HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2010
11. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

134. BVerfG 1 BvR 256/08 – Urteil vom 2. März 2010

Vorratsdatenspeicherung; informationelle Selbstbestimmung; Richtlinie 2006/24/EG; Vorrang des Gemeinschaftsrechts; Vorabentscheidungsverfahren; Verfassungsbeschwerde (Zulässigkeit; Solange II); Telekommunikationsfreiheit (Verbindungsdaten; Emails); Geeignetheit (Zielerreichung; Zielförderung); Verhältnismäßigkeit; IP-Adressen; Nichtigkeit; abweichende Meinung (Schluckebier; Eichberger); Datensicherheit.

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 234 EG; § 96 TKG; § 113 TKG; § 113a TKG; § 113b TKG; § 100g StPO; Art. 267 AEU; Art. 10 Abs. 1 GG

1. Eine sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten durch private Diensteanbieter, wie sie die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 (ABl. L 105 vom 13. April 2006, S. 54; im Folgenden: Richtlinie 2006/24/EG) vorsieht, ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar; auf einen etwaigen Vorrang dieser Richtlinie kommt es daher nicht an. (BVerfGE)

2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer solchen Datenspeicherung dem besonderen Gewicht des mit der Speicherung verbundenen Grundrechtseingriffs angemessen Rechnung trägt. Erforderlich sind hinreichend anspruchsvolle und normenklare Regelungen hinsichtlich der Datensicherheit, der Datenverwendung, der Transparenz und des Rechtsschutzes. (BVerfGE)

3. Die Gewährleistung der Datensicherheit sowie die normenklare Begrenzung der Zwecke der möglichen Datenverwendung obliegen als untrennbare Bestandteile

der Anordnung der Speicherungsverpflichtung dem Bundesgesetzgeber gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG. Demgegenüber richtet sich die Zuständigkeit für die Schaffung der Abrufregelungen selbst sowie für die Ausgestaltung der Transparenz- und Rechtsschutzbestimmungen nach den jeweiligen Sachkompetenzen. (BVerfGE)

4. Hinsichtlich der Datensicherheit bedarf es Regelungen, die einen besonders hohen Sicherheitsstandard normenklar und verbindlich vorgeben. Es ist jedenfalls dem Grunde nach gesetzlich sicherzustellen, dass sich dieser an dem Entwicklungsstand der Fachdiskussion orientiert, neue Erkenntnisse und Einsichten fortlaufend aufnimmt und nicht unter dem Vorbehalt einer freien Abwägung mit allgemeinen wirtschaftlichen Gesichtspunkten steht. (BVerfGE)

5. Der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten sind nur verhältnismäßig, wenn sie überragend wichtigen Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienen. Im Bereich der Strafverfolgung setzt dies einen durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der Nachrichtendienste dürfen sie nur bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine gemeine Gefahr zugelassen werden. (BVerfGE)

6. Eine nur mittelbare Nutzung der Daten zur Erteilung von Auskünften durch die Telekommunikationsdiensteanbieter über die Inhaber von Internetprotokolladressen ist auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben zulässig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten können solche Auskünfte nur in gesetzlich ausdrücklich benannten Fällen von besonderem Gewicht erlaubt werden. (BVerfGE)

7. Eine Vorlage durch das BVerfG an den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens kann insbesondere in Betracht kommen, wenn die Auslegung oder die Wirksamkeit von Gemeinschafts- beziehungsweise Unionsrecht in Frage steht, das Vorrang vor innerstaatlichem Recht beansprucht und dessen Umsetzung vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes geprüft wird. Jedoch kann eine solche Vorlage nur dann zulässig und geboten sein, wenn die Auslegung beziehungsweise Wirksamkeit des Unionsrechts für das BVerfG entscheidungserheblich ist. (Bearbeiter)

8. Eine Verfassungsbeschwerde ist nicht von vornherein wegen der eingeschränkten Ausübung der Gerichtsbarkeit des BVerfG über die Umsetzung von Unionsrecht („Solange II“) unzulässig, wenn innerstaatliche Umsetzungsakte zwingenden Unionsrechts mit dem Ziel angegriffen werden, über eine Vorlage an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren die Nichtigkeit des unionsrechtlichen Rechtsakts feststellen zu lassen, damit das BVerfG den innerstaatlichen Umsetzungsakt sodann allein am Maßstab des Grundgesetzes misst, und der Beschwerdeführer für den Fall der Nichtigkeit der unionsrechtlichen Vorgaben plausibel die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung durch den Umsetzungsakt geltend macht. (Bearbeiter)

9. Die Vertraulichkeit von Diensten der elektronischen Post wird durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützt. Dass sich E-Mails technisch leicht abfangen lassen, ändert an deren vertraulichem Charakter und ihrer Schutzwürdigkeit nichts. (Bearbeiter)

10. Art. 10 Abs. 1 GG verbietet nicht jede vorsorgliche Erhebung und Speicherung von Daten überhaupt, sondern schützt vor einer unverhältnismäßigen Gestaltung solcher Datensammlungen und hierbei insbesondere vor entgrenzenden Zwecksetzungen. Strikt verboten ist lediglich – ebenso wie im Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung – die Speicherung von personenbezogenen Daten auf Vorrat zu unbestimmten und noch nicht bestimmbaren Zwecken. (Bearbeiter)

11. Der Geeignetheit einer gesetzlichen Regelung kann nicht entgegenhalten werden, dass sie auch unterlaufen werden kann. Denn die Geeignetheit erfordert nicht, dass das Regelungsziel in jedem Einzelfall tatsächlich erreicht wird, sondern lediglich, dass die Zweckerreichung gefördert wird. (Bearbeiter)