HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2008
9. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

in der Februar-Ausgabe der HRRS 2008 wird insbesondere die Siemens-Affäre in einem Aufsatz von Saliger/Gaede behandelt. Die "Bekämpfung" der Auslandskorruption über § 299 StGB und vor allem über die Untreue wirft hoch problematische Fragen auf. Zum Revisionsrecht ist der grundlegende Aufsatz von Strate aufgenommen, der die Beweisverbotslehre des BGH als unbegründete Abkehr vom geltenden Gesetzesrecht kritisiert. Vier Rezensionen und ein weiterer Beitrag von Fromm zum Schutz der EG-Finanzen sind ebenfalls aufgenommen.

Unter den Entscheidungen ragt zu einen natürlich die Entscheidung des BVerfG zur Online-Durchsuchung heraus, zum anderen aber auch die Entscheidung des EGMR zum Zugriff auf elektronisch gespeicherte Daten. Weiter ist die für die Praxis hoch bedeutsame Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen hervorzuheben, nach der rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen durch eine Vollstreckungslösung zu kompensieren sind. Insgesamt werden 89 Entscheidungen publiziert.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede, Schriftleiter


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

160. BVerfG 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07 (Erster Senat) – Urteil vom 27. Februar 2008

Heimliche Infiltration informationstechnischer Systeme (Zulässigkeit als präventive Maßnahme; „Online-Durchsuchung“; Richtervorbehalt; Kernbereich privater Lebensgestaltung); allgemeines Persönlichkeitsrecht (Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme); Unverletzlichkeit der Wohnung (beschränkte Anwendbarkeit); Kommunikation im Rechnernetz (Anwendbarkeit des Fernmeldegeheimnisses; Sprachtelefonie); staatliche Teilnahme an öffentlicher Kommunikation (kein Grundrechtseingriff); Gesetz über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen.

Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 10 Abs. 1 GG; Art. 13 GG, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG; § 5 Abs. 2 Nr. 11 VerfSchG-NRW

1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. (BVerfG)

2. Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. Die Maßnahme kann schon dann gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit

feststellen lässt, dass die Gefahr in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr für das überragend wichtige Rechtsgut hinweisen. (BVerfG)

3. Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems ist grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen. Das Gesetz, das zu einem solchen Eingriff ermächtigt, muss Vorkehrungen enthalten, um den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen. (BVerfG)

4. Soweit eine Ermächtigung sich auf eine staatliche Maßnahme beschränkt, durch welche die Inhalte und Umstände der laufenden Telekommunikation im Rechnernetz erhoben oder darauf bezogene Daten ausgewertet werden, ist der Eingriff an Art. 10 Abs. 1 GG zu messen. (BVerfG)

5. Nimmt der Staat im Internet öffentlich zugängliche Kommunikationsinhalte wahr oder beteiligt er sich an öffentlich zugänglichen Kommunikationsvorgängen, greift er grundsätzlich nicht in Grundrechte ein. (BVerfG)

6. Verschafft der Staat sich Kenntnis von Inhalten der Internetkommunikation auf dem dafür technisch vorgesehenen Weg, so liegt darin nur dann ein Eingriff in Art. 10 Abs. 1 GG, wenn die staatliche Stelle nicht durch Kommunikationsbeteiligte zur Kenntnisnahme autorisiert ist. (Bearbeiter)

7. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner besonderen Ausprägung als Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme tritt zu den anderen Konkretisierungen dieses Grundrechts, wie dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sowie zu den Freiheitsgewährleistungen der Art. 10 und Art. 13 GG hinzu, soweit diese keinen oder keinen hinreichenden Schutz gewähren. (Bearbeiter)

8. Art. 10 Abs. 1 GG schützt nicht die Vertraulichkeit und Integrität von informationstechnischen Systemen. (Bearbeiter)

9. Art. 13 Abs. 1 GG schützt nicht gegen die durch die Infiltration des Systems ermöglichte Erhebung von Daten, die sich im Arbeitsspeicher oder auf den Speichermedien eines informationstechnischen Systems befinden, das in einer Wohnung steht. Dieses Grundrecht ist jedoch u.A. dann berührt, wenn physisch in die Wohnung eingedrungen wird, um ein dort befindliches informationstechnisches System zu manipulieren oder das System verwendet wird, um bestimmte Vorgänge innerhalb der Wohnung zu überwachen, etwa indem die an das System angeschlossenen Peripheriegeräte wie ein Mikrofon oder eine Kamera dazu genutzt werden. (Bearbeiter)

10. Das Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme ist anzuwenden, wenn die Eingriffsermächtigung Systeme erfasst, die allein oder in ihren technischen Vernetzungen personenbezogene Daten des Betroffenen in einem Umfang und in einer Vielfalt enthalten können, dass ein Zugriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten. (Bearbeiter)

11. Ein Eingriff in das Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme ist auch schon dann anzunehmen, wenn die Integrität des geschützten informationstechnischen Systems angetastet wird, indem auf das System so zugegriffen wird, dass dessen Leistungen, Funktionen und Speicherinhalte durch Dritte genutzt werden können; dann ist die entscheidende technische Hürde für eine Ausspähung, Überwachung oder Manipulation des Systems genommen. (Bearbeiter)

12. Der Grundrechtsschutz umfasst sowohl die im Arbeitsspeicher gehaltenen als auch die temporär oder dauerhaft auf den Speichermedien des Systems abgelegten Daten. Er umfasst auch Datenerhebungen mit Mitteln, die zwar technisch von den Datenverarbeitungsvorgängen des betroffenen informationstechnischen Systems unabhängig sind, aber diese Datenverarbeitungsvorgänge zum Gegenstand haben. (Bearbeiter)

13. Der grundrechtliche Schutz der Vertraulichkeits- und Integritätserwartung besteht unabhängig davon, ob der Zugriff auf das informationstechnische System leicht oder nur mit erheblichem Aufwand möglich ist. (Bearbeiter)

14. Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist nicht schrankenlos. Eingriffe können sowohl zu präventiven Zwecken als auch zur Strafverfolgung gerechtfertigt sein. (Bearbeiter)

15. Es ist nicht ausreichend, dass eine Norm auch zulässige Zwecke verfolgt. Eine Norm bedarf einer Rechtfertigung für ihr gesamtes Anwendungsfeld. (Bearbeiter)

16. Der heimliche Zugriff auf informationstechnische Systeme stellt eine grundsätzlich geeignete Ermittlungsmaßnahme dar. (Bearbeiter)

17. In einem Rechtsstaat ist Heimlichkeit staatlicher Eingriffsmaßnahmen die Ausnahme und bedarf besonderer Rechtfertigung. (Bearbeiter)

18. Eine gesetzliche Ermächtigung zu einer Überwachungsmaßnahme, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung berühren kann, hat so weitgehend wie möglich sicherzustellen, dass Daten mit Kernbereichsbezug nicht erhoben werden. Ist es - wie bei dem heimlichen Zugriff auf ein informationstechnisches System - praktisch unvermeidbar, Informationen zur Kenntnis zu nehmen, bevor ihr Kernbereichsbezug bewertet werden kann, muss für hinreichenden Schutz in der Auswertungsphase gesorgt sein. Insbesondere müssen aufgefundene und erhobene Daten mit Kernbereichsbezug unverzüglich gelöscht und ihre Verwertung ausgeschlossen werden. (Bearbeiter)

19. Kann die Kernbereichsrelevanz von zu überwachenden Vorgängen nicht vor oder bei der Datenerhebung abgeschätzt werden, ist es verfassungsrechtlich nicht

gefordert, den Zugriff wegen des Risikos einer Kernbereichsverletzung auf der Erhebungsebene von vornherein zu unterlassen. (Bearbeiter)


Entscheidung

72. EGMR Nr. 74336/01 – Urteil der 4. Kammer vom 16. Oktober (Wieser und BICOS Beteiligungen GmbH v. Österreich)

Rechtswidrige Durchsuchung einer Anwaltskanzlei zur Erlangung elektronisch gespeicherter Daten und tatsächliche Wahrnehmbarkeit von Schutzrechten zugunsten der anwaltlichen Verschwiegenheit (Eingriff in das Privatleben, die Korrespondenz und die Wohnung bei Anwälten und bei juristischen Personen; Schutz von Mandanten; Beschlagnahme; Gesetzesvorbehalt im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK; erforderliche Schutzinstrumente gegen Willkür und Missbrauch; verhältnismäßige Rechtfertigung; tatsächliche Wahrung des nationalen Rechts auch beim Zugriff auf elektronisch gespeicherte Daten); redaktioneller Hinweis.

Art. 8 EMRK; Art. 13 GG; Art. 12 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 102 StPO; § 103 StPO; § 105 StPO; § 110 StPO; § 106 StPO

1. Die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei zur Auffindung elektronisch gespeicherter Daten und deren Beschlagnahme greifen in das Recht auf Achtung der Korrespondenz gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK ein. Dabei ist keine Unterscheidung zwischen dem hiervon betroffenen Anwalt und einer juristischen Person zu treffen, die von den gespeicherten Daten betroffen ist.

2. Das nationale Recht muss in diesen Fällen adäquate und effektive Schutzinstrumente gegen jede Form von Willkür und Missbrauch vorsehen. Einzubeziehende Kriterien sind besonders, ob die Durchsuchung auf einem richterlichen Durchsuchungsbefehl und auf einem nachvollziehbaren Tatverdacht beruht, ob der Durchsuchungsumfang diesbezüglich angemessen limitiert ist und – wenn eine Anwaltskanzlei betroffen ist – ob die Durchsuchung in Anwesenheit eines unabhängigen Beobachters durchgeführt wird, um zu sichern, dass Material, welches der anwaltlichen Schweigepflicht unterliegt, nicht entfernt (beschlagnahmt) wird.

3. Nach nationalem Recht bestehende prozedurale Schutzinstrumente gegen Missbrauch und Willkür und zum Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheit müssen auch bei der Suche nach elektronisch gespeicherten Daten tatsächlich eingehalten werden, damit eine Durchsuchung und Beschlagnahme im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK rechtmäßig ist (hier: inhaltliche Einsichtnahme aufgefundener Daten nur durch den Richter; Kontrolle der Durchsuchung über Zeugen/einen Vertreter der Anwaltskammer; Widerspruchsrechte; zeitnahe Dokumentation durch einen Bericht).

4. Schutzrechte gegen unverhältnismäßige und willkürliche Durchsuchungen müssen insbesondere im Fall der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei tatsächlich wirksam sein.

5. Der besondere Schutz einer Anwaltskanzlei ist nicht nur dann erforderlich, wenn der von einer Durchsuchung betroffene Anwalt unmittelbar als Anwalt desjenigen Unternehmens auftritt, wegen dessen Verbindungen zu einem laufenden Strafverfahren die Durchsuchung durchgeführt werden soll. Es genügen auch anzunehmende anwaltliche Tätigkeiten für Tochterunternehmen des besagten Unternehmens.

6. Der Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheit dient auch dem Mandanten des Anwalts, so dass eine gegenüber dem Anwalt rechtswidrige Durchsuchung und Beschlagnahme auch das Recht des Mandanten verletzt.

7. Fehlen in den nationalen Beschlagnahme- und Durchsuchungsvorschriften spezielle Regelungen zum Zugriff auf elektronische Daten, dürfen diese Vorschriften durch die nationale Rechtsprechung auch gemäß Art. 8 EMRK erweiternd ausgelegt werden um auch elektronische Daten erfassen zu können, soweit eine solche erweiternde Auslegung nach nationalem Recht möglich ist.


Entscheidung
 

155. BVerfG 1 BvR 620/07 (Erster Senat) - Beschluss vom 19. Dezember 2007 (Vors. der 8. GrStrK LG Münster)

Rundfunkfreiheit; Bericht über ein Strafverfahren; sitzungspolizeiliche Anordnung (Beschränkung von Ton- und Bildaufnahmen unmittelbar vor und nach der mündlichen Verhandlung und in den Sitzungspausen; Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten; Recht auf ein faires Strafverfahren: unbeeinträchtigte Teilhabe des Angeklagten, freier Verkehr mit dem Verteidiger, Vorverurteilung; Recht am eigenen Bild); Rechtsweg gegen sitzungspolizeiliche Anordnungen.

Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 8 EMRK; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 176 GVG

1. Zur Berücksichtigung der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG beim Erlass sitzungspolizeilicher Anordnungen über Ton- und Bildaufnahmen unmittelbar vor und nach einer mündlichen Verhandlung sowie in Sitzungspausen. (BVerfG)

2. Es entspricht grundsätzlich dem im Rechtsstaats- und Demokratieprinzip enthaltenen objektivrechtlichen Auftrag zur Sicherung der Möglichkeit der Wahrnehmung und gegebenenfalls Kontrolle von Gerichtsverfahren durch die Öffentlichkeit, die Medien darüber berichten zu lassen und dem Fernsehen audiovisuelle Aufnahmen zu ermöglichen. (Bearbeiter)

3. Die Gestaltung der gerichtlichen Verhandlung und der sitzungspolizeilichen Anordnungen liegt, soweit das Verfahrensrecht keine gegenläufigen Vorkehrungen trifft, im Ermessen des Vorsitzenden. (Bearbeiter)

4. Sein Ermessen hat der Vorsitzende unter Beachtung der Bedeutung der Rundfunkberichterstattung für die Gewährleistung öffentlicher Wahrnehmung und Kontrolle von Gerichtsverhandlungen sowie der einer Berichterstattung entgegenstehenden Interessen auszuüben und dabei sicherzustellen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Überwiegt das Interesse an einer Berichterstattung unter Nutzung von Ton- und Bewegtbildaufnahmen andere bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigende Interessen, ist der Vorsitzende verpflichtet, eine Möglichkeit für solche Aufnahmen zu schaffen (vgl. BVerfGE 91, 125, 138 f.). (Bearbeiter)

5. Zu berücksichtigen sind bei der Ermessensausübung auch der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beteiligten, namentlich der Angeklagten und der Zeugen, aber auch der Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, insbesondere die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung (vgl. BVerfGE 103, 44, 64). Dabei kommt den gegenläufigen Belangen besonderes Gewicht zu, wenn die vom Gesetzgeber typisierend festgelegten personenbezogenen Voraussetzungen für den Ausschluss selbst der Saalöffentlichkeit vorliegen (siehe etwa § 48, § 109 Abs. 1 Satz 4 JGG, § 171a, § 172 Nr. 1a, Nr. 4 GVG). (Bearbeiter)

6. Personen, die im Gerichtsverfahren infolge ihres öffentlichen Amtes oder in anderer Position als Organ der Rechtspflege im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, haben nicht in gleichem Ausmaße einen Anspruch auf Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte wie eine von dem Verfahren betroffene Privatperson (vgl. BVerfGE 103, 44, 69) oder wie anwesende Zuhörer. (Bearbeiter)

7. Bei der Bestimmung der Reichweite des Schutzes des Rechts am eigenen Bild ist allerdings zu berücksichtigen, dass zumindest ein Teil der Verfahrensbeteiligten sich regelmäßig in einer für sie ungewohnten und belastenden Situation befinden. Speziell auf Seiten der Angeklagten sind auch mögliche Prangerwirkungen oder Beeinträchtigungen des Anspruchs auf Achtung der Vermutung seiner Unschuld und von Belangen späterer Resozialisierung zu beachten, die durch eine identifizierende Medienberichterstattung bewirkt werden können (vgl. BVerfGE 35, 202, 226 ff.; 103, 44, 68). Dabei ist gerade auch im Blick auf die Suggestivkraft des Fernsehens der mögliche Effekt einer medialen Vorverurteilung zu bedenken. (Bearbeiter)

8. Die Aufzeichnung des Geschehens am Rande der Verhandlung kann den Angeklagten in seinem von § 148 Abs. 1 StPO verbürgten Recht auf ungehinderten Verkehr mit seinem Verteidiger beeinträchtigen und damit gegebenenfalls den Anspruch auf ein faires Verfahren tangieren (vgl. BVerfGE 49, 24, 55). Soweit Angeklagte ein berechtigtes Interesse an vertraulichem Austausch mit ihrem Verteidiger am Rande der Verhandlung haben und dessen Verwirklichung beeinträchtigt zu werden droht, muss dem durch sitzungspolizeiliche Anordnung entgegen gewirkt werden. Gleiches gilt für den Austausch zwischen Zeuge und Beistand. (Bearbeiter)


Entscheidung

157. BVerfG 2 BvR 1061/05 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. Dezember 2007 (OLG Karlsruhe/LG Karlsruhe/ Justizvollzugsanstalt B.)

Beschäftigung Strafgefangener in privaten Unternehmerbetrieben; Resozialisierungsgebot; Rechtsstaatsprinzip; öffentlich-rechtliche Verantwortlichkeit der Vollzugsbehörde (Leitungsgewalt); Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz (umfassende Aufklärungspflicht im gerichtlichen Verfahren in Strafvollzugssachen).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 12 GG; § 37 StVollzG; § 41 StVollzG; § 149 Abs. 4 StVollzG; § 109 StVollzG

1. Um den Anforderungen des Resozialisierungsgebotes an die Behandlung der Strafgefangenen gerecht werden zu können, muss die Vollzugsbehörde die öffentlichrechtliche Verantwortung für die Rechtsstellung des Gefangenen bei der zugewiesenen Pflichtarbeit (§§ 37, 41 StVollzG) mindestens in Gestalt einer Leitungsgewalt beibehalten (vgl. BVerfGE 98, 169, 209, 211).

2. Entscheidungen über die Zuweisung zur Pflichtarbeit und über die Ablösung von zugewiesener Pflichtarbeit bleiben auch dann originäre Aufgabe der Vollzugsbehörde und sind als Behandlungsmaßnahme (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 4 StVollzG) unter Berücksichtigung vollzuglicher wie grundrechtlicher Belange zu treffen, wenn der betreffende Gefangene in einem privaten Unternehmerbetrieb beschäftigt wird. Dem Unternehmen ist lediglich eine fachlich-technische Leitungsbefugnis eingeräumt (§ 149 Abs. 4 StVollzG).

3. Grundrechtserhebliche Belange, für die der Gefangene rechtlichen Schutz erwarten darf, müssen entweder, wie im Fall des freien Beschäftigungsverhältnisses (§ 39 Abs. 1 StVollzG), durch privatrechtliche Ansprüche gegenüber dem Unternehmer oder durch öffentlichrechtliche Verantwortlichkeiten der Anstalt geschützt sein.

4. Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet das Gericht im Verfahren nach den §§ 109 ff. StVollzG den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde als Voraussetzungen ihrer Entscheidung alle Tatsachen zutreffend angenommen und den zugrundegelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt hat.


Entscheidung

158. BVerfG 2 BvR 1219/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 21. Januar 2008 (LG Bonn/AG Bonn)

Durchsuchung (Berufsgeheimnisträger; Arztpraxis; Unzulässigkeit bei bloß vagem Tatverdacht; geringer Schaden; Verhältnismäßigkeit).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 12 Abs. 1 GG; § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO

1. Erforderlich zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung ist jedenfalls der Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Das Gewicht des Eingriffs verlangt Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 44, 353, 371 f.; 59, 95, 97).

2. Bei der Anordnung der Durchsuchung von Praxisräumen bei einem Tatverdacht gegen den betroffenen Arzt, ist bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit neben der Stärke des Tatverdachts und der Schwere der vermuteten Tat auch zu berücksichtigen, dass die Durchsuchung auch empfindliche Daten von Patienten betreffen kann.


Entscheidung

156. BVerfG 2 BvR 294/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 10. Januar 2008 (BFH/FG Rheinland-Pfalz)

Gleichheitsgrundsatz (Steuerrecht; strukturelles Vollzugsdefizit; Nichtdurchsetzbarkeit der Besteuerung: Belastungsgleichheit); Besteuerung von Wertpapierge-

schäften im Veranlagungszeitraum 1999; Nichtannahmebeschluss.

Art. 3 Abs. 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG; § 370 AO; Art. 103 Abs. 2 GG

1. Für den Veranlagungszeitraum 1999 bestand kein strukturelles Vollzugsdefizit hinsichtlich der Besteuerung von privaten Wertpapiergeschäften gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Die steuerliche Erfassung von Gewinnen aus der Veräußerung von Wertpapieren in diesem Zeitraum war nicht verfassungswidrig.

2. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verlangt für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Wird die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt, kann dies die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nach sich ziehen.

3. Vollzugsmängel, wie sie immer wieder vorkommen können und sich tatsächlich ereignen, führen allein noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm. Verfassungsrechtlich verboten ist jedoch der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung dieses Befehls angelegten Erhebungsregel. Die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen führt nicht ohne weiteres zur Gleichheitswidrigkeit, wohl aber das normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts.


Entscheidung

159. BVerfG 1 BvR 2697/07 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 12. Dezember 2007 (OLG Hamm)

Unterlassen der Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater bei bestehendem Verdacht des Mordes an der Kindesmutter (Ehrenmord); Elternrecht; Willkürverbot (Unterlassen der Einholung eines Sachverständigengutachtens); Substantiierung der Verfassungsbeschwerde (Auseinandersetzung mit fachgerichtlicher Begründung; Subsidiarität; Begründungsanforderungen); Nichtannahmebeschluss.

Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG; § 1680 Abs. 2 S. 2 BGB; § 92 BVerfGG; § 211 StGB

1. Die Fachgerichte sind von Verfassungs wegen nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen, wenn sie anderweitig über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen.

2. Zu einem Fall der Nichtübertragung der elterlichen Sorge auf den Vater, wenn gegen diesen oder einen seiner nahen Angehörigen der Verdacht besteht, die Kindesmutter getötet zu haben („Ehrenmord“).