HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2008
9. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Auf der Jagd nach der Wahrheit?

Revisionsverteidigung zwischen Rekonstruktionsverbot und Rekonstruktionspflicht[*]

Von Rechtsanwalt Klaus-Ulrich Ventzke, Hamburg

Geht mit der revisionsgerichtlich bewirkten Abschaffung der Beweiskraft des im Sinne von § 273 Abs. 4 StPO fertiggestellten Hauptverhandlungsprotokolls (§§ 273 f. StPO) ein Wunschtraum der Verteidigung in Erfüllung oder beginnt ein weiterer Alptraum für die Verteidigung in strafrechtlichen Revisionsverfahren?

Diese Frage ist nicht (nur) rhetorischer Natur. Freilich zeichnete die Mehrzahl der Angriffe auf das sog. Verbot der Rügeverkümmerung [1] seit jeher ein obrigkeitsstaatlich-autoritäres Verständnis des Strafverfahrens [2] aus. Ein Blick in die Frühphase dieser über hundertjährigen Debatte belegt dies anschaulich: Daß "Licht und Schatten für den Angreifer und den Verteidiger des angefochtenen Urteils ungleich verteilt (werden)" [3], daß der "schreiende Nachtheil" [4] dieses Prozeßrechtsverständnisses darin liege, daß es auf "nichts Geringeres als eine Prämie für Lüge und Schwindel" [5] hinauslaufe, wurde damals von Autoren aus Strafjustiz und Rechtswissenschaft u.a. aus folgenden Gründen als unerträglich angesehen:

  • Dies begünstige "den Angeklagten insofern, als von diesem, dem gesetzlichen Vertreter des Angeklagten oder dem Ehemanne der angeklagten Frau die weitaus überwiegende Zahl von Beschwerden über Mängel des Verfahrens erhoben wird, während die Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger solche Mängel nur in beschränktem Umfang rügen können und viel seltener rügen". [6]
  • Es sei unsicher, "ob das neu ergehende Urteil im gleichen Sinne entschieden wird wie das angefochtene". [7]
  • "Diese Tendenz, dem Rechtsmittel zum Erfolge zu verhelfen, (sei) nicht vereinbar mit der Autorität, die dem ergangenen Urteil so lange gebührt, als nicht im Rechtsmittelverfahren ein wirklicher Urteilsfehler sich ergeben hat". [8]
  • Man werde "dem deutschen Richter- und Beamtenstand nicht das Mißtrauensvotum geben wollen, für möglich zu halten, daß, wenn eine wirklich begründete Beschwerde angestellt wird, Vorsitzender und Gerichtsschreiber im Stande seien, die Begründetheit durch Aenderung des Protocolls abzuleugnen, um der Eitelkeit halber einen Prozeßverstoß nicht eingestehen zu wollen und das Urtheil nicht aufgehoben zu sehen". [9]

Kurzum mit Dallingers [10] Worten: "Wir müssen danach streben, die Wahrheit über die Form siegen zu lassen." [11]

Diese Sicht der Dinge fand allerdings auch Widerhall bei Verteidigern. Niemand Geringerer als Max Alsberg focht vehement für die Abschaffung der Beweiskraft der Sitzungsniederschrift, weil damit "der materiellen Wahrheit nur gedient" würde, scheiterten doch zahlreiche begründete Revisionen an dieser Regelung, "während unbegründete Revisionen durch sie eine Scheinberechtigung erlangen und Erfolg haben müssen". [12] Mit Befriedigung nahm Alsberg [13] zur Kenntnis, "daß die revisionsgerichtliche Rechtsprechung sich von der sklavischen Bindung an die Sitzungsniederschrift, die den Schöpfern der StPO als das Ideal vorschwebte, in zunehmendem Maße freizumachen sucht". Wenn die "unglückselige Idee einer ausschließlichen Beweiskraft des Sitzungsprotokolls" demnach "im ganzen ein Mißgriff" war [14], sind es dann vielleicht eher psychologische Gründe, die erklären, daß und in welcher Weise über die Berechtigung der Rügeverkümmerung seit über 100 Jahre gestritten wird? Mannheim [15] hat bereits 1925 hinsichtlich der Befürworter ihres Verbots in diese Richtung argumentiert:

"Wenn man sicher wäre, daß die nachträgliche Änderung immer eine Berichtigung wäre, so würde man gegen ihre Zulassung keine Bedenken tragen. Aber man mißtraut – zwar nicht der subjektiven, aber doch der objektiven Wahrheit nachträglicher Änderungen. (…) Daß dieser Gesichtspunkt sonst kaum jemals erwähnt wird, ist bezeichnend für die verbreitete Neigung, derartige in Wahrheit entscheidende psychologische Momente hinter scheinbar juristischen Konstruktionen zurücktreten zu lassen."

Freilich scheinen auch für die Anhänger der Rügeverkümmerung derartige "psychologische Momente" ausschlaggebend zu sein. Ein beredtes Beispiel lieferte 1949 der ehemalige Reichsgerichtsrat und damalige Oberlandesgerichtspräsident Niethammer [16] : Mit seiner Leitentscheidung vom 01.02.1949 hatte sich nämlich der Strafsenat des OGHBZ von der Entscheidung des Großen Senats des Reichsgerichts vom 11.07.1936 abgewandt, mit der wiederum in Abkehr von der früheren Rechtsprechung der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts aus dem Jahr 1909 erstmals die Rügeverkümmerung zugelassen worden war. Niethammer unternahm es in dieser Situation, die 13 Jahre zurückliegende Entscheidung gegen den Vorwurf zu verteidigen, in ihr spiegele sich entsprechend ihrem Wortlaut [17] genuin nationalsozialistisches Strafprozeßverständnis. Dabei griff er zu folgender bemerkenswerten Argumentation:

"Der Beschluß unterlag nicht verfehlten Rechtsgedanken. Er kam allein durch sorgfältige, auf eine gesunde Fortentwicklung des Rechts bedachte Erwägungen zustand(e). Maßgebend für die Entscheidung des Großen Senats waren Erfahrungen, die sich in den vorangegangenen Jahrzehnten angesammelt hatten und gebieterisch dazu drängten, die im Beschluß der Vereinigten Strafsenate ausgesprochene Ansicht aufzugeben. Die starre Gebundenheit an den zur Zeit der Erhebung einer Verfahrensbeschwerde gegebenen Inhalt der Sitzungsniederschrift war von Beschwerdeführern immer wieder mißbraucht worden. Die unantastbare Herrschaft der Sitzungsniederschrift hatte das Revisionsgericht in vielen Fällen zu Entscheidungen gezwungen, die mit Wahrheit und Recht unvereinbar waren und schädlich auf die Erledigung der einzelnen Sachen einwirkten. Es ist verständlich, daß der Große Senat angesichts solcher Erfahrungen das Bestehen eines Rechtssatzes, der dem Beschwerdeführer ein Recht auf unveränderte Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge für das Verfahren vor dem Revisionsgericht einräum(t)e, nicht mehr länger anerkennen wollte, sondern eine freiere, der Wahrheit zugewandte Lösung der umstrittenen Frage anstrebte.(…) Die Zurückverweisung einer Sache zu neuer Verhandlung zieht immer einen Nachteil für die Erforschung der Wahrheit nach sich. (…) In Fällen, in denen mühsam um Wahrheit gerungen wird, bedeutet ein solches Verfahren regelmäßig die endgültige Niederlage der Wahrheit."

Der Bundesgerichtshof formuliert es ein halbes Jahrhundert später nicht viel anders. Die in den Entscheidungen seines 3. Strafsenats vom 11.08.2006 und seines Großen Senats vom 23.04.2007 (Rn. 49 ff.), aber auch in einer Vielzahl von im Verfahren gem. § 349 Abs. 2 StPO ergangenen Beschlüssen - nicht nur als Begleitmusik - enthaltene Klage über den ethischen Niedergang der Strafverteidigung hat keinen anderen Inhalt. Sie verzichtet ebenso auf wenigstens ansatzweise (über bloßes Ressentiment hinausgehende) empirische Belege [18] . Es dürfte kein Zufall sein, daß diese Verteidiger und ihr Prozeßverhalten anprangernden Beschlüsse vornehmlich vom 1. und 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs stammen, also denjenigen Senaten, die die "Neuausrichtung" des Revisionsverfahrens energisch vorantreiben. [19] Vor diesem Hintergrund lassen sich die die Rügeverkümmerung zulassenden Entscheidungen relativ einfach einordnen:

1. Als ein Bestandteil des – salopp formuliert - revisionsgerichtlichen Projektes "Schützende Hand" [20] sollen sie tatrichterliche Urteile vor al-
lem gegen verfahrensrechtliche Beanstandungen abschirmen, die dem Revisionsgericht der Sache nach als bloße Protokollrügen oder als Produkt einer auf ihre bewußte Herbeiführung zielenden Verteidigungsstrategie erscheinen. Anderes gilt nur dann, wenn die tatrichterliche Verfahrensweise bzw. das von dem Tatrichter gefundene Ergebnis dem Revisionsgericht nach seinem möglichst freien Ermessen als (handwerklich) verfehlt erscheinen. [21]
2. Wird mit diesen Entscheidungen und ihrer expliziten Wahrheitsfixierung gerade die schützende Hand des Revisionsrichters über das "goldrichtige Urteil" [22] des Tatrichters gehalten, so ist für Wunschvorstellungen gar von Verteidigern keinerlei Raum. In ihrer Begründungslogik - also bei immanenter, nicht rechtspolitischer Betrachtungsweise - sind sie gerade nicht anschlußfähig für Versuche, die Filter des Revisionsverfahrens (im Sinne einer "wirklichen" Wahrheitsorientierung) zu öffnen und so die Kontrolle des tatgerichtlich gefundenen Ergebnisses in tatsächlicher Hinsicht zu erweitern. Das folgt auch daraus, daß ein Essential des Projektes "Schützende Hand" weiterhin unermüdliche Versuche der Revisionsgerichtsbarkeit sind, mit anderen revisionsverfahrensrechtlichen Mitteln die Chancen erhobener Verfahrensbeanstandungen zu minimieren.
3. Als Ergebnis dieser Entwicklung befindet sich die (Instanz- wie die) Revisionsverteidigung in einer von ihr nicht aufzulösenden Zwickmühle: Einerseits trifft sie die Pflicht, den Gang der Hauptverhandlung auch in tatsächlicher Hinsicht zu rekonstruieren, andererseits werden ihr derartige Versuche als Verstöße gegen die Usancen des Revisionsverfahrens übelgenommen. Unwillkürlich fühlt man sich an eine double-bind-Situation erinnert. Sie führt bekanntlich nach einer psychiatrischen Lehrmeinung zum Irresein.

Diese Thesen möchte ich in drei Schritten veranschaulichen: Zuerst werde ich mich der Frage zuwenden, wie die Revisionsgerichtsbarkeit (bisher) praktisch mit Verfahrensrügen umgegangen ist, die unter dem Verdacht der Unwahrhaftigkeit standen (I.). Alsdann werde ich die Rechtsinstitute in Erinnerung rufen, die die Rechtsprechung ungerührt zur Anwendung bringt, um sich in der Revisionsinstanz gerade nicht mit der "Wahrheit" befassen zu müssen (II.) Schließlich werde ich schlaglichtartig die praktischen Probleme beleuchten, die sich hieraus für den Verteidigungsalltag ergeben (III.).

I. Zum bisherigen revisionsgerichtlichen Umgang mit ordnungsgemäß erhobenen Protokollrügen

Daß gerade im Jahr 2006 die Notwendigkeit bestand, wegen der Gepflogenheiten der Revisionsverteidigung den Rechtszustand vom 11.07.1936 wiederherzustellen, wird in beiden Entscheidungen nicht aufgezeigt. Ein Blick auf die Homepage des Bundesgerichtshofes und in seine dort seit 2000 vollständig dokumentierte Rechtsprechung [23] gibt nichts dafür her, daß der Bundesgerichtshof in erwähnenswerter Weise gezwungen worden war, nur wegen nicht angreifbar gerügter Protokollmängel "goldrichtige" Urteile aufzuheben. Das spricht dafür, daß es sich um einen eher gefühlten Belagerungszustand handeln könnte. [24] Möglicherweise ist für diese Gemütslage auch die revisionsgerichtliche Beobachtung ursächlich, die Qualität der tatgerichtlich zu verantwortenden Protokolle werde trotz (oder wegen) des Einsatzes von Formularen und Textbausteinen nicht besser. Denkbar ist aber auch, daß die Revisionsgerichte bisher Wege gefunden hatten, sich Rügen zu erwehren, bei denen in der Tat der Eindruck naheliegen mag, der von ihnen beanstandete Verfahrensfehler könne nur auf dem Papier des Protokolls stattgefunden haben. [25] Gerade das Verfahren gemäß § 349 Abs. 2 StPO eröffnet dem Revisionsgericht die effektive Möglichkeit, sich still und leise derartiger Beanstandungen zu entledigen. [26]

a) Insoweit mag es hilfreich sein, sich der Behandlung derjenigen Fallkonstellation zuzuwenden, die dem Urteil des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes vom 11.08.2006 zugrundelag: Gerügt worden war die Abwesenheit des notwendigen Verteidigers, die durch das Hauptverhandlungsprotokoll belegt worden war, deren Nachweis aber u.a. die dienstliche Erklärung desjenigen Richters des Kammergerichts entgegenstand, der von der Vorsitzenden damit betraut worden war, die Verteidigerpräsenz zu überwachen (a.a.O. Rn. 10). Wie ist die Rechtsprechung mit derartigen Rügen zuvor verfahren? In seinem in derselben Sache ergangenen Urteil vom 29.06.2006 hatte sich für den Senat die Erfolglosigkeit einer vergleichbaren Rüge daraus ergeben, daß das Protokoll widersprüchlich und damit nicht beweiskräftig war. [27] In vergleichbarer Weise erledigte er den Fall, daß eine Rechtsanwältin "in den Niederschriften verschiedener Terminstage als Verteidigerin unterschiedlicher Angeklagter bezeichnet

wird" [28] ; hieraus hatte der Beschwerdeführer eine Rüge gem. §§ 140 Abs.1, 338 Nr. 5 StPO hergeleitet.

Freilich hatte derselbe Senat, der seine Entscheidung vom 11.08.2006 in der Pressemitteilung 116/2006 mit dem Aufmacher präsentierte "Bundesgerichtshof tritt rechtsmißbräuchlichem Verteidigerverhalten entgegen", in teilidentischer Besetzung in der Sache 3 StR 202/04 (Beschluß gem. § 349 Abs. 2 und 4 StPO vom 11.08.2004) genau zwei Jahre zuvor eine identische Rüge in einer vor dem OLG Naumburg anhängig gewesenen Staatsschutzsache durchgreifen lassen. Die - wie im Berliner Fall vorliegenden - dienstlichen Erklärungen erklärte er für unbeachtlich, da ihre Beachtung "zu einer weitgehenden Relativierung der Beweiskraft des Protokolls führen und damit dem Zweck des § 274 StPO widerstreiten (würde), die Prüfung der wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrensgangs der Tatsacheninstanz durch das Revisionsgericht zu formalisieren und daher auf die aus der Sitzungsniederschrift ersichtlichen Verfahrensgänge zu beschränken" (S. 5).

Damit setzte sich dieser Senat ausdrücklich von dem Versuch des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofes (Urteil vom 08.08.2001 – 2 StR 504/00) ab, dem Hauptverhandlungsprotokoll die Beweiskraft zu nehmen, wenn zwar nicht eine Analyse seines Textes selbst einen Mangel aufdeckt, wohl aber seine an allgemeinen Erfahrungssätzen orientierte Betrachtung zur Annahme der Unwahrscheinlichkeit des gerügten und in ihm dokumentierten Verfahrensfehlers zu zwingen scheint. [29]

b) Was bedeutet(e) es aber praktisch, wenn Tatgericht und Revisionsgericht gemeinsam daran gehen, einer derartigen Rüge die Grundlage zu entziehen? Ein Verfahren aus dem Jahr 1997 gibt Aufschluß über die schon immer genutzten strafjustiziellen Handlungsmöglichkeiten und liefert zugleich einen ersten Vorgeschmack auf zukünftige Protokollberichtigungsverfahren. [30]

Sachverhalt : In einem Verfahren vor einer erfahrenen Schwurgerichtskammer wurde der Angeklagte durch drei als kompetent bekannte Verteidiger (G., M., Ma.) verteidigt. Der Beschwerdeführer beanstandete, am Nachmittag eines Hauptverhandlungstages, an dem ein Zeuge vernommen worden war, unverteidigt gewesen zu sein. Das Hauptverhandlungsprotokoll ergab, daß Rechtsanwältin G. und Rechtsanwalt M. am Vormittag anwesend waren, am Nachmittag aber nicht erschienen waren, ohne daß für diesen Tag irgendetwas für die Präsenz eines anderen Verteidigers, etwa des dritten Verteidigers Ma., erkennbar war. Dies war nicht den als Revisionsverteidiger tätigen Rechtsanwälten, sondern einem mitverteidigenden Hochschullehrer aufgefallen.

Nach Eingang der Revisionsbegründung fertigte der Vorsitzende folgende Vermerke:

"Vermerk

Das Protokoll vom 10.1.1996 (Bl. 412) ist – offenkundig – lückenhaft.

1) Zu Beginn des Verfahrens um 9.45 waren als Verteidiger anwesend:

RA M.

RA´in G.

RA Ma.

Dies folgt hinsichtlich des Verteidigers M. bereits aus Bl. 413 des Protokolls. Hinsichtlich des Verteidigers Ma. ergibt sich dessen Anwesenheit aus dem Schlußsatz des Protokolls von diesem Tage: `Die Prozeßbeteiligten wurden vor dem Protokoll….´

Die Wahl des Plurals durch den Protokollführer macht nur Sinn bei Anwesenheit eines Verteidigers.

2) Neben der Offenkundigkeit folgt die Anwesenheit des RA´tes Ma. zu Beginn der Verhandlung aus meiner Erinnerung:

An diesem Verhandlungstag galt es, die Glaubwürdigkeit des Zeugen W. durch Vernehmung u.a. des Zeugen OStA Me. zu prüfen. Dessen Vernehmung betraf das Verhalten des Zeugen W. in dem spektakulären `P.-Verfahren´. Wohl auch aus diesem Grund waren zu Beginn der Verhandlung alle Verteidiger anwesend. Entsprechend wurde RA Ma. in der Anwesenheitsliste aufgeführt und rechnete den 10.1.96 ab.

Sch.

2.1.97:"

Sodann übersandte er die Akte dem Urkundsbeamten mit der folgenden Verfügung:

"Ich beabsichtige, das Protokoll dahingehend zu berichtigen, daß am 10.01.1996 mit Beginn der Sitzung anwesend waren:

RA M.

RA Ma.

RA´in G..

Ich bitte um Beantwortung folgender Fragen:

a) Erinnern Sie die Anwesenheit der Verteidiger zu Beginn der Verhandlung?

b) Wie kam es zu der fehlerhaften Protokollierung?

c) Erinnern Sie den Umstand, daß nach der Pause ohne Verteidiger verhandelt worden ist?

d) Schließen Sie letzteres aus?

(…)

Sch.

6.1.97"

Die Antwort erfolgte prompt am selben Tage:

"zu a): Nachdem ich die Abrechnungsliste der Verteidiger vom 10.1.1996 eingesehen habe, die
ich am 10.1.1996 geführt habe, während ich Protokoll führte, erinnere ich mich, daß mit Prozeßbeginn anwesend waren RAe M., Ma. und G.

zu b) Die Fehlerhaftigkeit des Protokolls (Nichtaufführen aller Verteidiger) kann ich mir nur erklären, daß ich durch irgendeinen Umstand abgelenkt worden bin.

zu c) und d): Ich schließe mit Sicherheit aus, daß ohne Verteidiger weiterverhandelt worden ist.

Hamburg, d. 6.1.1997

X JHS"

Ebenfalls am selben Tage nahm der Vorsitzende die angekündigte Protokollberichtigung vor und fügte ihr noch folgenden Vermerk an:

"Da sich die Revisionsbegründung auf die Zeit nach der Mittagspause bezieht, ist für die Protokollberichtigung für die Zeit vor der Pause Raum.

Sch.

6.1.1997"

Nachdem die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft in ihrer dienstlichen Erklärung diesen Verfahrensgang bestätigt und ergänzend darauf hingewiesen hatte, das Beweisthema der nachmittäglichen Beweisaufnahme sei ohnehin für das spätere Urteil in Ermangelung der Relevanz des Zeugen W. unbeachtlich gewesen, war es an der Bundesanwaltschaft, die Unbegründetheit der Revision aufzuzeigen:

"Zwar ist der Revision zuzugeben, daß das Hauptverhandlungsprotokoll insoweit auslegungsbedürftig ist, als sich ihm nicht eindeutig die Anwesenheit des Verteidigers Rechtsanwalt Ma. vor und nach der Unterbrechung der Hauptverhandlung am 10. Januar 1996 ergibt. Das Hauptverhandlungsprotokoll, das in dem von § 274 Abs. 1 StPO umschriebenen Rahmen dem Revisionsgericht die Nachprüfung erleichtern soll, kann seine Kontrollfunktion nicht erfüllen, wenn es mehrere Varianten offen läßt, so daß unentschieden bleibt, von welcher auszugehen ist und welcher Verfahrensfehler als bewiesen gilt. In einem solchen Fall, in dem auch mit Hilfe der nicht widerlegbaren Beweisvermutung, die § 274 StPO aufstellt, ein bestimmter Schluß nicht gezogen werden kann, darf das Revisionsgericht im Wege freier Beweisermittlung und -würdigung klären, wie der Verfahrensablauf tatsächlich war."

Der sich anschließende Hinweis auf die oben wiedergegebenen Vermerke überzeugte das Revisionsgericht, das das Rechtsmittel begründungslos der hiermit beantragten Beschlußverwerfung (§ 349 Abs. 2 StPO) zuführte.

Von derartigen kreativen Bemühungen war es dann nicht mehr weit zu einer dienstlichen Erklärung, über die ich [31] an anderer Stelle berichtet habe, in der ein Kammervorsitzender das Revisionsgericht erfolglos [32] auf (von ihm zu verantwortende) Protokollmängel aufmerksam machte, um ihm den Weg ins Freibeweisverfahren ebnen zu helfen, und sich zugleich für die Flüchtigkeit seines Vorgehens wortreich unter Hinweis auf seine Tätigkeit als Gerichtspräsident und die vorrangige Führung eines anderen Verfahrens entschuldigte: In ihm habe der Justiz ein Ansehensverlust wegen der drohenden Haftentlassung der dortigen Angeklagten gedroht.

Diese und andere von dem Bundesgerichtshof durchaus mit bissigem Sarkasmus gewürdigten dienstlichen Erklärungen [33] veranschaulichen, daß das von Mannheim erwähnte Mißtrauen der Anhänger des Verbots der Rügeverkümmerung nicht neben der Sache liegt. Das bestätigt die Richtigkeit der Einschätzung Nieses: [34]

"Wenn damit für das Revisionsgericht das im Protokoll enthaltene Bild des Verfahrens allein maßgebend ist, so wird der Zwang zu sorgfältiger Protokollführung auch auf eine sorgfältige, rechtsstaatliche Verhandlungsführung hinwirken, so daß auf die Dauer der `gesetzliche Zwang zur Lüge´ das kleinere Übel ist."

c) Diesem Arsenal an rügeverkümmernden Instrumenten fügt die Mißbrauchslösung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes [35] ein weiteres Werkzeug hinzu. Widmaier [36] hatte sie als im Vergleich zur (zeitlich merkwürdig konkurrierend [37] entwickelten) großen Lösung des 1. Strafsenats als letztlich kleineres Übel angesehen. Bloß: Diese Lösung (Rn. 32 ff.) nahm auch den während der Revisionsverfahrens bösgläubig werdenden Revisionsverteidiger in den Blick, der den Gang der tatgerichtlichen Verhandlung nicht aus eigener Wahrnehmung kannte. Das kommt einer Einladung an die (Revisions-) Staatsanwaltschaft gleich, Revisionsverteidiger gezielt bösgläubig zu machen, wie folgender Fall [38] belegt:

Sachverhalt: Das Landgericht stützte seine Beweiswürdigung unter ausdrücklicher Nennung der einschlägigen Blattzahlen der Fallakten auf die "in der Hauptverhandlung verlesenen Telefonverbindungen". Angesichts dieser ausdrücklichen Erwähnung des Beweisgewinnungsaktes mußten die Urkunden auch verlesen worden sein (vgl. §

261 StPO). Das Hauptverhandlungsprotokoll berichtete folgenden Verfahrensgang: Der Vorsitzende ordnete die Verlesung an. Der Verteidiger widersprach. Nach Beratung wies die Kammer den Widerspruch zurück und bestätigte die Entscheidung ihres Vorsitzenden. Sodann verkündete dieser zwei weitere Beschlüsse. Eine Ausführung seiner Verlesungsanordnung ist dem Protokoll nicht zu entnehmen. Der Beschwerdeführer rügte einen Verstoß gegen § 261 StPO.

Es war die Bundesanwaltschaft, die initiativ wurde, nachdem ihr die Akten nebst Revisionsbegründung zugeleitet worden waren: Sie holte dienstliche Erklärungen des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, des Vorsitzenden und des Urkundsbeamten ein, die zudem zu einer rügeverkümmernden Protokollberichtigung führten. Diesen Ertrag ihrer Aktivitäten übersandte sie dem Revisionsverteidiger unter dem 13.12.2006 mit der folgenden Maßgabe:

"Ihrer gefälligen Stellungnahme sehe ich mit Blick auf das Urteil des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 11.08.2006 (3 StR 284/05) bis zum 17.01.2007 entgegen."

Was war geschehen?

Der Vorsitzende gab folgende ersichtlich um Authentizität bemühte dienstliche Äußerung ab:

"Ich erinnere mich ausdrücklich an die Verlesung dieser Urkunden. Die Verlesung ist mir deshalb in Erinnerung, weil ich einerseits die von mir selbst zuvor vorgenommene grüne Markierung vor Augen habe und ich mich andererseits erinnere, dass die Verlesung von Daten, Uhrzeiten und Telefonnummern, die nicht einmal sämtliche Ziffern aufwiesen, unangenehm war. Um diese Dinge überhaupt verständlich zu machen, habe ich für die Verfahrensbeteiligten während der Verlesung jeweils die Zusammenhänge durch ein paar Worte versucht zu erklären. Die Protokollierung ist versehentlich unterblieben. Dies ist, so vermute ich, darauf zurück zu führen, dass ich bei der Durchsicht des Protokolls die Protokollierung des Beschlusses Anlage 2) fälschlicherweise so gelesen hatte, als wäre die Feststellung der Verlesung gleichzeitig enthalten.

Hannover, den 04.12.2006

R."

Der Urkundsbeamte äußerte sich am selben Tag wie folgt:

"Die Verlesung der fraglichen Urkunden hat stattgefunden. Diese Tatsache folgt für mich selbstverständlich aus dem Satz `Nach Beratung wurde der aus der Anlage 2) zum Protokoll ersichtliche Beschluss verkündet´. Zum damaligen Zeitpunkt war es mir nicht klar, dass ich die Tatsache der Verlesung zusätzlich hätte dokumentieren müssen.

Y, JS."

Bereits am 14.11.2006 hatte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft folgendes festgehalten:

"Ist mir als Sitzungsvertreter erinnerlich, dass die Telefonverbindungen zwischen den Angeklagten (…) in der Hauptverhandlung durch Verlesung der Auskünfte der Telefongesellschaften festgestellt worden sind. Diese Telefonverbindungen spielten auch für die Beweiswürdigung eine gewisse Rolle. Ich kann mich heute nicht mehr an jede einzelne Telefonverbindung erinnern, zumal ich auch meine Notizen aus der damaligen Hauptverhandlung schon deswegen vernichtet habe, weil ich die Ruhephase der Altersteilzeit erreicht habe. Ebenfalls kann ich mich nicht mehr erinnern, ob die Telefonverbindungen am 14.12.2005 verlesen worden sind, zumal Rechtsanwalt J. tagelang seinen Beweisantrag verlesen hat. Jedenfalls sind die Telefonverbindungen in meiner Anwesenheit festgestellt worden. d.h. nicht am 22.12.2005.

B.

OStA"

Nachdem die Verteidigung am 17.01.2007 unter Hinweis auf das keine Mängel aufweisende Protokoll, das laufende Vorlageverfahren, die Behauptung, die Entscheidung vom 11.08.2006 solle nur Extremfälle erfassen, und die sich hieraus ergebende Unbeachtlichkeit der Protokollberichtigung die Rüge nicht zurückgenommen hatte, beantragte die Bundesanwaltschaft am 19.01.2007 die Revisionsverwerfung und führte u.a. aus:

"Die Verteidigung hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Sie ist den dienstlichen Erklärungen nicht entgegengetreten. Vielmehr vertritt sie ersichtlich die Meinung, dass die Beweiskraft des berichtigten Protokolls für das Revisionsgericht ausnahmslos auch dann beachtlich (gemeint wohl: unbeachtlich) ist, wenn aufgrund einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu ungunsten des Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt. Die Weiterverfolgung der Rüge unter Berufung auf das als unrichtig erkannte Protokoll ist indes seit der Kenntnis vom Inhalt der dazu abgegebenen Erklärungen und der erfolgten Protokollberichtigung rechtsmissbräuchlich, die Rüge ist damit unzulässig geworden (Senat, Urteil vom 11. August 2006, - 3 StR 284/05 -)."

Mit Beschluß vom 11.04.2007, also wenige Tage vor dem Beschluß des Großen Senats vom 23.04.2007, wählte der 3. Strafsenat indes folgenden Weg zur Revisionsverwerfung:

"Dabei kommt es auf das Rechtsproblem, ob eine nachträgliche Berichtigung der Sitzungsniederschrift für das Revisionsgericht zu beachten ist, wenn dadurch einer bereits vorher erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen würde (…), nicht an. Denn das unberichtigte Protokoll enthielt eine offensichtliche Lücke (…), weil sich aus ihm weder ergibt, dass der Kammer-
beschluss – obwohl dies eher nahe lag – tatsächlich umgesetzt noch dass er wieder aufgehoben worden ist. Unter diesen besonderen Umständen des Verfahrensablaufes hatte die Sitzungsniederschrift insoweit keine Beweiskraft. Somit konnte die Protokollberichtigung der erhobenen Verfahrensrüge den Boden nicht entziehen (…). Damit ist durch das berichtigte Protokoll bewiesen, dass der mit der Verfahrensrüge vorgetragene Sachverhalt unzutreffend ist."

Fazit: Das Projekt "Schützende Hand" hatte schon immer – auch bei der Auswahl des geeigneten Instrumentariums zum Schutz des "goldrichtigen Urteils" - freie Hand. [39]

II. Zur Wahrheitsorientierung des Revisionsverfahrens

Spielt es im Revisionsverfahren eine wesentliche Rolle, was tatsächlich – sei es bezüglich der zu untersuchenden Tat im Sinne von § 264 StPO, sei es bezogen auf den Gang der Hauptverhandlung - der Fall gewesen ist? Legen die Revisionsgerichte revisionsverfahrensrechtliche Vorschriften so aus, daß die Überprüfungsmöglichkeiten in tatsächlicher Hinsicht optimiert werden?

1. "Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet." Bezeichnend für den reinen Schlagwortcharakter dieser These auch des Großen Senats (a.a.O. Rn. 42) ist ihre Begründungslosigkeit und Inhaltsleere. Wer meint, auf derartig grundsätzlichem Niveau argumentieren zu sollen, wird sich gefallen lassen müssen, daß man von ihm Antworten auf wenigstens folgende Fragen erwartet:

  • Welcher Wahrheitsbegriff liegt der Strafprozeßordnung, speziell ihren Vorschriften über das Revisionsverfahren zugrunde?
  • Welche Kriterien und Beweismittel sind für die Feststellung dieser spezifischen Wahrheit relevant?

Das berührt die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Strafverfahrens. Diese Themen sind seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten Gegenstand einer Vielzahl von Abhandlungen [40]. Die Entscheidung schweigt sich hierzu trotzdem völlig aus. Man gewinnt den Eindruck, ihr liege letztlich ein reichlich alltäglich anmutendes Wahrheitsverständnis im Sinne einer wie auch immer gestalteten Korrespondenztheorie zugrunde. Freilich: Eine derartige argumentative Vorgehensweise ist unbehelflich, wenn es darum geht, gerade die Tragweite von Formvorschriften auszuloten, die die Wahrheitssuche steuern.

2. Das (wesentlich richterrechtlich geprägte) Selbstverständnis des Revisionsverfahrens belegt vor allem eines: Die möglichst vollständige Erfassung des wahren Lebens- und/oder Verfahrenssachverhalts war noch nie sein Anliegen.

a) Der Zugriff des Revisionsgerichts auf die Wahrheit ist bereits durch die gesetzgeberische Konzeption in mehrfacher Hinsicht limitiert: Zur revisionsgerichtlichen Überprüfung steht nur das, was ein rechtsmittelbefugter Beschwerdeführer fristgerecht und in rechter Form dem Revisionsgericht zur Überprüfung unterbreitet. Zudem wird die Wahrheitssuche nicht nur durch die Möglichkeit des Rechtsmittelbeschränkung, sondern auch dadurch begrenzt, daß nur Rechtsfehler für das Revisionsgericht relevant sind, wobei das Revisionsgericht dem Tatrichter zudem z. T. bei der Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften einen nicht seiner Kontrolle unterfallenden Beurteilungsspielraum einräumt. [41] Und schließlich untersagt sich die Revisionsrechtsprechung bei der sachlich-rechtlichen Überprüfung eines Urteils den Zugriff auf Urteilsfremdes, akzeptiert also dem Grunde nach das vom Tatgericht im Urteil gezeichnete Bild als wahr. Mit Recht hat deshalb Schlothauer [42] argumentiert, "daß dem Revisionsgericht zwangsläufig infolge der gesetzlichen Ausgestaltung des Rechtsmittels der Revision der `wahre´ Sachverhalt im inhaltlichen Sinn bei der Beurteilung eines Verfahrensfehlers vielfach verschlossen bleibt."

b) Aber nicht nur das: Hinsichtlich verfahrensrechtlicher Beanstandungen hat der Beschwerdeführer zudem mit einer Vielzahl von richterrechtlich geschaffenen Hürden zu kämpfen, die es ihm erschweren, den Verfahrenssachverhalt möglichst vollständig der revisionsgerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen:

  • § 344 Abs. 2 S. 2 StPO in seiner gegenwärtigen Auslegung [43] überläßt es dem Gutdünken des Revisionsgerichts, ob es sich auf die Suche nach dem wirklichen Sachverhalt begibt. Dies läßt sich insbesondere an den Fällen belegen, in denen Beanstandungen des identischen Verfahrenssachverhaltes durch verschiedene Beschwerdeführer allein wegen der unterschiedlichen Erfüllung der Darlegungserfordernisse Erfolg hatten oder eben scheiterten. [44]
  • Letztlich im Hinblick auf die – insoweit behauptete - nur beschränkte Leistungsfähigkeit des Revisionsverfahrens [45] hat die Rechtsprechung Barrieren entwickelt, um nicht in eine Beweisaufnahme über die Details der tatrichterlichen Beweisaufnahme eintreten zu müssen: "Eine Rekonstruktion der tatrichterlichen Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht widerspricht aber (…)
der Ordnung des Revisionsverfahrens." [46] Dies betrifft gerade "wahrheitsorientierte" Rügen, durch die ein Beschwerdeführer – sei es unter dem Blickwinkel des § 244 Abs. 2 StPO, sei es im Hinblick auf § 261 StPO – z. B. anhand des Akteneinhalts geltend macht, der Tatrichter habe sich der Ermittlung bzw. Darstellung des "wahren Sachverhalts" verschlossen. Dies laufe – so die textbausteingleiche Argumentation in revisionsgerichtlichen Entscheidungen – auf die grundsätzlich unzulässige Rüge der Aktenwidrigkeit hinaus, denn auch das Schweigen der Urteilsgründe sei regelmäßig nicht beredt, könne doch ein derartiger Widerspruch "für alle Verfahrensbeteiligten zum Zeitpunkt der Entscheidung befriedigend geklärt (gewesen sein)" [47], so daß sogar "das Herausgreifen eines Aktendetails, das im Urteil keine Stütze findet, ohne Kenntnis dessen, was in der Hauptverhandlung im Einzelnen geschehen ist, zu falschen Ergebnissen führen (kann)". [48] Abgesichert wird dieses Konzept ferner dadurch, daß nach herrschender Auffassung für das Vorliegen eines Verfahrensfehlers die Beweislast bei dem Beschwerdeführer liegt. [49] Schließlich hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unlängst demonstriert, wie durch den kombinierten Einsatz derartiger Argumentationsfiguren Rügevorbringen ohne Prüfung seines Wahrheitsgehaltes erledigt werden kann: Auch im Fall absoluter Revisionsgründe (§ 338 StPO) sei die Prüfung geboten, ob das Beruhen des Urteils auf dem geltend gemachten Rechtsfehler denkgesetzlich ausgeschlossen werden könne. Dann aber erstrecke sich die Darstellungspflicht des Beschwerdeführers (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) auch auf diese Frage. Mache er geltend, die Öffentlichkeit sei gesetzeswidrig nur durch eine zudem unzureichend begründete Verfügung des Vorsitzenden während der Vernehmung eines Zeugen ausgeschlossen worden, so habe er folglich im Fall eines Teilfreispruchs darzulegen, daß die diesbezügliche Beweisaufnahme sich nicht nur auf den Vorwurf bezogen habe, hinsichtlich dessen Freispruch erfolgt sei. Dem stehe das Rekonstruktionsverbot nicht entgegen, müsse der Beschwerdeführer doch nur "eher pauschal" zum Beweisthema der Vernehmung vortragen… . [50] Die dieser Entscheidung unterlegte Grundmelodie des Rechtsmißbrauches – schließlich hätten der Angeklagte und sein Verteidiger dem von der Staatsanwalt beantragten Öffentlichkeitsausschluß zugestimmt - ruft eine weitere zunehmend verfeinerte Rügebarriere in Erinnerung, nämlich die Präklusion von Verfahrensrügen für den Fall, daß der Beschwerdeführer in der Tatsacheninstanz nicht in rechter Form und fristgerecht bestimmte Prozeßhandlungen vorgenommen hat. [51]

Blickt man im Sinne eines Zwischenfazits auf diesen Befund zurück, so ist folgende Einschätzung unabweisbar: Das peu à peu etablierte Gebot der Rügeverkümmerung ist schon wegen der konsequent verstärkten Abschottung des Revisionsverfahrens gegen die "Wahrheitseinrede" der Beschwerdeführer weder seiner argumentativen Herleitung noch den Intentionen seiner Apologeten nach ausbaufähig für Versuche, verfahrensrechtliche Angriffe auf die tatsächliche Seite der tatgerichtlichen Beweisführung in größerem Ausmaß als bisher zuzulassen. Derartiges steht nicht auf der Tagesordnung des Projektes "Schützende Hand". Schäfer, der bereits im Jahr 2000 begonnen hatte, engagiert für die Zulässigkeit der Rügeverkümmerung zu streiten, hatte sich auf dem Strafverteidigertag 1994 genauso deutlich gegen Rügen positioniert, die den Verdacht auf sich ziehen konnten, nur die Aktenwidrigkeit der tatgerichtlichen Entscheidung zu behaupten [52] .  Alsberg hingegen, der – wie gezeigt - die Rügeverkümmerung in Kauf nahm, plädierte zugleich ebenso engagiert gerade für eine Öffnung des Revisionsverfahrens hin zur Ermöglichung der Rüge der Aktenwidrigkeit. [53]

III. Zu praktischen Problemen im Umgang mit dem Gebot der Rügeverkümmerung

Fatale Konsequenz dieser Entwicklung ist aber zudem, daß dem Revisionsverfahren nach der sog. Widerspruchslösung [54] und dem Verfahren gem. § 354 Abs. 1a StPO [55] eine weitere Nebenverfahrensordnung implantiert wird. Ihre Details sind indes weitestgehend unklar.

a) Unklar ist bereits, ob das Gebot der Rügeverkümmerung die Mißbrauchslösung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs ablöst oder aber beide Ansätze koexistieren. Der Große Senat (a.a.O. Rn. 55) sieht seine Lösung als dem Mißbrauchsansatz überlegen an, weil "der solchermaßen rügevernichtende Missbrauch prozessualer Rechte allerdings regelmäßig nicht leicht nachweisbar (ist)". Was geschieht aber, wenn eine Protokollberichtigung daran scheitert, daß der Urkundsbeamte anders als der Vorsitzende keine zuverlässige Erinnerung besitzt, aber aufgrund anderer Indizien – wie etwa in den o.g. Fällen (Abrechnung, Anwesenheitsliste, Vielzahl aussagekräfti-

ger dienstlicher Erklärungen) – eigentlich eine gute Chance besteht, den Revisionsverteidiger dolos zu machen? [56]

Unklar ist weiter das Beweismaß: Wann liegt eine "sichere Erinnerung" (Rn. 58) des Vorsitzenden oder des Urkundsbeamten vor? Was sind "markante Besonderheiten des Falles" (Rn. 62)? Müssen die dienstlichen Erklärungen so plastisch sein wie im oben geschilderten Fall des Landgerichts Hannover? Wann reicht eine "erst nach mehr als acht Monaten der `Erinnerung nach´ vorgenommene Protokolländerung" [57] (nicht mehr) aus?

b) Das Bundesverfassungsgericht [58] hat es bekanntermaßen für völlig unproblematisch angesehen, dem Revisionsverteidiger abzuverlangen, sich von vornherein detailliert mit der Frage zu befassen, in welchem Umfang die Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls überhaupt besteht, um ggfls. für die Erstellung der Revisionsrechtfertigung Nachermittlungen in die Weg leiten zu müssen. Derartiges zu verlangen, geht freilich an den realen Produktionsbedingungen von Revisionsbegründungen vorbei und führt zu weiteren Ungereimtheiten:

  • Das ergibt sich schon aus zeitlichen Gründen: Daß dem Revisionsverteidiger bei Beginn der (wohlgemerkt: nicht verlängerbaren) Frist des § 345 Abs. 1 StPO das schriftliche Urteil und das gesamte Aktenmaterial zur Verfügung stehen (und er sich ihnen sofort widmen kann), dürfte eine Ausnahmekonstellation darstellen.
  • Das folgt weiter aus logistischen Gründen: Daß dem Revisionsverteidiger problemlos die Möglichkeit eröffnet ist, etwaige Zweifel an der Beweiskraft der Sitzungsniederschrift zu beseitigen, dürfte ebenfalls nur im Idealfall denkbar sein. Zuerst muß er sich – wohl im Sinne der Palmströmlogik - etwaigen Schwächen des Protokolls zuwenden: Das Urteil erwähnt eine Urkunde als verlesen, das Protokoll schweigt – welcher Aufklärungsbedarf besteht? Daß Richter, die sich im Urteil überflüssigerweise [59] zu dem insoweit erheblichen Beweisgewinnungsakt verhalten, Verlesung und Vorhalt verwechseln, ist nicht völlig fernliegend… . Was geschieht, wenn die Recherchen des Revisionsverteidigers daran scheitern, daß ein Instanzverteidiger nicht greifbar ist; abwegig sind auch derartige Komplikationen nicht: Urlaub, Krankheit, anderweitige Nichterreichbarkeit – etwa des Verteidigers in Spanien [60] -, gekränkte Eitelkeiten wegen des Mandatwechsels oder schlicht Ärger über einen nicht zahlenden oder undankbaren Mandanten sind mögliche Ursachen für eine derartige Einschränkung der Aufklärungsmöglichkeiten des Revisionsverteidigers. Was geschieht, wenn die Hauptverhandlungsmitschriften des Verteidigers, denen der Bundesgerichtshof [61] üblicherweise Unerheblichkeit attestiert, außer Kontrolle geraten oder mehrdeutig sind? Wie ist es zu bewerten, wenn möglicherweise benötigte Beiakten nicht greifbar sind? [62] Sollen die Grundsätze für die Wiedereinsetzung zur Nachholung von Verfahrensrügen [63] analog greifen?
  • Das resultiert schließlich aus praktischen Gründen: Damit meine ich nicht nur die Schwierigkeiten, die für einen Verteidiger bestehen, einem Angeklagten (und seinen Angehörigen) die Absonderlichkeiten einer derartigen Verfahrensweise plausibel zu machen, die darüber entscheiden, ob und in welchem Umfang in seine Freiheit und/oder sein Eigentum eingegriffen werden darf. Schon eher ist die Frage berührt, ob und inwieweit § 344 Abs. 2 S. 2 StPO von dem Beschwerdeführer eine Loyalitätsversicherung bei Erhebung möglicherweise suspekter Rügen verlangt. [64] Vor allem aber: Auch wenn man mit guten Gründen auf einer eigenständigen Beweisstation des Revisionsverfahrens bestehen kann und ihr das Hauptverhandlungsprotokoll zuordnet, ändert das nichts daran, daß die vorhandenen Beweismittel aus Sicht des Erstellers einer Revisionsbegründung für die Beurteilung der Frage wesentlich sind, was vernünftigerweise in ihr verfahrensrechtlich beanstandet werden kann: Dieser Einstieg der Revisionsverteidigung über Protokoll und schriftliches Urteil war lange Zeit eine der wenigen Gewißheiten des Revisionsverfahrens. [65] Wie soll nun verfahren werden, wenn es – bei dieser Betrachtungsweise - möglicherweise auf den Wortlaut des Protokolls ankommt: In 4 StR 40/06 [66] hat der Bundesgerichtshof unmittelbar auf den im Protokoll zum Teil ersichtlich formularmäßig dokumentierten Wortlaut einer Belehrung gem. § 52 Abs. 3 StPO zurückgegriffen. Steht dem Beschwerdeführer diese Argumentation noch offen? Und was ist von folgender Argumentation des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in 1 StR 301/07 [67] zu halten, mit der eine Rüge der Verletzung des § 247 S. 4 StPO erledigt wird?
"Ausweislich des von der Revision wiedergegebenen Sitzungsprotokolls wurde der Angeklagte S. nach seiner Wiederzulassung `über den Inhalt der weiteren Zeugenvernehmung H. informiert´(…). Der Begriff `Inhalt der Vernehmung´ umfasst nicht nur den Inhalt der Zeugenaussage an sich, sondern auch den Gang der Vernehmung – sprich die damit in Zusammenhang stehenden Anträge, Erklärungen, Beschlüsse sowie die Vorlage von Augenscheinsobjekten. Das Vorbringen der Revision bezüglich der unzulänglichen Unterrichtung steht damit im Widerspruch zur Sitzungsniederschrift (§ 273 StPO) und ist nicht nachgewiesen."

c) Unklar ist aber auch, wie das Protokollberichtigungsverfahren funktionieren soll. Nur beispielhaft:

  • Sind der Verteidiger und/oder der (gar unverteidigte) Angeklagte verpflichtet, zu strafjustiziellen Versuchen der Rügeverkümmerung Stellung zu nehmen? Ist ihr etwaiges Schweigen einer Beweiswürdigung zu Lasten des Beschwerdeführers zugänglich? Pointiert: Besteht eine Mitwirkungspflicht am Projekt "Schützende Hand"?
  • Was geschieht, wenn die Protokolländerung zwar einer erhobenen Rüge die Grundlage entzieht, zugleich aber belegt, daß dem Tatgericht ein anderer Verfahrensfehler unterlaufen ist. [68] Gerügt wurde das Unterblieben eines Hinweises gem. § 265 Abs. 1 StPO, die neue Version des Protokolls belegt einen mangelhaft begründeten Hinweis. [69] Die Revision rügte das Unterbleiben einer Bescheidung eines Beweisantrages, der nachträglich in das Protokoll geschriebene Beschluß ist ersichtlich unzulänglich begründet. Ist die Revisionsbegründungsfrist verstrichen [70], stehen das Verbot bedingter Verfahrensrügen [71] und der Grundsatz dem Erfolg der Revision entgegen, daß die Stoßrichtung der Verfahrensrüge ausdrücklich kenntlich gemacht werden muß. [72] Wahrheitsorientierung des Revisionsgerichts als Leitprinzip des Projektes "Schützende Hand"?

IV. Ausblick

Es verwundert dann nicht, daß die ersten Tatrichter versuchen, mit nachträglichen dienstlichen Erklärungen auch sachlichrechtliche Beanstandungen zu verkümmern:

"Dass das Landgericht (Chemnitz – meine Ergänzung) die Untergrenze des Strafrahmens rechtsfehlerhaft bestimmt hat, hat der Senat der revisionsgerichtlichen Prüfung zugrundezulegen. Der gemeinsame Vermerk des Vorsitzenden und des richterlichen Besitzers vom 24. September 2007, der nach Eingang der diesen Fehler rügenden Revisionsbegründung erstellt wurde, muss unberücksichtigt bleiben. Die beiden Berufsrichter geben in diesem Vermerk an, dass es sich bei der Angabe der Strafrahmenuntergrenze um einen Schreibfehler gehandelt habe und Beratungsgrundlage als Untergrenze tatsächlich drei anstatt fünf Jahre Freiheitsstrafe gewesen sei. Diese Mitteilung kann im Revisionsverfahren keine Beachtung finden. Ein offensichtliches Schreibversehen kann nur dann angenommen werden, wenn es sich aus der Urteilsurkunde selbst unzweifelhaft ergibt. Anhand der Urteilsgründe lässt sich aber weder ein Schreibversehen noch eine sonstige offensichtliche Unrichtigkeit feststellen. Ebenso lässt sich aus der beträchtlichen Höhe der Strafe (acht Jahre Freiheitsstrafe – meine Ergänzung) nicht herleiten, dass diese ausgehend von einer Untergrenze von drei Jahren und nicht von einer solchen von fünf Jahren bemessen wurde. Deshalb kann der Senat auch nicht ausschließen, dass der Strafausspruch auf diesem Fehler beruht." [73]

Wie lange noch wird diese Sichtweise den Versuchungen des Projektes "Schützende Hand" widerstehen?


* Das Manuskript lag meinem Beitrag vom 01.03.2008 in der AG 5 "Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit" des 32. Strafverteidigertages in München zugrunde. Gegenstand der Erörterungen waren das Urteil des 3. Strafsenats des BGH vom 11.08.2006 (3 StR 284/05) = BGH HRRS 2006 Nr. 713 sowie der Beschluß des Großen Senats für Strafsachen des BGH vom 23.04.2007 (GSSt 1/06) = = BGH HRRS 2007 Nr. 600.

[1] Vgl. für die älteren Leitentscheidungen der Revisionsgerichte die Belege bei Ventzke StV 1999, 190/192 f.. Die neuere Entwicklung findet sich sorgfältig dokumentiert und gewürdigt bei Krawczyk, Die Relativierung der absoluten Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (§ 274 StPO) in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 2008.

[2] Waltós, in: Festschrift für Eser, 2005, S. 1057 ff.; vgl. zur Bedeutsamkeit des Prozeßverständnisses für die Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften im übrigen Trüg/Kerner, in: Festschrift für Böttcher, 2007, S. 191 ff..

[3] Sabarth DJZ 1906, 570/571.

[4] Stenglein GS 1891, 81/91.

[5] Beling JW 1925, 2790.

[6] Sabarth a.a.O. Sp. 575.

[7] Oetker JW 1927, 918.

[8] Oetker a.a.O. S. 919 (Hervorhebung im Original).

[9] Stenglein a.a.O. S. 94.

[10] NJW 1951, 256/258.

[11] Dallinger bezieht sich insoweit auf die Ausführungen von Schneidewin (in: Lobe (Hg.): Fünfzig Jahre Reichsgericht, 1929, S. 270 ff.). Schneidwin (a.a.O. S. 327) hatte das Verbot der Rügeverkümmerung als "schönes Beispiel dafür (betrachtet), wie das RG. das Prozeßgesetz über seinen ausdrücklichen Inhalt hinaus nach höheren Gesichtspunkten handhabt", und ausgerufen: "Wie manchem Angeklagten ist im Kampfe gegen ein von ihm als ungerecht empfundenes Urteil diese Stellung des RG. zugute gekommen!" Den Vorwurf der "`Protokolljustiz´" (a.a.O. S. 326) hielt er gleichwohl für "ein irreführendes Schlagwort" (a.a.O. S. 326). Zwar sei "klar (…), daß eine solche formale Beweisvorschrift zu sachlichem Unrecht führen kann", die Rechtsprechung habe aber das "Gebiet, auf dem solches geschehen kann, je länger, je mehr eingeengt" (a.a.O. S. 326). Die Rechtsprechung sei - so seine Bilanz - "in Wirklichkeit beherrscht von dem erfolgreichen und immer erfolgreicheren Bestreben, die Wahrheit über die Form obsiegen zu lassen" (a.a.O. S. 328).

[12] JW 1930, 1069/1072.

[13] JW 1931, 2824.

[14] Ebenda.

[15] JW 1925, 2817/2819 (Hervorhebung im Original).

[16] DRZ 1949, 451 f.

[17] Vgl. hierzu Hamm NJW 2007, 3166/3168 f.

[18] Auch Fahl (JR 2007, 341 mit Fn. 4) liefert keine Belege, sondern verweist selbstreferentiell auf höchstrichterliche "Warnungen, den Bogen nicht zu überspannen".

[19] Vgl. dazu m.w.N. den im Erscheinen befindlichen Aufsatz von Ventzke, Verteidigung am revisionsgerichtlichen Pranger? Diese Rechtsprechung hat nunmehr auch die aus Verteidigersicht vielfach überschätzte Rechtsprechung des BVerfG zur Verfahrensbeschleunigung erreicht (2 BvR 2652/07 vom 23.01.2008, Rn. 56 a.E.) = BVerfG HRRS 2008 Nr. 258.

[20] "Das muß allerdings nicht bedeuten, daß der Bundesgerichtshof seine schützende Hand über dem Tatrichter erst dann wegzieht…"(Schädler, Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht; Manuskript des Referates auf der Beck-Strafrechtstagung 2006, S. 3). Zur Analyse dieser Entwicklung des Revisionsrechts immer noch grundlegend Fezer, in: Festschrift für Hanack, 1999, S. 331 ff..

[21] Daß der Bundesgerichtshof – und zwar auch gerade sein 1. Strafsenat – in sachlichrechtlicher Hinsicht durchaus bemüht ist, die Beweisführung des Tatrichters fast beweisregelmäßig zu rationalisieren, stellt kein gegenläufiges Projekt "Eiserne Hand" dar, sondern ist hiermit ohne weiteres vereinbar, weil die Prüfungsgrundlage, das schriftliche Urteil des Tatgerichts, gerade nicht ein potentieller Artefakt von Verteidigungsverhalten zu sein scheint (vgl. etwa zur Glaubhaftigkeitsprüfung von Zeugenaussagen Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 5. Aufl., Rn. 88 ff., 1362 ff.).

[22] Vgl. Detter StraFo 2004, 329.

[23] Soweit sie auch nur geringfügig über den Tenor hinausgehende Begründungen enthält.

[24] Vgl. Widmaier NJW 2006, 3587 f.: "Eindruck (…) von lügenhaften Verfahrensrügen bedrängte(r) Revisionsgerichte".

[25] Vgl. hierzu Jahn/Widmaier JR 2006, 166 ff.

[26] Vgl. das Eisberggleichnis bei Barton StraFo 1998, 325.

[27] So bereits der Lösungsversuch von BGH 5 StR 82/95 vom 06.04.1995, S. 3 f.; dazu auch Krawczyk a.a.O. S.171, 174 ff.

[28] BGH 3 StR 174/06 vom 27.06.2006, S. 3 = BGH HRRS 2006 Nr. 602.

[29] BGH a.a.O. S. 6: "…Vorgänge bekundet, die sich nach aller Erfahrung so nicht zugetragen haben können". Dazu Fezer NStZ 2002, 272 f. und zusf. Krawczyk a.a.O. S. 163 ff. m.w.N..

[30] Das Verfahren endete mit einem unbegründeten Beschluß gem. § 349 Abs. 2 StPO (BGH 5 StR 245/97 vom 09.07.1997).

[31] StV 2004, 300.

[32] BGH StV 2004, 297.

[33] 3 StR 108/07 vom 11.04.2007, Rn. 6 f. = BGH HRRS 2007 Nr. 587; 1 StR 434/06 vom 09.11.2006, Rn. 4 ff. = BGH HRRS 2007 Nr. 35.

[34] JZ 1953, 219/223 (Hervorhebungen im Original).

[35] Vgl. zu ihr instruktiv Wagner StraFo 2007, 496 ff.

[36] A.a.O.: "…schadet der Keulenschlag des 3. Strafsenats dem Revisionsrecht weit weniger als die sich subtil gebende Methode, mit der der 1. Strafsenat an die Grundlagen der Verfahrensrüge rührt".

[37] Der Vorlagebeschluß 1 StR 466/05 vom 23.08.2006 (Rn. 42) = BGH HRRS 2006 Nr. 858 zitiert die Entscheidung des 3. Strafsenats vom 11.08.2006 nur nach der oben erwähnten Pressemitteilung.

[38] BGH 3 StR 383/06 vom 11.04.2007 = BGH HRRS 2007 Nr. 418.

[39] Vgl. auch die komprimierte Argumentation BGH 1 StR 539/07 vom 21.11.2007, Rn. 6 = BGH HRRS 2008 Nr. 39.

[40] Vgl. nur exemplarisch Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, 1998.

[41] Vgl. z.B. für §§ 55, 244 Abs. 2 StPO: BGH 3 StR 139/06 vom 16.11.2006, Rn. 24 = BGH HRRS 2006 Nr. 927 mit Anm. Mosbacher JR 2007, 387.

[42] Zur Immunisierung tatrichterlicher Urteile gegen verfahrensrechtlich begründete Revisionen (IV.5.; nunmehr erschienen in: Festschrift für Hamm, 2008, S. 655 ff.).

[43] Zur obrigkeitsstaatlichen Herkunft dieser Norm instruktiv: Ritter, Die Begründungsanforderungen bei der Erhebung der Verfahrensrüge gem. § 344 II 2 StPO, 2007, S. 31 f., 42 f.

[44] Vgl. BGH StV 1995, 176 mit Anm. Ventzke.

[45] Vgl. hierzu schon Fezer, Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen, 1975, Kap. 3.

[46] Z.B. BGH 4 StR 142/07 vom 07.08.2007, Rn. 10 = BGH HRRS 2007 Nr. 840; vgl. umfassend Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozeß, 7. Aufl., Rn. 246 ff.

[47] So: BGH 2 StR 203/05 vom 27.07.2005, S. 12 = BGH HRRS 2007 Nr. 768.

[48] BGH 4 StR 142/07 a.a.O.; es geht freilich auch anders: Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat einmal aus der "gegebenen Urkundenlage" und dem Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung auf eine tatrichterliche Darlegungspflicht geschlossen (StV 2003, 318 f.). Hierher gehört auch die sog. Alternativrüge (vgl. Dahs/Dahs a.a.O. Rn. 250a ff.) und die an die Nichtwürdigung verlesener Urkunden anknüpfende verfahrensrechtlich verlängerte Darstellungsrüge (z.B. BGH 4 StR 1/07 vom 27.09.2007, Rn. 2 ff., 5 ff. = BGH HRRS 2008 Nr. 42; Widmaier , in: Lagodny (Hg.): Der Strafprozeß vor neuen Herausforderungen?, 2000, S. 183 ff.).

[49] Dahs/Dahs a.a.O. Rn. 484 ff..

[50] 5 StR 404/07 vom 04.12.2007, Rn. 9 ff. mit Anm. Ventzke (StV 2008, 125 f.) = BGH HRRS 2008 Nr. 130.

[51] Vgl. hierzu im Anschluß an BGH 1 StR 273/07 vom 11.09.2007 (= BGH HRRS 2007 Nr. 900 mit auch insoweit kritischer Besprechung durch Gaede HRRS 2007, 402/404 ff.) instruktiv Velten ZJS 2008, 76 ff. (m.w.N.); zusammenfassend Dahs/Dahs a.a.O. Rn. 502a.

[52] Vgl. G. Schäfer, in: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von BGH pp., 2000, S. 707 ff. einerseits; ders. StV 1995, 147/154 ff. andererseits. Damit endete erst einmal auch die kurze Karriere der sog. Alternativrüge, und zwar auch deshalb – so jedenfalls auf demselben Strafverteidigertag Basdorf als damaliger Senatskollege Schäfers -, weil diese Rügemöglichkeit von Verteidigern inflationär überreizt wurde (StV 1995, 310/317).

[53] Ausgewählte Schriften, 1992 (1913), S. 58/ 89 ff.

[54] Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., § 136 Rn. 25 m.w.N.

[55] Fischer, StGB, 55. Aufl., § 46, Rn. 119 ff. m.w.N.

[56] Vgl. hierzu Fahl a.a.O. S. 347 ff.

[57] BGH 3 StR 175/01 vom 05.09.2001, S. 3 f. (ebenfalls das LG Hannover betreffend).

[58] StraFo 2005, 512 f.; dazu Ventzke StV 2006, 459 ff.

[59] Meyer-Goßner a.a.O. § 267, Rn. 12.

[60] 5 StR 249/02 vom 05.11.2002, S. 3.

[61] Z.B. StV 1997, 561 f.

[62] Vgl. BGH 1 StR 327/06 vom 23.08.2006, Rn. 8 ff.; 5 StR 151/06 vom 23.08.2006, Rn. 25 = BGH HRRS 2006 Nr. 786.

[63] Vgl. Dahs/Dahs a.a.O. Rn. 521 ff.

[64] Dazu: Dahs/Dahs a.a.O. Rn. 502a.

[65] Vgl. auch Beulke, in: Festschrift für Böttcher, 2006, S. 17/21 f.

[66] vom 03.05.2006, Rn. 5 ff. = BGH HRRS 2006 Nr. 537.

[67] vom 18.12.2007, Rn. 5 = BGH HRRS 2008 Nr. 98; vgl. auch 3 StR 348/07 vom 22.11.2007, Rn. 9 = BGH HRRS 2008 Nr. 177.

[68] Dies hat Schlothauer (a.a.O.[wie Fn.42]IV. 2.) im einzelnen dargestellt.

[69] BGH 3 StR 347/07 vom 13.12.2007 = BGH HRRS 2008 Nr. 13.

[70] Die Protokollberichtigung soll der Wirksamkeit der früheren Urteilszustellung (§ 273 Abs. 4 StPO) nicht entgegenstehen (BGH GSSt a.a.O Rn. 64 m.w.N.).

[71] BGH 1 StR 117/05 vom 19.10.2005, S. 4 ff. = BGH HRRS 2005 Nr. 894.

[72] Dahs/Dahs a.a.O. Rn. 467.

[73] BGH 5 StR 534/07 vom 19.12.2007, Rn. 4 = BGH HRRS 2006 Nr. 147.