HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2009
10. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Ende und Wiederaufleben der Insolvenzantragspflicht

Anmerkung zu BGH 5 StR 166/08 – Beschluss vom 28. Oktober 2008 (HRRS 2008 Nr. 1119).

Von Dr. Katharina Beckemper, Wissenschaftliche Assistentin, Potsdam

Das Erlöschen und das Wiederaufleben der Insolvenzantragspflicht des GmbH-Geschäftsführers gehören zu den umstrittensten Problemen der Insolvenzverschleppung nach § 84 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 64 Abs. GmbHG.[1] Die praktisch relevanteste Frage ist dabei, ob der Geschäftsführer auch dann noch einen Insolvenzantrag stellen muss, wenn dies zuvor schon ein Gläubiger getan hat. Außerdem ist zweifelhaft, ob nach der Ablehnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse nach der Löschung der Gesellschaft der Liquidator einen – erneuten – Insolvenzantrag stellen muss, wenn sich im nachhinein herausstellt, dass die GmbH über so viele finanzielle Mittel verfügt, dass die Kosten des Insolvenzverfahrens gedeckt werden bzw. der GmbH nach Löschung solche Mittel nachträglich zufließen. Der BGH hatte in vorliegender Entscheidung über beide Streitpunkte zu entscheiden.

Das Zusammentreffen der genannten Konstellationen ist juristisch spannend, weil es nicht oft vorkommt, dass ein Gericht über zwei Fallgestaltungen zu entscheiden hat, in denen sich die gleichen Grundsätze der Auslegung gegenüberstehen und sich widerstreiten. Strafbar kann die unterlassene Antragsstellung nämlich nur sein, wenn dies vom Wortlaut der Norm gedeckt und außerdem das Rechtsgut verletzt oder zumindest gefährdet ist. Es zeigt sich hier jedoch, dass im ersten Fall der Wortlaut die Nichtanzeige der Insolvenz deckt, aber das Rechtsgut nicht gefährdet ist; im zweiten Fall eine Strafbarkeit trotz Gefährdung des Rechtguts daran scheitert, dass der Wortlaut überdehnt würde. Das sieht der BGH nur zum Teil.

Nicht zuzustimmen ist dem Senat deshalb in dem Ergebnis, dass sich der Geschäftsführer wegen Insolvenzverschleppung strafbar macht, wenn bereits ein Gläubiger einen Insolvenzantrag gestellt hat.[2] Der Wortlaut der Insolvenzverschleppung enthält keine Einschränkung auf die Fälle, in denen der Schuldner den Erstantrag stellt. Mit dem Gesetzestext ist die Lösung des BGH deshalb durchaus zu vereinbaren. Keine Beachtung schenkt der Senat aber dem Rechtsgut der Insolvenzverschleppung. Da die nahezu einhellige Auffassung in der strafrechtli-

chen Literatur davon ausgeht, dass es die zentrale Aufgabe des Strafrechts ist, Rechtsgüter vor Gefährdung und Verletzung zu schützen,[3] muss notwendigerweise auch die Inhaltsbestimmung einer Strafnorm vom Rechtgut beeinflusst sein.[4] Die Rechtsgutsverletzung ist zwar für ein am Rechtsgüterschutz orientiertes Strafrecht der eindeutigste Unrechtserfolg, sie ist aber nicht erforderlich. Ein strafbarer Angriff gegen die geschützten Rechtsgüter kommt auch bereits im Vorfeld einer Verletzung in Betracht, wenn er durch ein Gefährdungsdelikt pönalisiert ist.[5] Die Insolvenzverschleppung ist ein solches Gefährdungsdelikt, weil das Unterlassen des Insolvenzantrages die Interessen der Gläubiger gefährdet, indem eine zahlungsunfähige oder überschuldete GmbH weiter am Geschäftsverkehr teilnimmt und damit u.U. die Vermögenswerte weiter schmälert. Schutzgut der Insolvenzverschleppung ist folglich das Vermögen der gegenwärtigen oder auch der zukünftigen Gläubiger oder – wie z.T. in der Rechtsprechung[6] und der Literatur[7] vertreten – sogar aller Stakeholder. Die Möglichkeit der Verletzung dieses Rechtsgut hätte der Senat bei der Interpretation des Insolvenzverschleppungstatbestandes berücksichtigen müssen.

Charakteristikum der abstrakten Gefährdungsdelikte ist, dass sie auch schon vorliegen, wenn eine konkrete Gefahr nicht vorliegt. Deshalb muss der Richter diese im Einzelfall auch nicht nachweisen. Die tatbestandsmäßige Handlung muss aber grundsätzlich gefährlich sein,[8] d.h., eine Gefahr für das Rechtsgut muss zumindest theoretisch denkbar sein. Es ist das Charakteristikum abstrakter Gefährdungsdelikte, dass sie bisweilen auch Verhaltensweisen erfassen, die aufgrund bestimmter Umstände ungefährlich sind. Diese Problematik ist im Wirtschaftsstrafrecht nicht neu. Vor allem den sog. Vorfeldtatbeständen des Betrugs, dem Subventions-, Kapital- und Kreditbetrug, die allesamt nur eine Täuschung, aber keine wie auch immer geartete Gefährdung des Vermögens verlangen, wird deshalb bisweilen die Legitimität abgesprochen.[9] Die h.M. geht dagegen bekanntlich einen anderen Weg. Da das Strafrecht das Vermögen nicht vor abstrakten Gefährdungen schützen dürfe, seien die Vorfeldtatbestände nur legitim, wenn sie nicht das Vermögen, sondern darüber hinaus gehende überindividuelle Rechtsgüter hätten.[10] Diese Schlussfolgerung ist aber keineswegs zwingend. Es besteht kein Grund, dass das Strafrecht nicht vor abstrakten Vermögensgefährdungen schützen dürfe. Die Suche nach immer neuen überindividuellen Rechtsgütern, um die Legitimität von abstrakten Gefährdungsdelikten zu untermauern, ist letztlich ein erster Erfolg der Rechtsgutslehre.[11] Statt dem Ergebnis, dass die Tatbestände zu weit geraten sind, zu entgehen, indem überindividuelle Rechtsgüter gesucht werden, sollte ausgehend vom Rechtsgut Vermögen nach einer sinnvollen Einschränkung dieser Tatbestände gesucht werden. Durch eine restriktive Auslegung sollen so nur Verhaltensweisen erfasst werden, die das Vermögen zumindest theoretisch überhaupt verletzen können.[12] Auch die Insolvenzverschleppung als abstraktes Vermögensgefährdungsdelikt ist deshalb auf die Fallgestaltungen zu begrenzen, in denen die Möglichkeit einer Rechtsgutsgefährdung besteht.[13]

Diese Möglichkeit besteht nicht mehr, wenn bereits ein Gläubiger den Insolvenzantrag gestellt hat. Die Entscheidung des Gerichts über die Eröffnung des Insolvenzantrages ist durch den Antrag des Gläubigers initiiert worden und wird durch einen Schuldnerantrag nicht beschleunigt. Wie in der Literatur[14] zutreffend betont, ist der Schuldner nicht mehr verpflichtet, ein besonderes Verzeichnis der Gläubiger und Schuldner sowie eine Übersicht über die Vermögensmasse mit seinem Insolvenzantrag zusammen vorzulegen. Er hat lediglich Auskünfte zu erteilen. Dies gilt aber unabhängig davon, ob der Schuldner oder der Gläubiger den Insolvenzantrag stellt. Ein Antrag des Schuldners hat deshalb keinen Einfluss auf die Entscheidung oder auf die Geschwindigkeit des Entscheidungsprozesses. Die zahlungsunfähige oder überschuldete GmbH existiert nicht länger, wenn der Schuldner keinen Antrag stellt. Damit ist aber auch die Gefährdung des Vermögens der Gläubiger ausgeschlossen. Der Senat weist zwar richtig darauf hin, dass es dem Gläubiger frei stehe, seinen Antrag zurückzuziehen. Diese – zunächst nur theoretische – Möglichkeit gibt dem Unterlassen des Insolvenzantrags durch den Schuldner aber noch nicht die Gefährlichkeit, die für die Strafbarkeit erforderlich ist. Es ist nämlich wenig wahrscheinlich, dass ein Gläubiger seinen Antrag zu-

rückzieht. Solange eine Rechtsgutsgefährdung aber unwahrscheinlich ist, fehlt der Handlung die notwendige Angriffsintensität, um strafbar zu sein.[15] Liegt damit objektiv der Gläubigerantrag vor, ist der Tatbestand der Insolvenzverschleppung einschränkend auszulegen, auch wenn nach dem Wortlaut das Unterlassen eines Insolvenzantrages bei vorangegangenem Gläubigerantrag erfasst wäre.

Daraus folgt aber auch, dass die Insolvenzantragspflicht wieder auflebt, wenn der Schuldner seinen Antrag zurückzieht. In diesem Fall besteht die Gefahr für das Rechtsgut, weil das Gericht aufgrund des Amtsermittlungsanspruchs die Voraussetzungen für ein Insolvenzverfahren nicht mehr prüft. Das Nichtstellen des Antrags durch den Schuldner ist deshalb für das Rechtsgut gefährlich. Der Geschäftsführer macht sich folglich – u.U. erneut – wegen Insolvenzverschleppung strafbar, wenn er keinen Antrag stellt.

Die Heranziehung der gleichen Gesichtspunkte führt in der zweiten Konstellation zu einem gegenteiligen Ergebnis. Das Rechtsgut ist sicherlich gefährdet, wenn der Geschäftsführer keinen Insolvenzantrag stellt, wenn erst nach der Löschung die Voraussetzungen für die Durchführung eines Insolvenzverfahrens vorliegen, weil genügend Masse vorhanden ist, die Kosten dieses Verfahren zu decken. Eine gleichmäßige Befriedigung der Gläubiger durch ein Insolvenzverfahren hat nach Löschung den gleichen Stellenwert wie davor. Um dem Gericht die Möglichkeit zu geben, die Entscheidung auf den veränderten Bedingungen treffen zu können, liegt es nahe, dem Liquidator die Pflicht aufzuerlegen, einen Insolvenzantrag zu stellen, wenn die Vermögenswerte erst nach der Löschung der GmbH entdeckt werden oder ihr erst dann zufließen. Ohne diese Pflicht des Liquidators kann das Gericht das Verfahren nicht eröffnen. Mangels eines ordnungsgemäßen Verfahrens wird deshalb das Vermögen der Gläubiger gefährdet, so dass die rechtsgutsorientierte Auslegung zu einer Strafbarkeit wegen Insolvenzverschleppung kommen müsste.

Dennoch ist dem BGH zuzustimmen, dass ein Untätigwerden des Geschäftsführers nicht zu einer Strafbarkeit wegen Insolvenzverschleppung führt. Der Normadressat kann sein Verhalten nur an den Normbefehl anpassen, der dem Gesetz nach dem Wortlaut zu entnehmen ist. Eine Interpretation einer Norm, die mit dem Wortsinn nicht zu vereinbaren ist, kann deshalb keinen wirksamen Normbefehl beschreiben. Der mögliche Wortsinn zieht also die Grenze der Auslegung[16] und gibt den Rahmen für die Interpretation vor. Eine Überschreitung der so gezogenen Grenzen ist keine Auslegung, sondern Rechtsfortbildung.[17]

§ 64 Abs. 2 GmbHG spricht ausdrücklich von der Insolvenzantragspflicht, wenn die Gesellschaft zahlungsunfähig oder überschuldet wir d .[18] Der Wortlaut verlangt also ausdrücklich den Eintritt der Krise. Diesem eindeutigen Wortlaut lässt sich eine fortbestehende Krise, die sich sogar verringert hat, nicht subsumieren. Die These, auch nach Ablehnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse müsse der Geschäftsführer einen Insolvenzantrag stellen, wenn später genügend Masse für ein Insolvenzverfahren vorhanden ist,[19] kann deshalb nicht zutreffen. Auch wenn das Interesse der Gläubiger an der Durchführung eines Insolvenzverfahrens in dieser Situation ebenfalls gegeben ist, so setzt doch der Wortlaut trotz Gefährdung des Rechtsgutes hier eindeutige Grenzen. Der Senat hat folglich zutreffend darauf hingewiesen, dass es eine Verletzung des Analogieverbotes bedeuten würde, einen erneuten Insolvenzantrag zu verlangen.


[1] Seit dem 1. Oktober 2009 in § 15a InsO einheitlich für alle Gesellschaften geregelt.

[2] So im Ergebnis auch Tiedemann, in: Scholz, GmbHG, 4. Auflage (2002), § 84 Rn. 9; Wegner, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Auflage (2007), Kap. VII Rn. 43; a.A. Schaal, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), G 131, 169 Ergänzungslieferung, März (2008), § 84 Rn. 21.

[3] Statt vieler: Hefendehl, in: MüKo, Strafgesetzbuch (2003); Einl. Rn. 26; Hassemer/Neumann, in: NK, 2. Auflage (2005), vor § 1 StGB Rn. 108 ff; Krey, Strafrecht AT 1, 3. Auflage (2008), § 1 Rn. 5; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Auflage (2003), § 3 Rn. 10 ff..

[4] Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 57 ff.; v. Hirsch, in: Hefendehl/Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 13; Krey, a.a.O. (Fn. 3), § 1 Rn. 8.

[5] Geppert Jura 1989, 417, 418; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, 27. Auflage (2006), Vor §§ 13 ff. StGB Rn. 129.

[6] BGH NJW 1982, 1952, 1954; BGH wistra 1982, 191.

[7] Schaal, in: Erbs/Kohlhaas, a.a.O. (Fn. 2), § 84 GmbHG Rn. 1; krit. Tiedemann, in: Scholz, a.a.O. (Fn. 2), § 84 Rn. 9.

[8] Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik "moderner" Gefährdungsdelikte, (2000), S. 305 f.

[9] Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, (2005), S. 294. Ausführlich zu fehlenden Legitimität der abstrakten Gefährdungsdelikte Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, (1998), S. 380.

[10] Bottke, wistra 1991, 1, 7.; Perron, in: Schönke/Schröder, a.a.O. (Fn. 5), § 265b Rn. 3; Wohlers, a.a.O. (Fn. 8), S. 177.

[11] Anastasopoulou , a.a.O. (Fn. 9), S. 294

[12] So wohl auch Schünemann, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers, a.a.O. (Fn. 4), S. 133, 151.

[13] Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, (1962), S. 65 f.; krit. zu solchen Einschränkungen Zieschang, a.a.O. (Fn. 9), S. 22 ff.

[14] Wegner, in: Achenbach/Ransiek a.a.O (Fn. 2), Kap.  VII Rn. 43.

[15] Cramer, a.a.O. (Fn. 9), S. 67, krit.  Zieschang, a.a.O. (Fn. 9), S. 23 ff.

[16] BVerfGE 14, 174, 185; 25, 269, 285; 82, 236, 269; BGHSt 3, 300, 303; 4, 144, 148; 29, 129, 133.

[17] Gast, Juristische Rhetorik, 4. Auflage (2006), S. 768.

[18] Den gleichen Wortlaut enthält auch § 15a InsO, so dass auch unter der Neuregelung ein erneuter Antrag nicht erforderlich ist.

[19] So Schaal, in: Erbs/Kohlhaas, a.a.O. (Fn. 2), § 84 Rn. 22.