HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2008
9. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Bewährung trotz Vollverbüßung in Untersuchungshaft?

Zugleich Anm. zu BGH 3 StR 159/08, Urteil v. 26. Juni 2008 = HRRS 2008 Nr. 847

Von Dr. Jörg Ziethen, Frankfurt am Main *

I. Überblick

Der Vollzug von Untersuchungshaft kann dazu führen, dass der dortige Freiheitsentzug die im Urteil auszusprechende Strafe erreicht oder gar übersteigt. Eine solche "vorzeitige Vollverbüßung" bereitet ein besonderes Problem, wenn die auszusprechende Strafe an sich zur Bewährung ausgesetzt werden könnte. Der BGH vertritt in zuletzt beiläufig bestätigter Rechtsprechung den Standpunkt, dass bei vorzeitiger Vollverbüßung eine Bewährungsstrafe nicht in Betracht komme; vielmehr müsse – und zwar zu Gunsten des Angeklagten – eine Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe erfolgen. Der nachfolgende Beitrag setzt sich mit dieser Rspr. kritisch auseinander und plädiert für eine alternative Problemlösung, welche auch in Fällen der vorzeitigen Vollverbüßung dem Verurteilten den Rechtsvorteil der Bewährungsstrafe erhält.

II. Verhältnis von Bewährungs- und unbedingter Freiheitsstrafe

Das Institut der Bewährungsstrafe hat im Jahre 1953 Einzug in das StGB (dort § 23)[1] gehalten und wurde im Zuge der Großen Strafrechtsrechtsreform von 1969 (nunmehr §§ 56 ff.) ausgebaut.[2] Nach heute gängiger Interpretation dient es dazu, auf Grundlage des rechtsstaatlichen Übermaßverbots die repressive Reaktion auf das Maß des Erforderlichen zu begrenzen.[3] Bestimmt wird dieses Maß durch die Abwägung zwischen dem spezialpräventiven Strafzweck effektiver Resozialisierung, das durch einen kurzzeitigen Strafvollzug regelmäßig Schaden leidet, und dem Gebot schuldangemessener Bestrafung zum Zwecke des Schuldausgleichs und ggf. der generalpräventiven Einwirkung auf die Allgemeinheit, welches eine Sanktion erfordern kann, die über eine bloße Geldstrafe hinausgeht. Im vorgenannten Sinne siedelt die Bewährungsstrafe als Zwischenglied der Sanktionskette zwischen Geld- und Freiheitsstrafe und ist gegenüber der letztgenannten als die mildere Sanktion zu verstehen.[4] Begründen lässt sich dieses Stufenverhältnis grundsätzlich auf zweierlei Weise.

Bei einer prinzipienorientierten Betrachtung folgt das vorgenannte Stufenverhältnis einer durchgängigen Strukturentscheidung der gesamten Sanktions- und Sanktionsfolgenordnung. Die Strafaussetzung zur Bewährung kommt für einen gemessen am allgemeinen Strafrahmen (§ 38 StGB) schmalen Bereich am unteren Rand des Spektrums in Betracht. Die Bewährungsstrafe setzt demnach – retrospektiv – ein Mindermaß von Unrecht und

Schuld voraus; kehrseitig ist das Mindermaß von Unrecht und Schuld ein Umstand, welcher die Strafaussetzung zur Bewährung begründet (§ 56 Abs. 2 StGB). Zugleich bringt die Rechtsordnung durch die Bewährung – prospektiv – zum Ausdruck, dass sie dem Verurteilten zutraut und ihm darin vertraut, sich ohne stationäre Einwirkung zu bessern und zukünftig ein geordnetes und rechtstreues Leben zu führen. Insoweit liegt in der Strafaussetzung ein den persönlichen Strafmakel minderndes Zuerkenntnis einer günstigen Kriminalprognose. Hinzu tritt schließlich, dass der zur Bewährungsstrafe Verurteilte im Erfolgsfalle den Strafmakel früher verliert und sich daher schneller als unbestraft bezeichnen darf (§§ 34, 46, 53 BZRG).

Zur gleichen Bewertung gelangt man grundsätzlich auch bei einer folgenorientierten Betrachtung: Zwar bringt die Bewährungszeit eine Reihe von Beeinträchtigungen, welche für die Freiheitssphäre des Betroffenen nachteilig sind, mit sich, insbesondere durch die gerichtliche Überwachung seiner Lebensführung (§ 453b StPO), die Möglichkeit von Weisungen (§ 56c StGB) oder die Unterstellung unter einen Bewährungshelfer (§ 56d StGB).[5] Indessen ist die Rechtsguteinbuße im Falle des unbedingten Freiheitsentzugs zweifellos größer. Durch die Inhaftierung erleidet der Betroffene eine massive Verkürzung seiner Freiheitsrechte; der Entzug der persönlichen Freiheit schränkt den Gebrauch nahezu sämtlicher anderer Grundrechte tatsächlich wie rechtlich ein. Die Bewährungsstrafe führt demgegenüber zu einer nur partiellen Verkürzung der Handlungsfreiheit. Der Betroffene verbleibt – insbesondere im Hinblick auf soziale Kernbereiche wie Familie, Beruf und Kommunikation – im Genuss einer Position, wie sie auch dem Unbestraften zuteil wird.

Tritt man an das Problem der Vorverbüßung infolge von Untersuchungshaft im Lichte der vorgenannten Begründungen heran, so ergibt sich bei prinzipienorientierter Betrachtung keine entscheidungserhebliche Änderung im Stufenverhältnis von Bewährungs- und unbedingter Freiheitsstrafe. Die Untersuchungshaft dient von Rechts wegen ausschließlich dem staatlichen Interesse an der Absicherung des Strafverfahrens (§§ 112, 230 StPO) bzw. der Kriminalprävention (§ 112a StPO). Sie begründet daher für den "unschuldig" Verfolgten ein Sonderopfer im haftungsrechtlichen Sinne[6] und löst kehrseitig die staatliche Verpflichtung zur Entschädigung aus, welche das Gesetz nach § 2 StrEG vollzieht. Aber auch für den "schuldig" Verfolgten begründet die Untersuchungshaft eine Einbuße an Freiheitsrecht, die eine aufopferungsgleiche Lage[7] begründen kann. Jedenfalls ist sie ein staatlich veranlasster Nachteil, den das Gesetz zugunsten des Betroffenen anerkennt. Handelt es sich demnach bei der Anrechnung von Untersuchungshaft um eine abwägungserhebliche Maßnahme zugunsten des Verurteilten, so kann diese aus Gründen der Wertungseinheit das zugunsten des Verurteilten bestehende Stufenverhältnis zwischen Bewährungs- und unbedingter Freiheitsstrafe nicht aufheben.

Bei folgenorientierter Betrachtung formuliert die Vorverbüßung hingegen für die Bestimmung des Stufenverhältnisses von Bewährungsstrafe und unbedingter Freiheitsstrafe ein Problem: Auf der einen Seite droht dem Verurteilten durch den Fortfall der Vollstreckungsmöglichkeit kein weiterer Freiheitsverlust; wird infolge der Anrechnung von Untersuchungshaft eine verhängte Strafe vollständig abgegolten, so verlässt der Betroffene den Gerichtssaal als "freier Mensch". Demgegenüber würde sich der Betroffene durch den Status der Bewährung und die damit grundsätzlich verbundenen staatlichen Eingriffs- und Überwachungsbefugnisse schlechter stellen. Auf der anderen Seite verbleibt es dabei, dass die Bewährungsstrafe den Betroffenen infolge der verkürzten Aufnahme- und Tilgungsfristen (vgl. §§ 34, 46 BZRG) jedenfalls registerrechtlich besser stellt. Ob dies bei Gesamtbetrachtung dazu führt, dass sich die Relation von unbedingter Freiheits- und Bewährungsstrafe umkehrt, hängt von einer Abwägung beider Faktoren ab, für die ein allgemein verbindlicher Maßstab allerdings kaum ersichtlich ist. So mag es für den einen Verurteilten erstrebenswerter sein, sich zeitnäher vom Strafmakel zu befreien, während für den anderen die registerrechtlichen Nachteile unerheblich bleiben, so dass er durch die unbedingte Freiheitsstrafe weniger belastet wird. Auf Grundlage der folgenorientierten Betrachtung kommt es somit letztlich auf eine den Einzelfall betrachtende materielle Abwägung an.

III. Grundsatzentscheidungen des BGH

Der BGH hat sich mit dem hiesigen Problem der Anrechnung vollverbüßter Untersuchungshaft sowohl für den älteren Rechtszustand des § 23 StGB-1953[8] als auch für den reformierten Rechtszustand auseinander gesetzt. Die zum älteren Rechtszustand ergangene Grundsatzentscheidung[9] betraf die Revision eines wegen Beihilfe zu einem Sexualdelikt zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe Verurteilten, der sich bereits siebeneinhalb Monate in Untersuchungshaft befunden hatte und bewährungsunwillig war. Der BGH verhalf der Revision zum Erfolg. Zwar sei das Interesse eines Verurteilten, "lieber seine Strafe alsbald zu verbüßen als sich den gesetzmäßigen, zumutbaren Gesetzesauflagen zu fügen", nicht im Sinne einer Beschwer schutzwürdig. Wohl aber bringe der Ausspruch über die Bewährung den Verurteilten in die Lage "beweisen zu müssen", imstande zu sein, ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu führen. Wer hingegen seine Strafe voll verbüßt habe, brauche dies nicht. Er unterliege der schlichten gegen jedermann gerichteten Erwartung, sich (zukünftig) straffrei zu führen. Zu Unrecht meine daher das Tatgericht, dass die Bewährung als Hilfestellung zur Erreichung des Ziels zukünftiger Straffreiheit eine Vergünstigung sei, die dem Verur-

teilten nicht vorenthalten werden dürfe. Vielmehr bringe der Ausspruch über die Strafaussetzung zur Bewährung den Vorverbüßer in eine "schlechtere Lage".

Dieser Linie ist der BGH auch für den Rechtszustand nach 1969 gefolgt – wenn auch mit anderer Zielrichtung. In seiner jüngeren Grundsatzentscheidung[10] wandte sich der BGH gegen die Revision des Angeklagten, der nach Anklage wegen Totschlags lediglich aufgrund eines Körperverletzungsdelikts verurteilt worden war. In seiner die Revision verwerfenden Entscheidung stellte der BGH zunächst die Übertragbarkeit des zu § 23 StGB-1953[11] entwickelten Gedankens auf die reformierte Rechtslage fest. Sodann anerkannte der BGH zwar die Erheblichkeit der zwischenzeitlich eingetretenen registerrechtlichen Bedeutung der Strafaussetzung, setzte ihr aber eine funktionale Betrachtung entgegen. Bewährung und Verlust der Vollstreckbarkeit infolge der Anrechnung seien miteinander unverträglich. Der Verurteilte solle durch die bei Bewährungsversagen drohende Strafvollstreckung und durch den bei Bewährungserfolg zu erwartenden Straferlass zu einem Leben ohne Straftat angehalten werden. Diese motivierende Wirkung falle durch die Anrechnung weg. Mit Blick auf die Abwägung der Belastungswirkung der Bewährungsauflagen einerseits und der registerrecht-lichen Vorteile der Bewährung andererseits verwies der BGH schließlich auf die Möglichkeit, eine vorzeitige Tilgungsanordnung durch den Generalbundesanwalt (§§ 37, 47 BZRG a.F.; jetzt §§ 39, 49 BZRG) herbeizuführen. Im Ergebnis stellte der BGH daher ein Überwiegen der bewährungsrechtlichen "Nachteile" fest.

Die hiesige Entscheidung[12] setzt diese Rechtsprechung fort und vertieft sie. Der Sache lag erneut die Konstellation einer Anklage wegen eines Tötungsdelikts zugrunde, die lediglich zu einer Verurteilung wegen Körperverletzung geführt hat. Auf die von der Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision hat der BGH das Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Während sich der BGH in vergleichbarer Prozesslage zuletzt[13] nur zu einem Hinweis veranlasst gesehen und dem Instanzgericht die ständige Rechtsprechung zur Unvereinbarkeit von Vorverbüßung und Bewährung als bloße "Segelanleitung" mit auf den Weg gegeben hatte, hat sich das Gericht nunmehr gewillt gezeigt, den Grundsatz zum Anlass einer Urteilkorrektur nach § 301 StPO zu nehmen.

IV. Kritik der Rechtsprechung

Die vorgenannte prozessuale Effektivierung verdeutlicht, dass die Rspr. an der Richtigkeit und Überzeugungskraft des vermeintlichen Rechtsvorteils unbedingter Freiheitsstrafe keine erkennbaren Zweifel hat. Dies mag darauf beruhen, dass die Literatur – im Gegensatz zu älteren Kommentarlage[14] – zwischenzeitlich keinen nennenswerten Gegenentwurf vorhält.[15]

In der Sache neigt der BGH einer folgenorientierten Betrachtung der Problemstellung zu. Beide Entscheidungen werden von der Frage regiert, ob eine Bewährung ohne die Aussicht auf das drohende Strafübel funktionieren kann. Der BGH verneint die Frage, weil er die Bewährung im Ursprung als Verdienstleistung versteht. Der Verurteilte erhalte die Chance, die Verbüßung der zuerkannten Haftstrafe aufgrund einer tadellosen Lebensführung abzuwenden. Historisch ist dieser Gedanke verständlich, weil für den deutschen Rechtskreis das Institut der Bewährung aus dem Gnadenrecht hervorgegangen ist.[16] Entsprechend ist für den Rechtszustand vor 1969 die Rechtsnatur der Bewährung umstritten geblieben.[17] Das Gesetz selbst hatte eine normativ-kausale Beziehung zwischen Wohlverhalten und Straferlass vorgezeichnet und gemäß § 23 Abs. 1 StGB-1953[18] die Aussetzung ermöglicht, "damit der Verurteilte durch gute Führung während einer Bewährungszeit Straferlaß erlangen kann". Innerhalb dieses Konzepts der Bewährungsstrafe wirkt sich die Beseitigung der Vollstreckungsmöglichkeit durch Anrechnung der Untersuchungshaft zweifellos sinnentleerend aus, weil die Bewährung nichts mehr bewirken kann: Die einmal durch Anrechnung abgewandte Strafvollstreckung kann nicht ein zweites Mal durch Erlass beseitigt werden. Der BGH vermochte daher bei seiner früheren Entscheidung die Anrechnung vollverbüßender Untersuchungshaft bereits "begrifflich" für ausgeschlossen halten.[19] Die Hinwendung zur Begriffsebene ist zugleich ein argumentativer Wendepunkt. Der BGH begibt sich nämlich nicht auf die – in der Logik einer folgenorientierten Problemlösung an sich gebotene – Ebene der Einzelfallabwägung, sondern gelangt über die Begriffsebene zu einer abstrahierenden Betrachtung, in deren Folge er die grundsätzliche Benachteiligung des Betroffenen durch die Strafaussetzung zur Bewährung feststellt. Dem ist der BGH auch für den reformierten Rechtszustand gefolgt. Zugleich hat er den normativ geprägten Verdienstgedanken durch ein empirisch orientiertes Steuerungsmodell verstärkt: Der Betroffene solle während der Bewährungszeit zu einem straffreien Leben drohend motiviert und der erfolgreich Bewährte mit dem endgültigen Fortfall der Strafvollstreckung belohnt werden[20]. Nach diesem Verständnis besteht zwischen Straferlass und Bewährung eine doppelte Beziehung, nämlich eine normativ-kausale (Straferlass, weil Wohlverhalten) und eine spiegelbildliche faktisch-finale (Wohlverhalten, damit Straferlass). Für das zentrale Argument der funktionalen Unverträglichkeit von Anrechnung und Bewährung wirkt diese Modellierung affirmativ, weil mit der Droh- und Belohnungswirkung der Strafvollstreckung

das Instrumentarium positiver wie negativer Einwirkung auf den Verurteilten entfällt.

Diese argumentative Hinwendung zu einer faktischen Betrachtung geht allerdings mit einer bemerkenswerten Distanzierung zur gesetzgeberischen Modellierung des Bewährungsgedankens einher. So mochte das Gesetz in seiner früheren Fassung zwar nahe gelegt haben, den Straferlass als Honorierung von Wohlverhalten zu verstehen (vgl. auch § 25 Abs. 1 StGB-1953[21]). Nach neuerer Gesetzeslage ist der Straferlass jedoch schlichte Folge des ausbleibenden Widerrufs (§ 56g Abs. 1 StGB). Versteht man diese Modifikation nicht als bloße rhetorische Kosmetik, so greift sie die von der Rspr. zugrunde gelegte Verknüpfung von Straferlass und Bewährung in der Grundlegung an. Dies beruht zum einen auf der normativen Relativierung des Erlassgrundes: An die Stelle eines selbst werthaltigen Positivmerkmals (Bewährung) ist ein Negativmerkmal ohne normativen Eigenwert (Nicht-Widerruf) getreten. Zum anderen bewirkt die Substitution eines Positivmerkmals durch ein Negativmerkmal eine tatsächliche Aufweitung des Tatbestands (wie dies im materiellen Recht etwa auch im Verhältnis von Tun und Unterlassen bekannt ist). Für die hier maßgebliche Frage der Erledigung einer Bewährungsstrafe durch die Anrechnung von Untersuchungshaft verdeutlicht sich das Vorgenannte wie folgt: Zwar wird man die Verbüßung von Untersuchungshaft nicht als Akt erfolgreicher Bewährung oder gar als Verdienstleistung verstehen können; wohl aber die Anrechnung von Untersuchungshaft als (dauerhaften) Grund für den Nicht-Widerruf.

Hinzu tritt, dass das Gesetz die von der Rspr. zugrunde gelegte faktisch-finale Beziehung von Straferlass und Wohlverhalten nicht widerspiegelt. Insbesondere redet das Gesetz nicht der Konditionierung des Verurteilten durch Bedrohung und Belohnung das Wort, sondern spricht in § 56 StGB davon, dass der Verurteilte sich "die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und zukünftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird". Es ist also nicht die zu erwartende Strafe, welche von Gesetzes wegen auf den Betroffenen einwirken soll, sondern die Verurteilung als solche. Das Gesetz fordert fernerhin nicht, dass sich der Verurteilte unter dem Eindruck der drohenden Strafe zukünftig straffrei führt, sondern nur, dass es in seiner Person der Einwirkung des Strafvollzugs nicht bedarf. Beides ist für die hier erhebliche Vorstellung einer Synthese von Anrechnung und Bewährungsstrafe von Bedeutung: Im normativen wie tatsächlichen Sinne kann auf den Straftäter auch eine Verurteilung ohne die Bedrohung mit Strafvollzug einwirken, und für eine günstige Kriminalprognose ist das Ausloben einer Belohnung nicht unerlässlich. Die – im Übrigen wenig feinsinnige – Psychologisierung des Bewährungsgedankens wird man daher als Missgriff zurückzuweisen haben. Überzeugender Weise entscheidet sich der Streit über die Behandlung des vorliegenden Problems auf der Normebene.

In deren Zentrum steht die für die Rechtsauffassung des BGH grundlegende Hypothese der funktionalen Inkompatibilität von Bewährung und Vollanrechnung. Der BGH stützt sich auf die Erwägung, dass die Bewährung nach den §§ 56 ff. StGB eine "Modifikation" der Strafvollstreckung darstelle, welche jedoch dann nicht mehr möglich sei, wenn "die Vollstreckung infolge der (…) Anrechnung der Untersuchungshaft bereits erledigt ist"[22]. Diesem Argument ist zuzugestehen, dass die Abänderung – zumal die Pflichten begründende Abänderung – einer nicht mehr zur Umsetzung gelangenden Sanktion paradox erscheint. Allerdings ist die zur Paradoxie führende Überlegung unzulässig verkürzt. Das Gesetz spricht nämlich nicht von einer Erledigung der Vollstreckung, sondern von der Erledigung der Strafe infolge der Anrechnung von Untersuchungshaft (vgl. § 51 Abs. 4 StGB). Es wird also durch die Anrechnung kein bloßes Vollstreckungshindernis begründet. Die Anrechnung berührt den Strafanspruch selbst – indem sie ihn "erledigt". Was damit der Sache nach gemeint ist, verdeutliche die folgende Überlegung.

V. Gegenkonzept der "Erledigung durch Anrechnung"

Generell meint "Erledigung" die Überholung der bestehenden Rechtslage durch ein Ereignis, welches die Rechtslage materiell verändert. So liegt der Fall auch bei der Vorverbüßung durch Untersuchungshaft. An sich folgt die Strafvollstreckung sachsystematisch auf das Urteil, und zwar nicht nur zeitlich, sondern normativ-kausal; die Strafe ist zu vollstrecken, weil das Urteil sie anordnet. Die Vorverbüßung der Strafe durch Untersuchungshaft stellt diese kausale Beziehung auf den Kopf. Der hierdurch drohenden normativen Unordnung wirkt das Institut der Anrechnung entgegen, indem es die kausale Wirkung fingiert: Das vor dem Urteilsspruch Erlittene gilt als aufgrund des Urteils erlitten. Die Untersuchungshaft erhält so die rechtliche Wirkung von Strafhaft.[23] Diese Verschiebung des tatsächlich Vergangenen in das rechtlich Zukünftige bewirkt eine "Überholung" der Rechtslage im eingangs genannten Sinne. Dogmatisch lässt sich diese Überholung wie folgt nachzeichnen: Das die Strafe aussprechende Urteil bringt in der logischen Sekunde des Urteilsspruchs infolge der Anrechnung der Untersuchungshaft eine Rechtstatsache hervor, welche sich der Strafe materiell entgegenstellt; in klassischer Diktion: Der Strafanspruch ist im Moment seiner Entstehung erfüllt – und die Strafe daher "erledigt". Technisch kann dies durch eine entsprechende Tenorierung zum Ausdruck gebracht werden, etwa in der Form: "Der Angeklagte wird wegen (…) zu einer Freiheitsstrafe von (…) auf Bewährung verurteilt; die Strafe ist infolge der Anrechnung von Untersuchungshaft erledigt."

Im Lichte der streitregierenden Positionen weist das hier vorgeschlagene Erledigungsmodell den Weg zu einer synthetischen Lösung der eingangs genannten Problemstellung. Bei prinzipienorientierter Betrachtung ist das Erledigungsmodell vorzugswürdig, weil es das normative Stufenverhältnis von Bewährungs- und unbedingter Freiheitsstrafe auch im Falle der Vorverbüßung erhält. Die

wertungsmäßige Konsistenz ist allerdings auch bei folgenorientierter Betrachtung durchaus geboten. Dies verdeutliche die folgende Überlegung: Würde die zuzuerkennende Strafe die Zeit der Untersuchungshaft überschreiten, läge also lediglich ein Fall einer vorzeitigen Teilverbüßung vor, bestünde an der Möglichkeit – und revisionsrichterlich voll überprüfbaren Pflicht – zur Strafaussetzung auf Bewährung angesichts der klaren Regelung in § 56 Abs. 4 S. 2 StGB kein Zweifel. Dies bedeutet, dass der zeitliche Ablauf von Untersuchungshaft, Hauptverhandlung und Urteil im Grenzfall (bei den hier maßgeblichen geringen Strafen: durch Differenz von einer Woche, vgl. § 39 StGB) über Wohl und Wehe der Bewährung entscheidet. Auf Grundlage der bestehenden Rspr. wird der eine Bewährungsstrafe anstrebende Angeklagte daher darauf bedacht sein müssen, im Wettlauf von Verfahrensdauer und Straferwartung den "rettenden Vorsprung" der Straferwartung zu erhalten. Es kann aber nicht sein, dass der Angeklagte seine Rechte innerhalb eines Verfahrens wahren muss, bei welchem die Zeit gegen ihn arbeitet. Das Strafrecht verneint nicht nur verfahrensrechtlich eine Pflicht des Angeklagten, seine eigene Verurteilung zu beschleunigen. Ihm ist auch eine hierauf bezogene materiellrechtliche "Obliegenheit" fremd. Das Erledigungsmodell führt dem entsprechend zu einer Entkoppelung von Verfahrensverlauf und Strafzumessungsfrage. Der Ange-klagte kann seine Verfahrensrechte wahren, ohne befürchten zu müssen, durch schlichten Zeitablauf vor Tatsachen gestellt zu werden, die sich bei der Strafzumessung zu seinem Nachteil auswirken.

In der Sache bewirkt die Erledigung die Beseitigung des Strafübels. Sie steht jeder weiteren nachteiligen Einwirkung auf den Verurteilten (Belegung mit Strafe im materiellen Sinn) entgegen. Weisungen, Auflagen oder die Bestellung eines Bewährungshelfers verbieten sich daher im Falle der Anrechnung der Vorverbüßung. Das Gesetz sieht diese Maßnahmen auch nur fakultativ vor, so dass sie ohne Weiteres unterbleiben können. Infolge der Anrechnung verlässt der Angeklagte daher den Gerichtssaal als "freier Mensch" und erlangt den Status eines erfolgreich Bewährten. Die hierin liegende Begünstigung des Verurteilten, der sich tatsächlich nicht mehr zu bewähren braucht, ist bei wertender Betrachtung Kehrseite seiner Überbeanspruchung durch die Untersuchungshaft. Bei letztgenannter handelt es sich nämlich um den in Relation zur Strafhaft schwerer wiegenden Rechtsguteingriff, weil die Untersuchungshaft sämtliche Nachteile des kurzzeitigen Freiheitsentzugs in sich birgt, ohne eine resozialisierende Wirkung für den Betroffenen zu entfalten[24]. Diese Läsionswirkung der Untersuchungshaft begründet im Falle der Vollverbüßung das ex post zutage tretende Missverhältnis von Zweck und Mittel; die durch sie hervorgerufene Rechtsguteinbuße übersteigt das materiell Gebotene. Hinzu tritt, dass der Grund für die übermäßige Beanspruchung überwiegend in der Sphäre der Strafverfolgungsbehörden gelegen hat (widrigenfalls hätte die Anrechnung der Untersuchungshaft unterbleiben können, vgl. § 51 Abs. 1 S. 2 StGB). Besonders deutlich ist dies in den für die hiesige Problemkonstellation durchaus kennzeichnenden Fällen eines zu hoch gegriffenen Anklagevorwurfs, der die Anordnung der Untersuchungshaft tatsächlich und – gerade beim Vorwurf der Tötung – auch rechtlich erleichtert haben kann (vgl. § 112 Abs. 3 StPO). Insoweit fordert das schlichte Gebot der Gerechtigkeit Gehör, dass ein Missgriff der Strafverfolgungsbehörden den Angeklagten nicht schlechter zu stellen hat. Das hier vorgeschlagene Festhalten an der Möglichkeit der Bewährungsstrafe erscheint von daher nicht nur materiell geboten, sondern auch verfahrensgerecht.

VI. Zusammenfassung

Die von der Rspr. praktizierte Versagung der Bewährung für vorzeitige Vollverbüßung in Untersuchungshaft ist gesetzlich nicht geboten. Sie ist zudem wertungsmäßig widersprüchlich und führt zu einer Mehrbelastung des Verurteilten auf allen Gebieten (prozess-, materiell- und registerrechtlich). Die Alternative liegt im hier vorgeschlagenen Erledigungsmodell, nach welchem die Anrechnung von Untersuchungshaft zur Erledigung der Strafe führt. Die Erledigung ist im Tenor der Entscheidung zum Ausdruck zu bringen. Vorgeschlagen wird die Form: "Der Angeklagte wird wegen (…) zu einer Freiheitsstrafe von (…) auf Bewährung verurteilt; die Strafe ist infolge der Anrechnung von Untersuchungshaft erledigt."


* Abg. Richter und wiss. Mitarbeiter am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main.

[1] Die maßgebliche Vorschrift des § 23 StGB-1953 lautete:

"(1) Das Gericht kann die Vollstreckung einer Gefängnis- oder Einschließungsstrafe von nicht mehr als neun Monaten oder einer Haftstrafe aussetzen, damit der Verurteilte durch gute Führung während einer Bewährungszeit Straferlaß erlangen kann (Strafaussetzung zur Bewährung).

(2) Strafaussetzung zur Bewährung wird nur angeordnet, wenn die Persönlichkeit des Verurteilten und sein Vorleben in Verbindung mit seinem Verhalten nach der Tat oder einer günstigen Veränderung seiner Lebensumstände erwarten lassen, daß er unter Einwirkung der Aussetzung in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen wird.

(3) Strafaussetzung zur Bewährung darf nicht angeordnet werden, wenn

1. das öffentliche Interesse die Vollstreckung der Strafe erfordert, oder

2. während der letzten fünf Jahre vor Begehung der Straftat die Vollstreckung einer gegen den Verurteilten im Inland erkannten Freiheitsstrafe zur Bewährung oder im Gnadenwege ausgesetzt oder

3. der Verurteilte innerhalb dieses Zeitraums im Inland zu Freiheitsstrafen von insgesamt mehr als sechs Monaten erurteilt worden ist.

(4) In den Fällen des Absatzes 3 Nummern 2 und 3 wird in die Frist die Zeit nicht eingerechnet, in der der Täter eine Freiheitsstrafe verbüßt oder auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird."

[2] Zur Entstehungsgeschichte vgl. MK-Groß, 1. Aufl. (2005), Vor §§ 56 ff. Rn. 6; LK-Hubrach, 12. Aufl. (2008), Vor § 56 Rn. 1 ff.

[3] MK-Groß, § 56 Rn. 3; S/S-Stree, 27. Aufl. (2006), § 56 Rn. 3.

[4] Einh. M. Vgl. etwa. MK-Groß, § 56 Rn. 64.

[5] Vgl. hierzu MK-Groß, § 56a Rn. 2.

[6] Hierzu grundlegend BGHZ 60, 302.

[7] Auf Grundlage der vorgenannten (Fn. 6) Entscheidung kommt für den "schuldigen" Untersuchungshäftling eine aufopferungsgleiche Lage in Betracht, wenn seine Inhaftierung Sonderopfer im staatshaftungsrechtlichen Sinne ist. Ein solches Sonderopfer liegt jedenfalls dann nahe, wenn die Untersuchungshaft unverhältnismäßig lange angedauert hat. Letzteres dürfte bei vorzeitiger Vollverbüßung regelmäßig anzunehmen sein.

[8] Zum Wortlaut der Norm vgl. o. Fn. 1.

[9] BGH NJW 1961, 1220. Die nachfolgenden wörtlichen Zitat a.a.O.

[10] BGHSt 31, 25 = NJW 1982, 1768 mit abl. Anm. Stree, NStZ 1982, 326.

[11] Zum Wortlaut der Norm vgl. o. Fn. 1.

[12] BGH 3 StR 159/08, Urteil v. 26. Juni 2008 = HRRS 2008 Nr. 847.

[13] BGH 1 StR 278/05, Urteil v. 21. Februar 2006 = HRRS 2006 Nr. 312.

[14] Vgl. etwa S/S-Schröder, 12. Aufl. (1965), § 23 Rn. 16; ferner Stree o. Fn. 10.

[15] Unkritisch etwa SK-Horn, 8. Aufl. (2001), § 56 Rn. 8a; LK-Hubrach, § 56 Rn. 7.

[16] LK-Hubrach, Vor § 56 Rn. 2.

[17] Vgl. Schwarz/Dreher, 29. Aufl. (1969), § 23 sub 1. Die Diskussion nannte "Gnade", "Maßregel", "kriminalpolitisches Reaktionsmittel eigener Art".

[18] Zum Wortlaut der Norm vgl. o. Fn. 1.

[19] BGH (o. Fn. 9) a.a.O.

[20] BGH (o. Fn. 10) a.a.O.

[21] § 25 Abs. 1 StGB-1953 lautete: "Hat der Verurteilte sich bewährt, so wird die Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen."

[22] BGH (o. Fn. 10) a.a.O.

[23] In diesem Sinne bereits Frank, RStGB, 18. Aufl. 1931, § 60 sub I.

[24] Vgl. zuletzt BVerfG 2 BvR 806/08, Kammerbeschluss v. 11.06.2008 m.w.N. aus der Rspr. d. BVerfG.