HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2009
10. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Der Preis der Freiheit

Kommentar zur strafrechtlichen (Nicht-)Aufarbeitung der Finanzmarktkrise im Vergleich zum sog. Sengera-Urteil des BGH (BGH HRRS 2009 Nr. 900)

Von Rechtsanwalt Dr. h.c. iur. Gerhard Strate, Hamburg

Die unlängst - auch im SPIEGEL - zu lesenden Kommentare zum Jahrestag des Lehman-Konkurses und der dadurch unmittelbar ausgelösten Finanzkrise erwecken den Eindruck, als habe es sich um ein Ereignis gehandelt, dessen Zustandekommen und Vorhersehbarkeit der Verantwortung Einzelner entzogen gewesen wäre. Sogar Putin wird zitiert: "Nicht einzelne Personen haben verantwortungslos gehandelt, sondern das System selbst ist verantwortungslos". Der zweite Halbsatz dieser Aussage ist richtig, der erste falsch.

Wir leben in einer der Freiheit verpflichteten Gesellschaft, in der die Menschenwürde ihr Spiegelbild in der Verantwortung findet. Ausdruck dieser Erkenntnis ist die staatliche Strafgewalt, die im Rahmen eines rechtlich geordneten Verfahrens nach persönlichen Verantwortlichkeiten fragt, wenn gesetzlich geschützte Rechtsgüter verletzt wurden. Im Umgang mit der Finanzkrise jedoch verlegen sich die Staatsanwaltschaften überwiegend aufs Abwarten, geben sich halbherzig oder gar gelähmt. Der Jahrestag des Lehman-Zusammenbruchs findet bei ihnen, die sich sonst häufig als Kavallerie der Justiz aufführen, in einem Zeltlager in der Etappe statt. Allein die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf hat in der Aufarbeitung der Finanzkrise sich um einige Schritte bewegt: Der frühere Vorstandsvorsitzende der Mittelstandsbank IKB wurde wegen Börsenmanipulation und Untreue angeklagt. Aber nicht wegen der vielen Milliarden Euro, die während seiner Amtszeit in heute nicht mehr handelbare Derivative versenkt wurden. Ihm wird u.a. als Untreue vorgeworfen, auf Bankkosten eine überteuerte Hifi-Anlage gekauft zu haben.

Jeder Arzt, der einen Heileingriff vornimmt, ohne seinen zu operierenden Patienten über die Erfolgsaussichten und Risiken aufzuklären, ist einer Anklage wegen Körperverletzung sicher, dies selbst dann, wenn eine Aufklärung stattgefunden, aber eine Einwilligung des Patienten nicht vorgelegen hat. Jeder Leiter eines kleinen Handwerksbetriebes steht als Garant für die Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften ein. Werden sie vernachlässigt und kommt es zu einem tödlichen Unfall, ist der Vorwurf der fahrlässigen Tötung schnell anklagereif.

Sind die Verantwortlichen in den Großbanken "systemisch" von jeder strafrechtlichen Verantwortung von vornherein freizusprechen? Wer genauer hinsieht, wird schnell erkennen, dass jene Lehren, die nach den Worten des Deutsche-Bank-Chefs Ackermann von den Banken aus der Finanzkrise gezogen werden - Verbesserung des Risikomanagements, intensive "Stresstests", Erhöhung des Eigenkapitals -, nicht neu sind. Sie wurden schon viel früher gewonnen und in detaillierten Empfehlungen umgesetzt. Genannt seien hier nur die bereits 1994 vom Baseler Ausschuss für die Bankenaufsicht herausgegebenen "Richtlinien für das Risikomanagement im Derivativgeschäft". Eine Teilnahme daran soll nur verantwortet werden können, wenn es "vollständig durch eine angemessene Eigenkapitalbasis unterlegt" ist. Den Banken wird aufgegeben, regelmäßige Stresstests durchzuführen, die auch den "worst case" und seine Auswirkungen auf den Bestand des gesamten Instituts umfassen sollen. Hierbei wird als "worst case" ausdrücklich auch die Illiquidität des Marktes (für Derivative) benannt - eben jene Situation, die 2008 eingetreten ist. Die Richtlinien des Baseler Ausschusses wurden fast wörtlich ein Jahr später, im Oktober 1995, durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen übernommen und galten nach der Installation des BaFin unverändert bis Dezember 2005 fort.

Was ist insbesondere von Landesbanken zu halten, die sich bis zum Wegfall der Gewährträgerhaftung im Juli 2005 bei den Zentralbanken mit Abermilliarden Euro auf Vorrat billig eingedeckt und diese überschüssigen Mittel nahezu in gleicher Höhe an die (überwiegend amerikanischen) Emittenten von Derivativen weitergegeben haben? Ihre Verantwortlichen kannten die Richtlinien des Baseler Ausschusses und des Bundesamtes für das Kreditwesen. Ein Risikomanagement, das zur Durchführung eines "worst-case"-Szenarios in der Lage war, hatten sie

nicht (das gilt - belegbar - zumindest für die HSH Nordbank und die SachsenLB).

Die Richtlinien wurden schlicht ignoriert. Dies ist umso sträflicher, als immer wieder einzelne Eruptionen auf dem Kapitalmarkt die Gefährlichkeit der Derivativgeschäfte offenbarten: So der Zusammenbruch des Hedgefonds LTCM im Jahre 1998, der schon damals fast zum Kollaps des Finanzsystems geführt hätte. Zu den warnenden Signalen zählt auch der im Jahre 2000 erfolgte Konkurs des texanischen Energiehändlers Enron, der im Kern ein Derivatehändler war. Auch mehrten sich bereits seit 2003 in der Fachpresse und den Wirtschaftsteilen der großen Tageszeitungen die Hinweise auf ein Platzen der amerikanischen Immobilienpreisblase.

Die Krise des Finanzsystems mag zeitweise apokalyptische Ausmaße angenommen haben. Sie kam aber nicht daher wie ein unberechenbares Erdbeben oder gar wie ein Tsunami. Sie war zu großen Teilen bestimmt durch Menschen, die in verantwortlicher Position verantwortungslos gehandelt haben.

Fast wie ein Fossil aus unvordenklicher Vorzeit wirkt im Vergleich der Fall des ehemaligen WestLB-Vorsitzenden Jürgen Sengera. Der Vorstand der WestLB hatte unter seinem Vorsitz im Jahre 1999 eine Finanzierung des britischen Unternehmens Boxclever beschlossen. Die Rückführung des Kredits sollte durch Verbriefung der den Kunden von Boxclever gewährten Kleinkredite erfolgen. Das misslang. Der Schaden für die WestLB betrug 400 Mio. Euro. Der viele Jahre später erfolgte Freispruch durch das Landgericht Düsseldorf wurde vom Bundesgerichtshof am 13.8.2009 aufgehoben. In der jetzt vorgelegten Begründung des BGH-Urteils heißt es (vgl. in dieser Ausgabe BGH HRRS 2009 Nr. 900):

"Die Verneinung des Schädigungsvorsatzes mit der Begründung, die vorhandenen Risiken in ihrer drohenden Realisierung seien nicht konkret erkennbar gewesen, ist zirkulär und somit rechtsfehlerhaft, weil als Grund für die fehlende Erkennbarkeit das pflichtwidrige Unterlassen einer Risikoanalyse zumindest nahe liegt."

Was für Sengera möglicherweise gilt - das wird in einer neuen Hauptverhandlung zu klären sein -, gilt sehr viel mehr und erst recht für jene Banker, die ohne jedes Risikomanagement, allein im Vertrauen auf die Empfehlungen nicht zertifizierter Analysten hin, hunderte von Milliarden Euro in heute wertlose Papiere investiert haben. Die Freiheit, so gehandelt zu haben, muss ihren Preis haben. Auch strafrechtlich.