HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2008
9. Jahrgang
PDF-Download

III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

837. BGH 2 StR 240/08 - Urteil vom 13. August 2008 (LG Bonn)

Vorbehalt der Sicherungsverwahrung (Anlasstaten; frühere Taten; Erörterungspflicht); „Siegburger Gefängnismord“; Milderung der Rechtsfolgen des allgemeinen Strafrechts bei Heranwachsenden (lebenslange Freiheitsstrafe; zeitige Freiheitsstrafe; Sühnegedanke).

§ 106 JGG; § 66 StGB; § 211 StGB

1. Zu den Voraussetzungen des Vorbehalts der Sicherungsverwahrung nach § 106 Abs. 3 Satz 2 JGG. (BGHSt)

2. Dem Tatrichter steht bei der Abwägung, ob bei einem unter Anwendung des allgemeinem Strafrechts zu verurteilenden Heranwachsenden statt auf lebenslange Freiheitsstrafe auf eine Freiheitsstrafe von zehn bis zu fünfzehn Jahren zu erkennen ist (§ 106 Abs. 1 JGG), ein weiter Ermessensspielraum zu. Dabei darf der Sühnezweck nicht überbewertet werden; vielmehr steht im Vordergrund, ob eine spätere Wiedereingliederung des Täters erwartet werden kann. Gleichwohl darf der Sühnegedanke jedenfalls dann auch nicht völlig außer Betracht bleiben, wenn die Feststellungen - etwa bei einem

außergewöhnlich brutalen, menschenverachtenden Tatbild - entsprechende Erwägungen nahe legen. (Bearbeiter)


Entscheidung

870. BGH 4 StR 152/08 – Urteil vom 31. Juli 2008 (LG Bochum)

Rechtsfehlerhaftes Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung zugunsten einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

§ 66 StGB; § 64 StGB

Das Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung setzt im Hinblick auf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ein hohes Maß an prognostischer Sicherheit voraus, dass mit der Unterbringung die vom Angeklagten ausgehende Gefahr beseitigt werden kann (vgl. BGH NStZ 2007, 328). Im Grundsatz führen Unsicherheiten über den Erfolg allein der milderen Maßregel zur kumulativen Anordnung der Maßregeln (vgl. BGH NStZ 2000, 587, 589; StV 2007, 633, 634).


Entscheidung

872. BGH 4 StR 223/08 – Urteil vom 14. August 2008 (LG Essen)

Minder schwerer Fall des Totschlages (affektive Aufladung; hirnorganische Erkrankung; Misshandlung; schwere Beleidigung: Reizung ohne eigene Schuld zum Zorn; Beweiswürdigung); Doppelverwertungsverbot (keine Strafschärfung wegen Handelns mit direktem Vorsatz beim Totschlag; Regeltatbild; Strafzumessung); eigene Rechtsfolgenentscheidung des Revisionsgerichts; gerichtlicher Hinweis.

§ 212 StGB; § 213 StGB; § 46 Abs. 3 StGB; § 354 Abs. 1a StPO

1. Der Tatbestand des Totschlags setzt vorsätzliche Tatbegehung voraus, deren Regelfall die Tötung mit direktem Vorsatz ist. Daher verstößt es gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB, wenn der Umstand, dass der Angeklagte mit direktem Tötungsvorsatz gehandelt hat, als solcher strafschärfend verwertet wird (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 3 Tötungsvorsatz 1, 3, 4; Senatsbeschluss vom 30. Juli 1998 - 4 StR 346/98).

2. Fall einer verfassungskonformen Anwendung des § 354 Abs. 1a StPO.


Entscheidung

886. BGH 5 StR 315/08 - Beschluss vom 4. September 2008 (LG Bremen)

Erforderliche Gesamtwürdigung bei der Prüfung eines minder schweren Falles des Totschlages nach § 213 StGB (verminderte Schuldfähigkeit).

§ 213 StGB; § 46 StGB; § 21 StGB

1. Auch bei einem „verheerenden Tatbild“ ist eine umfassenden Gesamtwürdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände mit Blick auf einen möglichen minder schweren Fall nach § 213 geboten (BGHR StGB vor § 1/minder schwerer Fall Gesamtwürdigung 8 und Prüfungspflicht 1).

2. Bei der Bewertung der Handlungsintensität darf nicht unerörtert bleiben, ob und in welchem Maße das brutale Vorgehen gerade durch die verminderte Schuldfähigkeit beeinflusst war. Denn in dem Umfang, in dem das „verheerende Tatbild“ und die massive Vorgehensweise auf die erheblich verminderte Schuldfähigkeit zurückgehen, dürfen sie ihm nicht uneingeschränkt zum Vorwurf gemacht und straferschwerend angelastet werden (vgl. BGHR StGB § 21 Strafzumessung 1 bis 5).


Entscheidung

881. BGH 5 StR 101/08 – Urteil vom 4. September 2008 (LG Hamburg)

Rechtsfehlerhaft unterbliebene Anordnung der Sicherungsverwahrung (Wertungsfehler beim Hang; kein zeitlicher Mindestabstand unter den Anlasstaten; Ermessensausübung und folgender Strafvollzug).

§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB

1. Es stellt einen Wertungsfehler dar, wenn das Tatgericht trotz festgestellter zahlreicher Risikofaktoren für die Begehung weiterer erheblicher Sexualdelikte einen fest eingeschliffenen inneren Zustand des Angeklagten, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt (vgl. BGH NStZ 2005, 265), verneint. Zahlreiche Risikofaktoren darf das Tatgericht nicht schon deswegen als entkräftet ansehen, weil es zu den Anlasstaten nach seiner Wertung nur durch die vom Angeklagten als unbefriedigend empfundene Lebenssituation gekommen ist. Überdauernde innere Eigenschaften des Straftäters, welche die Disposition begründen, Straftaten zu begehen, können zur Feststellung eines Hangs ausreichen; das Hinzutreten aktuell tatauslösender Situationen steht dem nicht entgegen. Die Anwendung des § 66 StGB ist lediglich dann ausgeschlossen, wenn eine äußere Tatsituation oder Augenblickserregung die Tat maßgeblich allein verursacht hat (vgl. BGH MDR 1980, 326, 327 m.w.N.; BGH NStZ 2007, 114).

2. Die Feststellung eines Hangs gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verlangt keinen bestimmten zeitlichen Mindestabstand zwischen den Anlasstaten. Vielmehr können gerade auch relativ zeitnah aufeinanderfolgende Taten in ihrer Häufung Ausdruck eines eingeschliffenen inneren Zustands des Täters sein, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt (BGH NStZ 2008, 27).


Entscheidung

885. BGH 5 StR 281/08 - Beschluss vom 3. September 2008 (LG Leipzig)

Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 66 StGB: ausreichende Feststellungen zu Anlasstaten, Einheitsfreiheitsstrafen nach DDR-Recht, hypothetische Einzelfreiheitsstrafe; Rückfallverjährung – Nichtverwertbarkeit ausgeurteilter Taten als Symptomtaten; hinreichende Begründung der Gefährlichkeitsprognose; Ermessen des Tatrichters und Ersetzen der Anordnungsgrundlage; Beiziehung der Verfahrensakten).

§ 66b Abs. 1, Abs. 3 StGB; § 66 Abs. 1 StGB

1. Das Gewicht des Eingriffs der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung setzt eine besonders sorgfältige Prüfung und Darlegung der Anordnungsvoraussetzungen voraus. Ohne Beiziehung der den Vorverurteilungen zuzuordnenden Strafakten – etwa allein auf der Grundlage des Registerauszuges des Verurteilten – kann dem nicht genügt werden.

2. Die außerordentlich belastende Maßregel der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ist nur in außergewöhnlichen seltenen Ausnahmefällen gegen verurteilte Straftäter berechtigt, bei denen aufgrund ihres bisherigen Werdegangs ein „hohes Maß an Gewissheit“ über die Gefahr besteht, dass sie besonders schwere Straftaten begehen werden (vgl. BVerfGE 109, 190, 236; BVerfG – Kammer – NJW 2006, 3483, 3484; BGHSt 50, 121, 125; 50, 373, 378). Die Vorschrift des § 66b StGB verlangt eine konkrete, auf den Einzelfall bezogene hohe Wahrscheinlichkeit. Hinzukommen muss, dass die von dem Betroffenen ausgehende erhebliche Gefahr gegenwärtig sein muss (BVerfGE 109, 190, 242). Durch den Aspekt ihrer Gegenwärtigkeit hebt sich die zu prognostizierende Gefährlichkeit von einer allgemeinen Rückfallwahrscheinlichkeit ab (BVerfG – Kammer – NJW 2006, 3483, 3485; vgl. auch BGH NStZ-RR 2008, 40, 41).


Entscheidung

865. BGH 1 StR 248/08 - Urteil vom 29. Juli 2008 (LG Ellwangen)

Rechtsfehlerhaft begründetes Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung (Begriff des Hanges bei sexuellem Missbrauch von Kindern).

§ 66 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB

1. Ob ein Hang zur Begehung erheblicher Straftaten anzunehmen ist, beurteilt sich bei § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB wie auch im Fall des § 66 Abs. 2 StGB danach, ob die Vorverurteilung und/oder die abzuurteilenden Anlasstaten symptomatisch für die verbrecherische Neigung des Täters und die von ihm ausgehende Gefährlichkeit sind, das heißt, die Anlasstaten sind daraufhin zu würdigen, ob aus ihnen bereits auf einen Hang zur Begehung „erheblicher Straftaten“, namentlich solcher, die unter den Katalog des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB fallen, geschlossen werden kann, ob sich also bereits in ihnen ein solcher Hang hinreichend deutlich manifestiert hat (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 1; BGH, Urt. vom 23. August 2000 - 3 StR 307/00).

2. „Hangtäter“ ist auch schon derjenige, der aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung, deren Ursache unerheblich ist, immer wieder straffällig wird, wenn sich Gelegenheit bietet (BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 1 und Hang 3). Auch positive charakterliche Eigenschaften des Angeklagten und sein Bedauern der weder von Gemütsarmut noch Gefühlskälte geprägten Taten schließen einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten nicht aus. Gerade wenn eine offenbar nicht zu kontrollierende Willensschwäche vorliegt, welcher der Angeklagte nicht begegnen kann und demgemäß jegliche Gelegenheit zu sexuellen Misshandlungen an Kindern ausnutzt, deutet dies auf das Vorliegen eines Hanges im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB hin.

3. Als „Hangtäter“ kommt auch in Betracht, wer willensschwach ist, aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht genügend widerstehen kann und so jeder neuen Versuchung zum Opfer fällt. Mit diesem Aspekt hätte sich die Strafkammer auch unter Berücksichtigung der hohen Rückfallgeschwindigkeit, die bei dem Angeklagten zuletzt aufgetreten ist, näher befassen müssen (BGH MDR 1994, 761, 762; zu dem bedenklichen Kriterium des mittleren Rückfallrisikos vgl. BGH NStZ 2007, 464, 465).