HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2008
9. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

mit der April-Ausgabe der HRRS wird insbesondere die einstweilige Anordnung des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung publiziert. Darüber hinaus werden vor allem zwei Referate des 32. Strafverteidigertages aus der revisionsrechtlichen Arbeitsgruppe publiziert. RiBGH Hebenstreit und RA Ventzke befassen sich in ihren Beiträge mit der Zulassung der Rügeverkümmerung durch den Großen Senat und stellen diese in den Kontext der gesamten Entwicklung des Revisionsrechts ein. Ein weiterer Beitrag von RiOLG Eschelbach behandelt die zunehmend wichtigere Frage, inwiefern eine Wiederaufnahme nach einer Verfahrensabsprache zulässig sein sollte.

Insgesamt werden 113 Entscheidungen (mit einigen BGHR-Entscheidungen), drei Rezensionen und eine Buchanzeige mit der Ausgabe publiziert.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede, Schriftleiter


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

261. BVerfG 1 BvR 256/08 (Erster Senat) – Beschluss vom 11. März 2008

Einstweiligen Anordnung betreffend die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten (Folgenabwägung; erhebliche Gefährdung der Unbefangenheit der Nutzung von Telekommunikation; zwingendes Gemeinschaftsrecht, „effet utile“); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen ein zwingendes Gemeinschaftsrecht umsetzendes Gesetz; Voraussetzungen für ein Auskunftsersuchen beim Telekommunikationsanbieter.

§ 32 Abs. 1 BVerfGG; § 90 BVerfGG; Art. 10 Abs. 1 GG; Art. 230 EG; Art. 1 Abs. 1 Richtlinie 2006/24/EG; § 113a TKG; § 113b TKG; § 100a StPO; § 100g StPO

1. Eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz, welches eine EG-Richtlinie umsetzt, ist auch im Hinblick auf die Solange II-Rechtsprechung jedenfalls dann nicht unzulässig, wenn das angegriffene Gesetz über zwingende gemeinschaftsrechtliche Vorgaben hinausgeht, aber auch dann, wenn der Gemeinschaftsrechtsakt Gegenstand eines Antrags auf Nichtigkeitserklärung nach Art. 230 EG vor dem Europäischen Gerichtshof ist und der Erfolg dieses Verfahrens nicht ausgeschlossen werden kann.

2. Die Aussetzung des Vollzugs eines zwingendes Gemeinschaftsrecht umsetzenden Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht, setzt zumindest voraus, dass aus der Vollziehung des Gesetzes den Betroffenen ein besonders schwerwiegender und irreparabler Schaden droht, dessen Gewicht das Risiko hinnehmbar erscheinen lässt, im Eilverfahren über die Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache hinauszugehen und das Gemeinschaftsinteresse an einem effektiven Vollzug des Gemeinschaftsrechts schwerwiegend zu beeinträchtigen.

3. Die sechs Monate andauernde Möglichkeit des Zugriffs auf sämtliche durch eine Inanspruchnahme von Telekommunikationsdiensten entstandenen Verkehrsdaten bedeutet eine erhebliche Gefährdung des in Art. 10 Abs. 1 GG verankerten Persönlichkeitsschutzes. Angesichts der flächendeckenden Erfassung des Telekommunikationsverhaltens der Bevölkerung reicht es weit über den Einzelfall hinaus und droht, die Unbefangenheit des Kommunikationsaustauschs und das Vertrauen in den Schutz der Unzugänglichkeit der Telekommunikationsanlagen insgesamt zu erschüttern.

4. Im Rahmen der einstweiligen Anordnung bleiben die Strafverfolgungsbehörden unter den Voraussetzungen des § 100b Abs. 1 bis 4 Satz 1 StPO dazu befugt, nach § 100g StPO in Verbindung mit § 113b Satz 1 Nr. 1 TKG Abrufersuchen an die nach §§ 113a, 113b TKG zur Datenbevorratung und Datenauswertung verpflichteten Diensteanbieter zu richten. Ein Diensteanbieter hat auf ein Abrufersuchen hin den bevorrateten Datenbestand nach Maßgabe des Ersuchens auszuwerten. Das Suchergebnis ist der Strafverfolgungsbehörde jedoch nur dann unverzüglich mitzuteilen, wenn in der Anordnung des Abrufs (§ 100g Abs. 2 in Verbindung mit § 100b Abs. 1 und 2 StPO) aufgeführt ist, dass er eine Katalogtat nach § 100a Abs. 2 StPO zum Gegenstand hat und dass die Voraussetzungen des § 100a Abs. 1 StPO vorliegen. Ansonsten ist das Suchergebnis der Strafverfolgungsbehörde nicht mitzuteilen, sondern bei dem Diensteanbieter zu verwahren, um gegebenenfalls später übermittelt werden zu können, und zwar über die Löschungsfrist des § 113a Abs. 11 TKG hinaus. Der Diensteanbieter darf das Suchergebnis nicht zu eigenen Zwecken verwenden und hat sicherzustellen, dass Dritte keinen Zugriff darauf nehmen können.


Entscheidung

262. EuGH C440/05 – Urteil vom 23. Oktober 2007 (Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Rat der Europäischen Union)

Nichtigkeitsklage gegen den Rahmenbeschluss 2005/667/JI (Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe; Verkehrspolitik; Umweltpolitik; Annexkompetenz im Gemeinschaftsrecht für strafrechtliche Sanktionen; Zuständigkeit der Gemeinschaft; Rechtsgrundlage).

Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU; Art. 34 EU; Art. 47 EU; Art. 80 Abs. 2 EG; Art. 6 EG

1. Art. 80 Abs. 2 EG trifft keine ausdrückliche Einschränkung, welche gemeinsamen besonderen Vorschriften der Rat auf dieser Grundlage erlassen kann. Der Gemeinschaftsgesetzgeber verfügt somit nach dieser Bestimmung über eine weitreichende Rechtsetzungsbefugnis und ist aufgrund dessen und analog zu den übrigen Bestimmungen des EG-Vertrags über die gemeinsame Verkehrspolitik, insbesondere zu Art. 71 Abs. 1 EG, u. a. für den Erlass von Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit und aller sonstigen zweckdienlichen Vorschriften im Bereich der Seeschifffahrt zuständig. Diese Zuständigkeit besteht unabhängig davon, ob der Gesetzgeber beschließt, tatsächlich von ihr Gebrauch zu machen.

Da die Erfordernisse des Umweltschutzes, der eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft ist, nach Art. 6 EG bei der Festlegung und Durchführung der Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen einbezogen werden müssen, ist dieser Schutz als ein Ziel anzusehen, das auch Bestandteil der gemeinsamen Verkehrspolitik ist. Der Gemeinschaftsgesetzgeber kann deshalb auf der Grundlage von Art. 80 Abs. 2 EG in Wahrnehmung der ihm durch diese Bestimmung zugewiesenen Befugnisse beschließen, den Umweltschutz zu fördern. In diesem Rahmen kann er, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt, die Mitgliedstaaten zur Einführung derartiger Sanktionen verpflichten, um die volle Wirksamkeit der von ihm in diesem Bereich erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten.

2. Nach Art. 47 EU lässt der EU-Vertrag den EG-Vertrag unberührt. Dasselbe ergibt sich aus Abs. 1 des Art. 29 EU, der Titel VI („Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“) des EU-Vertrags einleitet. Der Gerichtshof hat darüber zu wachen, dass die Handlungen, von denen der Rat behauptet, sie fielen unter diesen Titel VI, nicht die Zuständigkeiten beeinträchtigen, die die Bestimmungen des EG-Vertrags der Gemeinschaft zuweisen.

Der Rahmenbeschluss 2005/667 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte Verhaltensweisen strafrechtlich zu ahnden, hat, wie aus seinen Erwägungsgründen sowie aus seinen Art. 2, 3 und 5 hervorgeht, die Verbesserung der Sicherheit des Seeverkehrs und zugleich die Verstärkung des Schutzes der Meeresumwelt vor der Verschmutzung zum Ziel und zum Inhalt und hätte, zumindest soweit es um diese Bestimmungen geht, auf der Grundlage von Art. 80 Abs. 2 EG erlassen werden können; er verstößt deshalb gegen Art. 47 EU.

Bestimmungen wie die Art. 4 und 6 des Rahmenbeschlusses 2005/667, die Art und Maß der strafrechtlichen Sanktionen betreffen, fallen nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft und hätten daher von dieser nicht wirksam erlassen werden können. Da die Art. 4 und 6 des Rahmenbeschlusses 2005/667 untrennbar mit dessen Art. 2, 3 und 5 sowie alle vorgenannten Artikel untrennbar mit den Art. 7 bis 12 des Rahmenbeschlusses verbunden sind, ist dieser insgesamt für nichtig zu erklären.


Entscheidung

308. BVerfG 2 BvR 2556/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. Januar 2008 (OLG Stuttgart/LG Stuttgart/AG Waiblingen)

Verfassungsbeschwerde (Subsidiarität; Begründung; Vorlage der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft); Anhörungsrüge (Pflicht zur Erhebung); Nichtannahmebeschluss.

Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 354 Abs. 1a StPO: § 356a StPO.

1. Versäumnisse des Revisionsgerichts bei Erteilung eines verfassungsrechtlich gebotenen Hinweises hat der Angeklagte im Wege der Anhörungsrüge geltend zu machen. Dies gilt auch dann, wenn berechtigte Zweifel bestehen, ob ein erteilter Hinweis den verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht wird, etwa, weil der Hinweis mangels konkreter Ausführungen zur „Angemessenheit“ der Strafe trotz Rechtsfolgenzumessungsfehlern des Tatgerichts für den Angeklagten nicht deutlich werden lässt, warum das Revisionsgericht meint, nach § 354 Abs. 1a StPO verfahren zu können.

2. Das Versäumnis der Erhebung der Anhörungsrüge hat grundsätzlich zur Folge, dass die Verfassungsbeschwerde insgesamt unzulässig ist.

3. Eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Revisionsverwerfungsbeschluss ist u.a. dann nicht ausreichend begründet, wenn es der Beschwerdeführer unterlässt, Stellungnahmen der Generalstaatsanwaltschaft vorzulegen, auf welche der angegriffene Beschluss ausdrücklich Bezug nimmt.


Entscheidung

309. BVerfG 2 BvR 120/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. März 2007 (BGH/LG Bonn)

Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde; Anspruch auf rechtliches Gehör (prozessuale Einheit verfassungsrechtlicher Rügen gegen denselben Hoheitsakt); Darlegungsanforderungen; Rechtsprechungsänderung (Überraschungsentscheidung).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 BVerfGG; § 93 Abs. 1 BVerfGG; § 356a StPO; § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB

1. Nach Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bilden die verfassungsrechtliche Gehörsrüge und andere Grundrechtsrügen, die im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde und mit Blick auf einen unteilbaren Streitgegenstand erhoben werden, grundsätzlich eine prozessuale Einheit.

2. Eröffnet die fachgerichtliche Anhörungsrüge durch Zurückversetzung des Gerichtsverfahrens in einen vorherigen Stand dem Beschwerdeführer die Möglichkeit, neben einem Gehörsverstoß auch Eingriffe in andere grundrechtliche Positionen zu rügen, muss die fachgerichtliche Anhörungsrüge erhoben werden, um auch mit der Behauptung anderer Grundrechtsverletzungen gehört zu werden.

3. Kann eine Gehörsrüge im fachgerichtlichen Verfahren nicht substantiiert angebracht werden, muss dieser Rechtsbehelf nicht ergriffen werden. Der Fristbeginn für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung verschiebt sich durch eine in diesem Fall gleichwohl erhobene Gehörsrüge nicht.

4. Art. 103 Abs. 1 GG schützt auch vor „Überraschungsentscheidungen“. Im Falle einer Rechtsprechungsänderung liegt eine solche aber nur dann vor, wenn ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nach bisherigem Prozessverlauf mit ihr nicht zu rechnen brauchte.


Entscheidung

310. BVerfG 2 BvR 2111/07, 2 BvR 2112/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 4. März 2008 (LG Braunschweig)

Beschwerde gegen längere Zeit zurückliegende Ermittlungsmaßnahmen (Abfrage von Telekommunikationsverbindungsdaten; Rechtsschutzbedürfnis; Treu und Glauben; Verwirkung); Anspruch auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz.

Art. 19 Abs. 4 GG; § 304 StPO; § 100g StPO a.F.; § 100h StPO a.F.; § 242 BGB

1. Mit dem aus Art. 19 Abs. 4 GG zu entnehmenden Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt ist es vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnis abhängig zu machen.

2. Bei der Einlegung einer Beschwerde innerhalb von einem Jahr nach Bekanntwerden einer Ermittlungsmaßnahme nach den §§ 100g, 100h StPO a.F. und innerhalb von neun Monaten nach Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO kann noch nicht von der Verwirkung des Rechtsschutzbedürfnisses ausgegangen werden. (Abgrenzung zu BVerfG NJW 2003, 1514)

3. Der formlose Rechtsbehelf der Gegenvorstellung gehört nicht zum Rechtsweg nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.