HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2008
9. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die Ausgabe Mai widmet sich vor allem dem Thema der Untersuchungshaft und ihres Vollzuges. Der neue ständige Mitarbeiter der HRRS Dr. Lutz Eidam befasst sich hier mit der "Selbstverständlichkeit von Rechtsbrüchen beim Vollzug von Untersuchungshaft". Prof. Dr. Manfred Seebode untersucht die Reichweite des "Rechts des Untersuchungshaftvollzugs im Sinne des Art. 74 GG" und bespricht damit die derzeit vieldiskutierte Vorlageentscheidung des OLG Oldenburg, die vor allem für die Briefüberwachung von großer Bedeutung ist.

Zu den besonders hervorhebenswerten Entscheidungen gehören zahlreiche für BGHSt vorgesehene Entscheidungen des BGH. Einzeln zu nennen ist vielleicht die Entscheidung, mit welcher der 5. Strafsenat die "Altfallregelung" des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB für verfassungskonform erklärt.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede, Schriftleiter


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

374. BVerfG 1 BvR 1753/03 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 25. März 2008 (OLG Stuttgart/LG Stuttgart/AG Böblingen)

Volksverhetzung („Heimatvertriebenenlied“); Meinungsfreiheit (Ermittlung des objektiven Sinngehalts; Beachtung des Kontexts von Meinungsäußerungen; Offenlegung der richterlichen Abwägung); Leugnung des Holocaust.

Art. 5 Abs. 1 GG; § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB, § 130 Abs. 3 StGB

1. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gewährleistet jedermann das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Der Schutz besteht unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird (vgl. BVerfGE 93, 266, 289).

2. Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist es, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist. Ziel der Deutung ist die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung. Maßgeblich ist daher weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums objektiv hat. Dabei ist stets von dem Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und ihren Begleitumständen bestimmt, soweit diese für den Rezipienten erkennbar sind (vgl. BVerfGE 93, 266, 295).

3. Die Meinungsfreiheit wird dann verletzt, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt, ohne vorher

andere mögliche Deutungen, die nicht völlig fern liegen, mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben (vgl. BVerfGE 82, 43, 52; 114, 339, 349 f.).

4. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen schließen es zwar nicht aus, dass die Verurteilung auf ein Auseinanderfallen von sprachlicher Fassung und objektivem Sinn gestützt wird (vgl. BVerfGE 93, 266, 303), wie dies insbesondere auf in der Äußerung verdeckt enthaltene Aussagen zutrifft. Eine solche Interpretation muss aber unvermeidlich über die reine Wortinterpretation hinausgehen und bedarf daher der Heranziehung weiterer, dem Text nicht unmittelbar zu entnehmender Gesichtspunkte und Maßstäbe. Diese müssen mit Art. 5 Abs. 1 GG vereinbar sein (vgl. BVerfGE 43, 130, 139 f.). Auf eine im Zusammenspiel der offenen Aussagen verdeckt enthaltene zusätzliche Aussage darf die Verurteilung zu einer Sanktion nur gestützt werden, wenn sich die verdeckte Aussage dem angesprochenen Publikum als unabweisbare Schlussfolgerung aufdrängt.

5. Die Wahrung der wertsetzenden Bedeutung der Meinungsfreiheit erfordert im Rahmen der auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale des einfachen Rechts zudem regelmäßig eine fallbezogene Abwägung zwischen der Bedeutung der Meinungsfreiheit und dem Rang des durch die Meinungsfreiheit beeinträchtigten Rechtsguts. Das Erfordernis der Abwägung entfällt allerdings im Fall einer Verletzung der Menschenwürde (vgl. BVerfGE 93, 266, 293).

6. Da die Menschenwürde im Verhältnis zur Meinungsfreiheit nicht abwägungsfähig ist können die Belange der Meinungsfreiheit nach Bejahung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht mehr berücksichtigt werden. Diesen die Belange der Meinungsfreiheit verdrängenden Effekt müssen die Gerichte beachten.

7. Die Menschenwürde i.S.d. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist allerdings nicht schon immer dann angegriffen, wenn durch eine Äußerung die Ehre oder das allgemeine Persönlichkeit eines anderen tangiert ist, sondern dann, wenn der Angriff sich schlechthin gegen den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit richtet.

8. Selbst eine plakative und heftige Beleidigung von Teilen der Bevölkerung erfüllt nicht ohne weiteres die Voraussetzungen eines besonders qualifizierten, die Menschenwürde verletzenden Angriffs auf die Persönlichkeit, wie er von § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB vorausgesetzt wird.

9. Die Strafgerichte müssen im Interesse des materiellen Grundrechtsschutzes durch Offenlegung der für den Ausgang der Abwägung maßgebenden Gründe in einer der verfassungsgerichtlichen Prüfung zugänglichen Weise erkennen lassen, dass in die Abwägung die dafür erheblichen Umstände eingestellt worden sind oder warum hierfür im Einzelfall etwa wegen einer Antastung der Menschenwürde kein Raum mehr war.

10. Eine Indizierungsentscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften lässt nicht ohne weiteres zugleich auf einen nach § 130 Abs. 1 StGB strafbaren Aussagegehalt schließen.

11. Die nationalsozialistische Judenverfolgung leugnende Tatsachenbehauptungen sind erwiesen unwahr (vgl. BVerfGE 90, 241, 249 f.). Erwiesen unrichtige Tatsachenbehauptungen sind kein nach Art. 5 Abs. 1 GG schützenswertes Gut (vgl. BVerfGE 54, 208, 219).


Entscheidung

378. BVerfG 2 BvR 38/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 4. Dezember 2007 (OLG Karlsruhe/AG Waldshut-Tiengen)

Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem; Deutschland – Schweiz; fahrlässige Trunkenheit im Verkehr; allgemeine Regeln des Völkerrechts); Verhältnismäßigkeit (zwingende Anrechnung; Berücksichtigung bei der Strafzumessung; Absehen von Verfolgung nach § 153c StGB).

Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 25 GG; § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 316 StGB; § 51 Abs. 3 Satz 1 StGB; § 46 Abs. 2 StGB; § 153c StGB; Art. 54 SDÜ

1. Der Grundsatz „ne bis in idem“ ist kein allgemein völkerrechtlich anerkannter Grundsatz.

2. Der Bedeutungsgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG reicht lediglich soweit, wie der Grundsatz des Verbotes der Doppelbestrafung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes im geltenden Prozessrechts anerkannt war. Bei Inkrafttreten des Grundgesetzes war eine umfassende zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes „ne bis in idem“ nicht anerkannt.

3. Art. 103 Abs. 3 GG steht einer Bestrafung von Auslandsstraftaten nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB, welche in der Schweiz begangen worden sind, nicht entgegen.

4. Ein Strafverfahren wegen einer im Ausland begangenen Tat ist unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes nur dann geeignet und erforderlich, wenn das von der bundesdeutschen Strafnorm geschützte Rechtsgut durch das Verhalten im Ausland betroffen ist. Die Annahme einer solchen Betroffenheit bei Straftaten nach § 316 StGB mit der Begründung, dass die Norm auch dazu dient andere Verkehrsteilnehmer vor ungeeigneten Kraftfahrern zu schützen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

5. Auf die Durchführung eines inländischen Strafverfahrens deshalb zu verzichten, weil ein ausländischer Staat die Tat bereits verfolgt oder den Täter bestraft hat, ist von Verfassungs wegen nicht geboten. Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann durch die zwingende Anrechnung vollstreckter Auslandsstrafen nach § 51 Abs. 3 Satz 1 StGB, der Möglichkeit der Berücksichtigung ausländischer Verurteilungen bei der Strafzumessung nach § 46 Abs. 2 StGB und dem Absehen von Verfolgung nach § 153c StGB ausreichend Genüge getan werden.

6. Eine Regel des Völkerrechts ist dann allgemein im Sinne des Art. 25 GG, wenn sie von der überwiegenden Mehrheit der Staaten anerkannt wird. Allgemeine Regeln des Völkerrechts sind Regeln des universell geltenden

Völkergewohnheitsrechts, ergänzt durch aus den nationalen Rechtsordnungen tradierte allgemeine Rechtsgrundsätze.


Entscheidung

391. BVerfG 2 BvR 2491/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 23. Januar 2008 (BGH/LG München II)

Zeugnisverweigerungsrecht (Verwertung ermittlungsrichterlicher Vernehmungen); Recht auf ein faires Verfahren und Konfrontationsrecht (fehlende Konfrontation; Kompensation durch Beweiswürdigung; Gesamtbetrachtung); Nichtannahmebeschluss (BGH 1 StR 458/07); redaktioneller Hinweis.

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK; § 52 StPO; § 252 StPO

1. Von Verfassungs wegen kann die Unverwertbarkeit beweisrelevanter Erkenntnisse geboten sein, wenn durch ihre Erlangung die Menschenwürde Betroffener gefährdet oder verletzt wurde. Verfassungsrechtlich nicht geboten ist hingegen, dem Interesse an der Wahrheitserforschung beziehungsweise den dadurch berührten Persönlichkeitsrechten Betroffener generell einen Vorrang gegenüber den jeweils widerstreitenden Rechtspositionen einzuräumen.

2. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der die Verwertung von Erkenntnissen aus früheren Vernehmungen eines Zeugen grundsätzlich unzulässig ist, wenn dieser später das Zeugnis verweigert, eine Ausnahme aber für Vernehmungen vor dem Ermittlungsrichter gilt, weil letzterer in besonderer Weise geeignet - und in vielfältiger Weise vom Gesetzgeber dafür vorgesehen - ist, präventiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist nachvollziehbar und sachlich begründet.

3. Unter Berücksichtigung des - von den deutschen Gerichten bei der Auslegung des nationalen Rechts zu beachtenden Rechts auf Befragung gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchstabe d EMRK muss dem Beschuldigten die effektive Möglichkeit verschafft werden, einen Zeugen zu befragen und seine Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit in Frage zu stellen. Dabei liegt ein Konventionsverstoß aber nur vor, wenn diese Möglichkeit bei einer Betrachtung des Verfahrens in seiner Gesamtheit nicht gegeben war.

4. Die Auffassung, dass Defizite bei der Ermöglichung einer Konfrontation zwischen Beschuldigten und Belastungszeugen durch das erkennende Gericht durch eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung ausgeglichen werden können, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.


Entscheidung

377. BVerfG 2 BvR 325/06 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. Januar 2008 (LG Augsburg/AG Augsburg)

Übergehen eines erheblichen Beweisangebots (nach Aktenlage unauflöslicher Widerspruch; Anspruch auf rechtliches Gehör; Recht auf ein faires Verfahren); Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts (Belehrung über zur Verfügung stehende Rechtsmittel; Konsultation eines Anwalts; fremdsprachiger Betroffener).

Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 69 Abs. 1 S. 2 OWIG; § 62 OWiG; § 308 StPO

1. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet.

2. Für die Frage der Wirksamkeit eines schriftlichen Rechtsmittelverzichts liegt ein Fall der Erheblichkeit eines Beweisangebotes jedenfalls dann vor, wenn dieses dazu dienen soll, die Unwirksamkeit nachzuweisen und nach Aktenlage ein unauflöslicher Widerspruch besteht (hier: Erklärung des Rechtsmittelverzichts trotz protokollierter Erklärung zunächst einen Anwalt konsultieren zu wollen).

3. In besonderen Fällen können schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts aus Gründen der Gerechtigkeit dazu führen, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist; denn im Hinblick auf die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts kann es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sein, wenn der Angeklagte nur aus formellen Gründen an den äußeren Wortsinn einer Erklärung gebunden wird, der mit seinem Willen nicht in Einklang steht.

4. Gerade dann, wenn keine Belehrung über die dem Betroffenen zu Gebote stehenden Rechtsmittel erfolgte, setzt die Wirksamkeit des Verzichts voraus, dass sich der zu belehrende Betroffene der vollen Tragweite seiner Erklärung bewusst ist. Dies gilt vor allem, wenn der Erklärende Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hat und ohne anwaltlichen Beistand ist. Allein die Anwesenheit eines Dolmetschers ändert hieran nichts. Anders ist es, wenn dem der deutschen Sprache nicht hinreichend kundigen Betroffenen ein zuverlässiger Dolmetscher zur Verfügung stand, der Betroffene nicht lebensunerfahren ist, es sich um keinen besonders schwerwiegenden Tatvorwurf und keine besonders hohe Sanktion handelt.

5. Auch im Bußgeldverfahren muss dem Betroffenen vor der Erklärung eines Rechtsmittelverzichts ausreichend Zeit gegeben werden, sich den Entschluss zur Erklärung eines Rechtsmittelverzichts zu überlegen und insbesondere auch einen Verteidiger zu konsultieren. Ein bindender Rechtsmittelverzicht kann nicht angenommen werden, solange Angeklagter und Verteidiger zu erkennen geben, dass sie die Frage des Verzichts noch miteinander oder mit Dritten erörtern wollen.


Entscheidung

380. BVerfG 2 BvR 467/08 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 31. März 2008 (LG Hamburg/AG Hamburg)

Pflicht zur Offenbarung von Straftaten bei Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung des Schuldners (Angabe ausländischer Bankkonten; strafprozessuales Verwertungsverbot); Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur; allgemeines Persönlichkeitsrecht); Nichtannahmebeschluss.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; § 807 ZPO

1. Der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, durch eine eigene Aussage die Voraussetzung für eine strafgerichtliche Verurteilung zu liefern, ist vom Bundesverfassungsgericht als Teil des allgemeinen Persönlich-

keitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG anerkannt worden (vgl. BVerfGE 56, 37, 41 f.; 95, 220, 241).

2. Gegen die Auffassung, dass ein Schuldner im Rahmen seiner Verpflichtungen nach § 807 ZPO auch von ihm begangene Straftaten offenbaren muss, die auf diese Weise gewonnenen Informationen aber einem strafprozessualen Verwertungsverbot unterliegen, bestehen keine verfassungsrechtlichen Einwände.

3. Es bleibt offen, ob die getätigten Angaben von der Staatsanwaltschaft zum Anlass für die Einleitung von Ermittlungen und die Durchführung von Zwangsmaßnahmen genommen werden dürfen. Diese Frage betrifft die Reichweite des Verwertungsverbots und wäre zunächst von den Fachgerichten in einem gegebenenfalls durchzuführenden Strafverfahren zu beurteilen.


Entscheidung

389. BVerfG 2 BvR 2391/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. Januar 2008 (LG Hamburg/AG Hamburg-Barmbek)

Recht auf informationelle Selbstbestimmung (molekulargenetische Untersuchung); Straftat von erheblicher Bedeutung (Besitz und Mitsichführen einer Waffe samt Munition).

Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 1 Abs. 1 GG; § 81g StPO

1. Die in § 81g StPO geregelte molekulargenetische Untersuchung von Körperzellen und die Speicherung des dadurch gewonnenen DNA-Identifizierungsmusters zum Zweck der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten setzt eine auf bestimmte Tatsachen gestützte Prognose voraus, dass gegen den Betroffenen künftig weitere Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden. Dazu bedarf es einer zureichenden Sachverhaltsaufklärung.

2. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn im Besitz einer Waffe über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg und dem Mitsichführen auf offener Straße mitsamt zugehöriger Munition, durch einen Täter, gegen den bereits ein Kontaktverbot nach dem GewSchG ergangen ist, eine Straftat von erheblicher Bedeutung gesehen wird, welche die Prognose rechtfertigt, dass vom Täter auch zukünftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden können.


Entscheidung

387. BVerfG 2 BvR 2262/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. Januar 2008 (OLG Dresden/LG Zwickau/AG Plauen)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (rechtstaatswidrige Verfahrensverzögerung; Geltendmachung im Revisionsverfahren; Verfahrensrüge; bloße Anregung zur Verfahrenseinstellung).

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 344 Abs. 2 StPO; § 206a StPO

1. Will ein Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde eine rechtsstaats- oder konventionswidrige Verfahrensverzögerung mit dem Ziel einer Kompensation im Wege der Strafzumessung geltend machen, muss er zuvor im Revisionsverfahren grundsätzlich eine den Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügende Verfahrensrüge erheben. Auf die Sachrüge kann das Revisionsgericht nur eingreifen, wenn sich Voraussetzungen und Umfang einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung mit hinreichender Deutlichkeit aus den Urteilsgründen des Tatgerichts ergeben oder dieses sich aufgrund verlässlicher Anhaltspunkte zur Prüfung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in einem Maße gedrängt sehen musste, dass die Nichtberücksichtigung der Verzögerung oder ihre Qualifizierung als lediglich allgemeiner Strafmilderungsgrund als Erörterungsmängel anzusehen sind

2. Selbst bei der Annahme, dass das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung von Amts wegen zu prüfen ist, ist es einem Beschwerdeführer zuzumuten, wenigstens greifbare Anhaltspunkte vorzutragen, die das Revisionsgericht zur Prüfung einer krass rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung drängen mussten. Allein ein Hinweis auf die Verfahrensdauer (hier: acht Jahre und die Anregung das Verfahren nach § 206a StPO einzustellen) reicht dazu nicht aus. Allein die Dauer des Verfahrens lässt für sich genommen noch keine verlässlichen Rückschlüsse auf Existenz und Umfang einer der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung zu.


Entscheidung

383. BVerfG 2 BvR 2173/07 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 2. April 2008 (OLG Bamberg/LG Bayreuth)

Informationsfreiheit; Empfang „umfangreicher schriftlicher Beilagen“ in der Strafhaft (Briefempfang; Paketempfang).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, § 28 StVollzG, § 33 StVollzG

Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn „umfangreiche Beilagen“ zu einem an einen Gefangenen gerichteten Brief nicht als Anwendungsfall des § 28 Abs. 1 StVollzG, sondern des § 33 Abs. 1 StVollzG angesehen werden. Dies gilt unabhängig davon, ob die Übersendung der jeweiligen Beilage in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fällt oder nicht.


Entscheidung

384. BVerfG 2 BvR 2195/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 21. Januar 2008 (LG Krefeld/AG Krefeld)

Erlass einer Bewährungsstrafe (Zurückstellung der Entscheidung; anhängiges Strafverfahren; Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung); Rechtsweggarantie (kein Anspruch auf materielle Entscheidung im Sinne des Betroffenen); Willkürverbot.

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; § 56g Abs. 1 StGB; § 55 Abs. 1 StGB

1. Art. 19 Abs. 4 GG gewährt zwar einen Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit, nicht aber ein Recht auf eine materielle Entscheidung im Sinne des Betroffenen.

2. Es ist nicht willkürlich die Entscheidung über den Straferlass nach Ablauf der Bewährungszeit gemäß 56g Abs. 1 StGB zurückzustellen, wenn gegen den Betroffenen noch ein Strafverfahren anhängig ist, in dem die

Bewährungsstrafe in eine nachträgliche zu bildende Gesamtstrafe einbezogen werden kann und dieses Strafverfahren in Kürze beginnen wird.


Entscheidung

390. BVerfG 2 BvR 2406/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 13. Februar 2008 (BGH/LG Hannover)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Rüge von Grundrechtsverletzungen im Revisionsverfahren; „mediale Vorverurteilung“); Nichtannahmebeschluss (BGH 3 StR 339/07).

§ 90 Abs. 2 BVerfGG, § 344 Abs. 2 StPO

Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt vom Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde, der seine Grundrechte durch Verstöße des Tatgerichts verletzt sieht, diese Verstöße im Revisionsverfahren so zu rügen, dass eine sachliche Befassung des Revisionsgerichts mit diesen Rügen möglich und hinreichend wahrscheinlich ist. Im Rahmen der Sachrüge erfordert dies grundsätzlich substantiierte Ausführungen zur angeblichen Verletzung materiellen Rechts (hier: Übergehen des Gesichtspunkts der „medialen Vorverurteilung“ durch das Tatgericht).


Entscheidung

392. BVerfG 2 BvR 2516/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 5. März 2008 (BGH/LG Lübeck)

Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (substantiierte Darlegung der Grundrechtsverletzung; lückenhafter Vortrag; unvollständige Auseinandersetzung mit den Gesamtumständen; Vorlage der Antragsschrift des Generalbundesanwalts); Nichtannahmebeschluss (BGH 5 StR 410/07).

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; § 92 BVerfGG

1. Ob eine mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes nicht in Einklang stehende Verfahrensverzögerung vorliegt, richtet sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalls, die in einer umfassenden Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen.

2. Rügt der Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, so hat er den Verfahrensgang, einschließlich des eigenen Verteidigungsverhaltens, umfassend darzulegen und sich in der Beschwerdeschrift mit den Gesamtumständen, einschließlich der Komplexität des Verfahrens, auseinander zu setzen.


Entscheidung

393. BVerfG 2 BvR 2697/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 18. Februar 2008 (LG Magdeburg/AG Aschersleben)

Unverletzlichkeit der Wohnung (Durchsuchung); Bestätigung der Beschlagnahme (trotz Rechtswidrigkeit der Durchsuchung); Verhältnismäßigkeit (Darlegung der Beweiserheblichkeit von Schriftstücken; Anfertigung von Kopien); Nichtannahmebeschluss.

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 94 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO

1. Den Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG berühren nur solche Eingriffe, durch die die Privatheit der Wohnung ganz oder teilweise aufgehoben wird (vgl. BVerfGE 89, 1, 12). Eine derartige Wirkung kommt der Beschlagnahme nicht zu.

2. Die Beschlagnahme von bei einer vorangegangenen rechtswidrigen Durchsuchung aufgefundenen Gegenständen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Rechtswidrigkeit des Durchsuchungsbeschlusses ausschließlich auf einem Begründungsfehler beruht hat und der Durchsuchungsbeschluss bei ausreichender Begründung den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt hätte.

3. Der Beschlagnahmebeschluss muss nicht für jedes beschlagnahmte Schriftstück die (potentiellen) Beweiserheblichkeit darlegen.

4. Die Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme kann auch dadurch gewahrt werden, dass dem Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt wird kostenlose Kopien anzufertigen.


Entscheidung

388. BVerfG 2 BvR 2307/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 21. Januar 2008 (LG Hildesheim/AG Hildesheim)

Recht auf körperliche Unversehrtheit; Entnahme einer Blutprobe ohne richterliche Genehmigung (Gefahr im Verzug; Willkürverbot).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; § 81a Abs. 1 StPO; § 81a Abs. 2 StPO

1. Die Missachtung des einfachrechtlich in § 81a Abs. 1, 2 StPO geregelten Richtervorbehalts begründet allein noch keine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG.

2. Die Annahme von Gefahr im Verzug bei der Anordnung einer Blutprobe an einem Werktag zwischen 14.40 und 15.40 ist nicht willkürlich, wenn diese dazu dient, die Blutalkoholkonzentration des Betroffenen, insbesondere wegen dessen Behauptung des Nachtrunks, in zeitlicher Nähe zum Tatzeitpunkt zu sichern.


Entscheidung

376. BVerfG 2 BvR 256/08 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 13. Februar 2008 (OLG Hamm/LG Arnsberg)

Gegenvorstellung gegen einen Kammerbeschluss (grundsätzliche Unzulässigkeit; offen gelassen für Verletzung rechtlichen Gehörs durch die Kammer); Haftentlassung (nachträgliche Verschlechterung des Gesundheitszustands); Verwerfungsbeschluss.

§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; Art. 103 Abs. 1 GG

Nichtannahmeentscheidungen der Kammern des Bundesverfassungsgerichts können auf Gegenvorstellungen hin grundsätzlich, auch durch die Kammer selbst, nicht mehr abgeändert werden.