtlichen Spielräume bei der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger zulassen.

4. Die Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG betrifft nicht nur den Tenor, sondern auch die die Entscheidung tragenden Gründe. Dabei sind die den Tenor tragenden Entscheidungsgründe jene Rechtssätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfällt. Nicht tragend sind dagegen bei Gelegenheit der Entscheidung gemachte Rechtsausführungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs stehen. Bei der Beurteilung, ob ein tragender Grund vorliegt, ist von der niedergelegten Begründung in ihrem objektiven Gehalt auszugehen.


Entscheidung

267. BGH 4 StR 394/09 – Urteil vom 4. Februar 2010 (LG Essen)

Belehrung eines Geistlichen über sein Zeugnisverweigerungsrecht (Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts); Beweiswürdigung zum bedingten Tötungsvorsatz bei einer Brandstiftung mit Todesfolge (Leichtfertigkeit).

§ 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO; § 212 StGB; § 15 StGB; § 306c StGB; § 306a StGB

1. Ein Zeugnisverweigerungsrecht im Sinne des § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO erstreckt sich nur auf Tatsachen, die dem betreffenden Geistlichen in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut oder bekannt geworden sind und nicht auf das, was er in ausschließlich karitativer oder fürsorgerischer Tätigkeit erfahren hat (BGHSt 51, 140, 141; vgl. auch BVerfG NJW 2007, 1865).

2. Eine Pflicht zur Belehrung in Fällen des § 53 StPO besteht nicht (vgl. BGH, Urteil vom 19. März 1991 – 5 StR 516/90, NJW 1991, 2844, 2846, in BGHSt 37, 340 insoweit nicht abgedruckt; Senatsurteil vom 27. Mai 1971 – 4 StR 81/71, VRS 41 (1971), 93, 94). Das Gericht darf regelmäßig davon ausgehen, dass der Zeuge sein Recht zur Zeugnisverweigerung kennt. Dies gilt für den Geistlichen eines fremden Landes jedenfalls dann, wenn er sich in Deutschland dauerhaft aufhält und hier eine Gemeinde betreut.

3. Soweit der Gesetzgeber die leichtfertige Todesverursachung unter Strafe gestellt hat, umschreibt das Gesetz nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mit dem Begriff der Leichtfertigkeit ein Verhalten, das – bezogen auf den Todeseintritt – einen hohen Grad von Fahrlässigkeit aufweist. Leichtfertig handelt hiernach, wer die sich ihm aufdrängende Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs aus besonderem Leichtsinn oder aus besonderer Gleichgültigkeit außer Acht lässt (BGHSt 33, 66, 67).

4. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt bedingt vorsätzliches Handeln voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fern liegend erkennt und dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 36, 1, 9; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 53). In Abgrenzung zu der Schuldform der bewussten Fahrlässigkeit müssen beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissenselement als auch das Willenselement in jedem Einzelfall besonders geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden (BGHR aaO). Tritt die Lebensgefährlichkeit einer äußerst gefährlichen Gewalthandlung offen zu Tage, liegt es zwar nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs der von ihm in Gang gesetzten Handlungskette rechnet. Da es jedoch auch Fälle geben kann, in denen der Täter zwar alle Umstände kennt, die sein Tun zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, er sich aber gleichwohl nicht bewusst ist, dass der Tod des Opfers eintreten kann, bedarf es für den Schluss auf die Billigung eines Todeserfolges im Hinblick auf die insoweit bestehende hohe Hemmschwelle einer sorgfältigen Prüfung des Einzelfalles (BGH, Urteil vom 22. November 2001 – 1 StR 369/01, NStZ 2002, 314, 315).

5. Bei der Inbrandsetzung eines Gebäudes sind im Rahmen der Gesamtwürdigung insbesondere die Beschaffenheit des Gebäudes (im Hinblick auf Fluchtmöglichkeiten und Brennbarkeit der beim Bau verwendeten Materialien), die Angriffszeit (wegen der erhöhten Schutzlosigkeit der Bewohner zur Nachtzeit), die konkrete Angriffsweise sowie die psychische Verfassung des Täters und seine Motivation bei der Tatbegehung zu berücksichtigen (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 39).


Entscheidung

269. BGH 4 StR 436/09 – Urteil vom 11. Februar 2010 (LG Bielefeld)

Verbotene Vernehmungsmethoden (Vernehmung nach vorheriger Observation und Vortäuschung einer allgemeinen Verkehrskontrolle; Vortäuschen eines Zufallsfundes; Täuschung; Darlegungsanforderungen der Verfahrensrüge); Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren; Aufklärungshilfe; Anwendung der Vollstreckungslösung auf Verstöße gegen das Recht auf ein faires Strafverfahren.

§ 136a StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 31 BtMG

Auch wenn die Unterrichtung über die Durchführung einer Observation ohne richterliche Zustimmung zurückgestellt werden kann (vgl. § 101 Abs. 4 Satz 1 Nr. 12, Abs. 5, Abs. 6 Satz 1 StPO), darf daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass in den Ermittlungsakten ein unwahrer Sachverhalt niedergelegt werden dürfe oder der auf Grund einer Observation festgenommene Beschuldigte aktiv über die wahren Hintergründe seiner Festnahme getäuscht werden dürfte.


Entscheidung

288. BGH 3 StR 367/09 – Beschluss vom 17. Dezember 2009 (LG Wuppertal)

Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit (unverzügliche Anbringung; Fristberechnung; Kenntnis des Angeklagten; keine Zurechnung der verspäteten Kenntnisnahme des Verteidigers; rechtsfehlerhafte Verwerfung; völlig ungeeignete Begründung); gesetzlicher Richter (Unvoreingenommenheit (Formulierungen eines Haftbefehls im Indikativ; Richter in eigener Sache); Mittäterschaft (Gesamtabrede; Feststellung individueller Beiträge zu jeder einzelnen Tat).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 EMRK; § 26a StPO; § 25 Abs. 2 Nr. 2 StPO; § 27 StPO; § 25 StGB; § 26 StGB; § 27 StGB

1. Für die Beurteilung, ob ein Ablehnungsgesuch unverzüglich angebracht wurde, ist allein der Zeitpunkt der Kenntnis des ablehnungsberechtigten Angeklagten von den dem Gesuch zu Grunde liegenden Tatsachen maßgeblich. Eine etwaige schuldhafte verspätete Kenntnisnahme dieser Tatsachen durch den Verteidiger wird dem Angeklagten nicht zugerechnet.

2. Ein Ablehnungsgesuch, dessen Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet ist, kann wie ein vollends ohne Begründung gestelltes Ablehnungsgesuch behandelt werden. Ein lediglich nach Ansicht des abgelehnten Richters „offensichtlich unbegründetes“ Ablehnungsgesuch hingegen darf nicht im Sinne des § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO als ohne Begründung gestellt behandelt werden, sondern ist nach § 27 StPO zu behandeln.

3. Bei der Prüfung, ob die für eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit vorgebrachte Begründung in diesem Sinne völlig ungeeignet ist, muss wegen des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ein strenger Maßstab angelegt werden. Entscheidend ist, ob das fragliche Ablehnungsgesuch bereits bei rein formaler Betrachtung, ohne nähere Prüfung und losgelöst von den konkreten Umständen des Einzelfalls zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeignet ist. Darüber hinaus dürfen sich abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zu „Richtern in eigener Sache“ machen.

4. Bestehen Zweifel, ob die Begründung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet ist, so ist dem Vorgehen nach § 27 StPO der Vorzug zu geben.

5. Unbedenklich ist die Verwerfung eines Ablehnungsgesuchs, das lediglich damit begründet wird, der Richter sei mit der zur Aburteilung stehenden Tat bereits in einem anderen Verfahren befasst gewesen. Da eine solche Vorbefassung vom Gesetz vorgesehen ist, kann sie als solche die Besorgnis der Befangenheit grundsätzlich nicht begründen. Anders verhält es sich dagegen in Fällen, in denen weitere Umstände hinzutreten, die über die Tatsache der bloßen Vorbefassung als solche und die damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerungen hinausgehen.

6. Die Entscheidung darüber, ob ein Angeklagter nach Kenntnisnahme von einem in einem noch andauernden Verfahren ergangenen Beschluss des erkennenden Richters bei verständiger Würdigung davon ausgehen kann, der betreffenden Richter sei von der Schuld des Angeklagten bereits endgültig überzeugt, steht nicht dem abgelehnten Richter selbst zu, sondern allein dem nach § 27 StPO zuständigen Richter.

7. Schließen sich mehrere Beteiligte zusammen, um fortgesetzt Straftaten eines bestimmten Typus zu begehen, so hat dies nicht ohne weiteres zur Folge, dass die von einem von ihnen auf Grund der Gesamtabrede begangenen Straftaten den anderen Beteiligten als gemeinschaftlich begangene Straftaten im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden können. Vielmehr ist für jede einzelne Tat nach den allgemeinen Kriterien festzustellen, ob die anderen Beteiligten hieran als Mittäter, Anstifter oder Gehilfen mitgewirkt oder überhaupt keinen strafbaren Tatbeitrag geleistet haben.


Entscheidung

299. BGH 5 StR 23/10 – Beschluss vom 24. Februar 2010 (LG Hamburg)

Verfahrensrüge (Begründung); Antrag auf Auswechselung des Verteidigers (konkludente Rücknahme durch Abschluss einer Verständigung).

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 257c Abs. 2 StPO

Im Abschluss einer Verständigung unter Mitwirkung des allein tätig gewordenen Pflichtverteidigers liegt eine

wirksame konkludente Rücknahme des Antrags auf Auswechselung des Pflichtverteidigers.


Entscheidung

283. BGH 3 StR 302/08 – Beschluss vom 16. September 2008 (LG Bückeburg)

Beweiswürdigung (Abweichen vom Gutachten eines Sachverständigen zur Frage der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage).

§ 261 StPO

Es ist im Grundsatz rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter eine von dem Gutachten eines Sachverständigen abweichende eigene Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Zeugen vornimmt, denn der Tatrichter ist im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung stets zu einer eigenen Beurteilung verpflichtet. Weicht der Tatrichter jedoch mit seiner Beurteilung von einem Sachverständigengutachten ab, so muss er sich konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen sowie seine Auffassung tragfähig und nachvollziehbar begründen, um zu belegen, dass er mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt, nachdem er zuvor glaubte, sachverständiger Beratung zu bedürfen.


Entscheidung

282. BGH 3 StR 274/08 – Beschluss vom 7. August 2008 (LG Hannover)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages (Einholung eines Sachverständigengutachtens; völlige Ungeeignetheit des Beweismittels); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

§ 244 Abs. 3 StPO; § 64 StGB; § 246a StPO

1. Ein Beweismittel ist völlig ungeeignet im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO, wenn ungeachtet des bisher gewonnenen Beweisergebnisses nach sicherer Lebenserfahrung feststeht, dass sich mit ihm das im Beweisantrag in Aussicht gestellte Ergebnis nicht erzielen lässt und die Erhebung des Beweises sich deshalb in einer reinen Förmlichkeit erschöpfen würde.

2. Steht die Ablehnung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens in Rede, so kommt es nicht etwa darauf an, ob ein Sachverständiger aus dem ihm zur Verfügung stehenden Tatsachenmaterial sichere und eindeutige Schlüsse ziehen kann. Schon dann, wenn der Sachverständige nur Erfahrungssätze und Schlussfolgerungen darzulegen vermag, die die unter Beweis gestellte Behauptung mehr oder weniger wahrscheinlich machen, und sein Gutachten hierdurch unter Berücksichtigung des sonstigen Beweisergebnisses Einfluss auf die Überzeugungsbildung des Gerichts erlangen kann, ist das Gericht nicht berechtigt, den gestellten Beweisantrag wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels zurückzuweisen.


Entscheidung

280. BGH 3 StR 250/08 – Beschluss vom 17. Juli 2008 (LG Duisburg)

Unzulässige Beschränkung der Verteidigung durch (unterlassenen) Gerichtsbeschluss.

§ 238 StPO; § 338 Nr. 8 StPO

1. Der Revisionsgrund nach § 338 Nr. 8 StPO ist nur gegeben, wenn die Verteidigung durch einen Gerichtsbeschluss unzulässig beschränkt worden ist.

2. Einem Gerichtsbeschluss steht es zwar gleich, wenn die Beschränkung darin liegt, dass es das Gericht unterlässt, einen Antrag der Verteidigung durch Beschluss zu bescheiden. Dies gilt indessen nur dann, wenn über den Antrag der gesamte Spruchkörper zu entscheiden hat. Darf über den Antrag dagegen der Vorsitzende im Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis (§ 238 Abs. 1 StPO) allein befinden, so kann dessen Unterlassen einer Entscheidung die Revisionsrüge nach § 338 Nr. 8 StPO nicht begründen.


Entscheidung

272. BGH 4 StR 599/09 – Beschluss vom 23. Februar 2010 (LG Saarbrücken)

Rüge der unvollständigen Akteneinsicht in TÜ-Protokolle; wesentliche Beschränkung der Verteidigung (Darlegungsanforderungen; erforderliches Bemühen um die Offenlegung der vermissten Aktenbestandteile); Auffangrechtserwerb.

§ 147 StPO; § 338 Nr. 8 StPO; § 111i Abs. 2 StPO

1. Es bleibt offen, ob bei einem zeitweise gegen mehrere Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahren nach der Abtrennung des Verfahrens gegen einen oder mehrere Beschuldigte das Akteneinsichtsrecht im anhängigen Verfahren auch solche Akten oder Aktenteile umfasst, die dem Gericht tatsächlich nicht vorliegen, die aber in dem (auch und noch) gegen die Angeklagten geführten Ermittlungsverfahren wegen der Taten angefallen sind, die letztlich Gegenstand der Anklageschriften geworden sind (vgl. BGH, Urt. vom 18. Juni 2009 – 3 StR 89/09). Dem könnte entgegenstehen, dass sich nach der bisherigen Rechtsprechung der Anspruch auf Akteneinsicht nur auf die dem Gericht tatsächlich vorliegenden Akten bezieht (BGHSt 30, 131, 138, 141, und BGHSt 49, 317, 327 m.w.N.; ähnlich [„bei Gericht vorliegende Unterlagen“] BGHSt 37, 204, 206), also Aktenbestandteile aus anderen Verfahren dem Akteneinsichtsrecht nach § 147 Abs. 1 StPO selbst dann nicht unterliegen, wenn die Verfahren zeitweise gemeinsam geführt, später aber getrennt und diese im formellen Sinne „fremden“ Akten nicht beigezogen wurden (BGHSt 52, 58, 62; vgl. auch BGHSt 50, 224, 229).

2. Für die Annahme, die Verteidigung sei in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt beschränkt worden, genügt es nicht, dass diese Beschränkung nur generell (abstrakt) geeignet ist, die gerichtliche Entscheidung zu beeinflussen. Vielmehr ist § 338 Nr. 8 StPO nur dann gegeben, wenn die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Verfahrensverstoß und dem Urteil konkret besteht. Bei der Rüge der Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt durch Ablehnung eines Antrags auf Beiziehung von Akten bzw. eines Akteneinsichtsantrags ist daher ein substantiierter Vortrag erforderlich, welche Tatsachen sich aus welchen genau bezeichneten Stellen der Akten ergeben hätten und welche Konsequenzen für die Verteidigung daraus

folgten (vgl. BGHSt 30, 131, 138, 143, und BGH StV 2000, 248, 249). Damit korrespondiert das Erfordernis möglichst konkreten Vortrags bei einer Rüge wegen unterlassener Beiziehung von Akten unter dem Aspekt der Verletzung der Aufklärungspflicht (BGHSt 49, 317, 328 m.w.N.; vgl. auch BGH, Beschl. vom 21. Oktober 2004 – 1 StR 324/04).

3. Sollte eine solche konkrete Bezeichnung wesentlichen vorenthaltenen Aktenmaterials dem Verteidiger nicht möglich sein, weil ihm die Akten, in die er Einsicht nehmen will, verschlossen geblieben sind, so muss er sich – damit die Ausnahme von der an sich nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO bestehenden Vortragspflicht gerechtfertigt und belegt wird – jedenfalls bis zum Ablauf der Frist zur Erhebung der Verfahrensrüge weiter um die Akteneinsicht bemüht haben und die entsprechenden Anstrengungen gegenüber dem Revisionsgericht auch dartun (BGHSt 49, 317, 328, und BGH StraFo 2006, 459, 460).


Entscheidung

241. BGH 1 StR 627/09 – Beschluss vom 23. Februar 2010 (LG Baden-Baden)

Verbindung nach den §§ 4 und 5 StPO.

§ 4 StPO; § 5 StPO

1. Nach den §§ 4, 5 StPO können zusammenhängende Strafsachen (§ 2 StPO), von denen die eine im ersten Rechtszug beim Amtsgericht und die andere im ersten Rechtszug beim Landgericht anhängig ist, durch die Strafkammer miteinander verbunden werden (vgl. BGHSt 22, 185, 186).

2. Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 StPO ist das gemeinschaftliche obere Gericht nur dann für den Beschluss über die Verbindung der Strafsachen zuständig, wenn die Voraussetzungen von § 4 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht gegeben sind (vgl. BGHR StPO § 4 Verbindung 9 und 12).


Entscheidung

286. BGH 3 StR 336/08 – Beschluss vom 4. November 2008 (LG Oldenburg)

Strafschärfende Berücksichtigung zulässigen Verteidigungsverhaltens (Rechtskraft des Schuldspruchs); keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei vorrangiger Bearbeitung von Haftsachen über neun Monate.

Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; § 46 StGB

Es ist auch dann unzulässig, das Verteidigungsverhalten eines Angeklagten zu dessen Nachteil zu verwerten, wenn der Schuldspruch bereits rechtskräftig und nur noch über die Strafe zu befinden ist.


Entscheidung

257. BGH 2 StR 427/09 – Urteil vom 3. März 2010 (LG Fulda)

Anforderungen an die Darstellung eines Freispruchs.

§ 267 Abs. 5 StPO

Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, bzw. gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16 m.w.N.). Insbesondere sind die Beweise auch erschöpfend zu würdigen (BGHSt 29, 18, 20). Ist die Beweislage schwierig und hängt die Entscheidung im Wesentlichen davon ab, ob das Gericht den Angaben des potentiellen Opfers einer Sexualstraftat oder dem Angeklagten folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13, 14). Dies gilt insbesondere dann, wenn die einzige Belastungszeugin in der Hauptverhandlung ihre Vorwürfe im Wesentlichen nicht mehr aufrechterhält (BGHSt 44, 153, 159; 256; BGH NStZ-RR 2008, 254).