HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2008
9. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

1144. BGH GSSt 1/08 - Beschluss vom 7. Oktober 2008 (LG Bielefeld, LG Saarbrücken)

BGHSt; zu verbüßende Freiheitsstrafe nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (bereichsspezifische Auslegung der neuen Tatsache; abweichende Grundlage der qualifizierten Gefährlichkeit des ehemals Untergebrachten).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 5 EMRK; § 66b StGB; § 67d Abs. 6 StGB

1. Hat der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist, so steht dies der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB entgegen (Bestätigung von BGHSt 52, 31). (BGHSt)

2. In diesen Fällen kommt indes die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 StGB in Betracht. Insoweit genügt für die Annahme neuer Tatsachen, dass vor dem Hintergrund der nicht (mehr) vorhandenen Voraussetzungen der Unterbringung nach § 63 StGB die qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten auf abweichender Grundlage belegt wird. (BGHSt)

3. Nur die Vollstreckung des Restes derjenigen Strafe, die in der Anlassverurteilung ausgesprochen worden war, steht der Anwendung des § 66b Abs. 3 StGB entgegen. (BGHSt)


Entscheidung

1077. BGH 2 StR 349/08 - Urteil vom 29. Oktober 2008 (LG Bonn)

BGHSt; Mord (niedrige Beweggründe); verminderte Schuldfähigkeit (eingeschränkte Steuerungsfähigkeit; tiefgreifende Bewusststeinsstörung; Affektdurchbruch); Strafrahmenverschiebung (lebenslange Freiheitsstrafe; Versagung; verschuldeter Affekt; Schuldprinzip); Schuldunfähigkeit (Versagung; Darlegung; Urteilsgründe).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 211 StGB; § 49 Abs. 1 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB

1. Zur Ablehnung der Strafmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB wegen verschuldeten Affekts in Fällen lebenslanger Freiheitsstrafe. (BGHSt)

2. Beweggründe sind im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB niedrig, wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verachtenswert sind. Die Beurteilung der Frage, ob Beweggründe zur Tat „niedrig“ sind und - in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag - als verachtenswert erscheinen, hat auf Grund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren zu erfolgen (st. Rspr.) (Bearbeiter)

3. Nicht jede Tötung, die geschieht, weil sich der (frühere) Partner vom Täter abwenden will oder abgewandt hat, beruht zwangsläufig auf niedrigen Beweggründen. Vielmehr können in einem solchen Fall auch Gefühle der Verzweiflung und inneren Ausweglosigkeit tatauslösend und tatbestimmend sein. Diese können eine Bewertung als „niedrig“ namentlich dann als fraglich erscheinen lassen, wenn die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und sich daher der Angeklagte durch die Tat gerade dessen selbst beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will. (Bearbeiter)

4. Spielen bei einer Tat gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen eine Rolle, so muss sich der Tatrichter in aller Regel damit auseinandersetzen, ob der Angeklagte in der Lage war, sie gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern. Ausdrücklicher Prüfung bedarf diese Frage insbesondere bei Taten, die sich spontan aus der Situation heraus entwickelt haben. (Bearbeiter)

5. Zwar ist Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) wegen eines hochgradigen Affekts nur in Ausnahmefällen anzunehmen. Geht der Tatrichter jedoch von einen solchen Affekt aus, ohne ihm schuldausschließende Wirkung zuzumessen, so bedarf dies jedenfalls der kurzen Darlegung in den Urteilsgründen, etwa indem die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen insoweit wiedergegeben werden oder die Anwendbarkeit des § 20 StGB zumindest ausdrücklich verneint wird. (Bearbeiter)

6. Zwar kann der Tatrichter dem Angeklagten die Strafmilderung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB grundsätzlich auch dann versagen, wenn die Wahl zwischen lebenslanger und zeitiger Freiheitsstrafe besteht. Der Senat lässt offen, ob die an dieser Rechtsprechung geübte und im Wesentlichen mit dem Hinweis auf das Schuldprinzip begründete Kritik berechtigt ist. Voraussetzung ist in diesem Fall aber das Vorliegen besonders erschwerender Gründe, welche die mit § 21 StGB verbundene Schuldminderung auszugleichen vermögen. (Bearbeiter)

7. Die Strafmilderung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB kann nur dann mit der Begründung versagt werden, der die Steuerungsfähigkeit erheblich mindernde Affekt sei verschuldet gewesen, wenn der Täter unter den konkreten Umständen den Affektaufbau verhindern konnte und die Folgen des Affektdurchbruchs für ihn vorhersehbar waren. Hierfür genügt nicht jedes vorwerfbare frühere Fehlverhalten des Täters aus, das in irgendeiner Weise zu der Tat beigetragen hat. Der Schuldvorwurf muss vielmehr dahin gehen, dass der Täter den Affekt während der Entstehung durch ihm mögliche Vorkehrungen nicht vermieden hat, wobei sich die Verschuldensprüfung auf die Entstehung des Affekts beschränkt, der zur Tat geführt hat. (Bearbeiter)


Entscheidung

1131. BGH 5 StR 472/08 - Beschluss vom 28. Oktober 2008 (LG Hamburg)

Absehen von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt bei ausreisepflichtigen Ausländern (Symptomzusammenhang; Betäubungsmittelkriminalität).

§ 64 StGB

1. Die gesetzliche Neuregelung des § 64 StGB räumt dem Tatrichter die Möglichkeit ein, von einer Unterbringung nach § 64 StGB in Ausnahmefällen abzusehen. Gerade bei ausreisepflichtigen Ausländern soll die Möglichkeit eröffnet werden, von einer Unterbringung nach § 64 StGB Abstand zu nehmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn noch erhebliche sprachliche Verständigungsprobleme hinzukommen und auch eine Erfolg versprechende Therapie schon aufgrund der unzulänglichen Kommunikationsgrundlage mit den Therapeuten kaum vorstellbar wäre.

2. Ein im Sinne des § 64 StGB erforderlicher symptomatischer Zusammenhang zwischen Betäubungsmittelabhängigkeit und Tat kann nämlich auch bei Betäubungsmittelstraftaten fehlen, wenn sie allein der Finanzierung des allgemeinen Lebensbedarfs (und damit mittelbar auch des Betäubungsmittelkonsums) dienen (vgl. BGHR StGB § 64 Hang 2, Zusammenhang symptomatischer 2).


Entscheidung

1142. BGH 5 StR 612/07 – Urteil vom 11. Juni 2008 (LG Cottbus)

Rechtsfehlerhafte Strafrahmenverschiebung bei Tatbegehung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit auf Grund von Alkoholkonsum (Fahrlässigkeitsvorwurf; Vorhersehbarkeit; Alkoholabhängigkeit; Selbstjustiz an einem vermeintlichen „Kinderschänder“).

§ 212 Abs. 1 StGB; § 49 Abs. 1 StGB; § 21 StGB

1. Beruht die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit auf zu verantwortender Trunkenheit, spricht dies in der Regel gegen eine Strafrahmenverschiebung, wenn sich aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Täters (etwa Neigung zu Aggressionen oder Gewalttätigkeiten unter Alkoholeinfluss) oder der Tatsituation (etwa Trinken in gewaltbereiten Gruppen oder gewaltgeneigten Situationen) das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant infolge der Alkoholisierung erhöht hat. Ob dies der Fall ist, hat der Tatrichter in wertender Betrachtung zu bestimmen (BGHSt 49, 239, 245 f.; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 59).

2. Das Wissen des Täters um seine Gefährlichkeit hängt nicht von der Warnfunktion einer früheren Verurteilung ab (BGHSt 49, 239, 243). Auch demjenigen, der weitgehend durch Alkohol beherrscht wird, kann vorgeworfen werden, dass er sich trotz Vorhersehbarkeit – zumal weiterer – alkoholischer Enthemmung bewusst in eine gewaltträchtige Situation begeben hat (BGHSt 49, 239, 254).

3. Eine Ausnahme von der unter diesen Umständen in Erwägung zu ziehenden Ablehnung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB käme nur bei einer hier nicht gegebenen absoluten Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe in Betracht (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 59; BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 40).


Entscheidung

1130. BGH 5 StR 456/08 – Urteil vom 29. Oktober 2008 (LG Berlin)

Schwere Körperverletzung (minder schwerer Fall); Strafzumessung (Strafschärfung bei Fahrlässigkeit an der Grenze zum Vorsatz; Strafrahmenmilderung wegen nicht ausschließbarer verminderter Schuldfähigkeit; Strafmilderung wegen besonders belastender Untersuchungshaft: erste Hafterfahrung und späte Inhaftierung).

§ 227 StGB; § 212 StGB; § 15 StGB; § 46 StGB; § 49 Abs. 1 StGB; § 21 StGB; § 112 StPO

1. Ob in Fällen, in denen der Angeklagte in Folge seiner Alkoholisierung möglicherweise vermindert schuldfähig gewesen ist, eine Strafrahmenverschiebung vorgenommen wird, hat der Tatrichter in wertender Betrachtung der Gesamtumstände zu beurteilen. Dabei unterliegt die

pflichtgemäße Einschätzung des Tatrichters nur eingeschränkt revisionsgerichtlicher Überprüfung (BGHSt 49, 239, 242 ff.). Zwar spricht eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit auf Grund zu verantwortender Trunkenheit in der Regel gegen eine Strafrahmenverschiebung. Allerdings muss sich das Risiko der Begehung von Straftaten für den Täter aufgrund der persönlichen und situativen Verhältnisse des Einzelfalles vorhersehbar signifikant infolge der Alkoholisierung erhöht haben (BGH aaO).

2. Nicht der Vollzug der Untersuchungshaft an sich, sondern nur den Angeklagten zusätzlich besonders erschwerende Umstände der Untersuchungshaft dürfen zugunsten des Angeklagten bei der Strafzumessung berücksichtigt werden (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Lebensumstände 21).


Entscheidung

1140. BGH 5 StR 507/08 - Beschluss vom 13. November 2008 (LG Dresden)

Erörterungsmangel hinsichtlich der Anordnung einer Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt (Hang und Alkoholabhängigkeit).

§ 64 StGB

Für die Annahme eines Hangs im Sinne des § 64 StGB ist die Feststellung einer Alkoholabhängigkeit nicht Voraussetzung; vielmehr genügt eine eingewurzelte, auf Grund psychischer Disposition bestehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen (BGH NStZ-RR 2004, 39, 40; BGHR StGB § 64 Abs. 1 Hang 4, 5).