HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2007
8. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

1041. BGH 2 StR 384/07 - Beschluss vom 2. November 2007 (LG Darmstadt)

Betrug (Tateinheit; Tatmehrheit); Mittäterschaft und mittelbare Täterschaft (Organisationsherrschaft; Organisationsdelikt); wirksame Anklage; Akkusationsprinzip.

§ 263 StGB; § 206a StPO; § 25 StGB; § 52 StGB; § 53 StGB

1. Für die tatmehrheitliche mittäterschaftliche Mitwirkung an mehreren Betrugstaten bedarf es nicht unbedingt der Vornahme einer Täuschungshandlung. Es genügen vielmehr jeweils Handlungen, durch die der Täter im Rahmen des gemeinsamen Tatplans zur mehrfachen Tatbestandsverwirklichung beiträgt (Klarstellung zu BGHSt 48, 331, 342).

2. Die Rechtsprechung hat bestimmte Formen der mittelbaren Täterschaft unter dem Begriff des Organisationsdelikts erfasst (BGHSt 40, 218, 236 ff; BGHSt 45, 270, 296 ff). In diesen Fällen nutzt ein Hintermann staatliche, unternehmerische oder geschäftsähnliche Organisationsstrukturen aus, innerhalb derer sein Tatbeitrag regelhafte Abläufe auslöst. Handelt der Hintermann in Kenntnis dieser Umstände, nutzt er auch die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen, aus und will er den Erfolg als Ergebnis seines Handelns, hat er die Tatherrschaft und ist mittelbarer Täter. Eine so verstandene mittelbare Täterschaft kommt in Fällen in Betracht, in denen der räumliche, zeitliche und hierarchische Abstand zwischen der die Befehle verantwortenden Organisationsspitze und den unmittelbar Handelnden gegen arbeitsteilige Mittäterschaft spricht.


Entscheidung

1129. BGH 5 StR 318/07 – Urteil vom 23. Oktober 2007 (LG Berlin)

Erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bei affektbedingter Begehung eines Tötungsdelikts (Indizien des Leistungsverhaltens, des folgerichtigen Handelns und der intakten Erinnerung).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 212 StGB

Bei dem Herbeiholen des neuen Tatwerkzeugs handelt es sich um eine einfache Tätigkeit, die keine intensiven Entscheidungs- und Steuerungselemente erfordert und deswegen – anders als ein komplexes, mehraktiges Geschehen – nicht gegen einen Affekt spricht (vgl. auch BGHR StGB § 21 Bewusstseinsstörung 1; BGH, Beschluss vom 12. Juni 2007 – 4 StR 187/07). Auch ein Täter, der in einem hochgradigen affektiven Ausnahmezustand handelt, kann gemessen an der Verfolgung seines deliktischen Ziels durchaus folgerichtig und zielgerichtet handeln (BGHR StGB § 20 Bewusstseinsstörung 6, § 21 Affekt 10; BGH, Beschluss vom 12. Juni 2007 – 4 StR 187/07). Bei der intakten Erinnerung eines Angeklagten an das Tatgeschehen handelt es sich zwar um ein gegen einen Affekt sprechendes, wenn auch keinesfalls zwingendes Indiz, welches bei Vorliegen gegenläufiger Anzeichen entkräftet werden kann (BGH, Beschluss vom 31. Januar 2007 – 5 StR 504/06 m.w.N.).

II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

1090. BGH StB 43/07 - Beschluss vom 28. November 2007 (Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs)

BGHSt; Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (objektive Schädigungseignung; Nadelstichtaktik; militante gruppe; mg;); Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung; Bestimmtheitsgebot (strukturierende und konkretisierende Auslegung); Generalbundesanwalt (Evokationsrecht; Staatsschutzdelikt von besonderem Gewicht).

§ 129 StGB; § 129a Abs. 2 Nr. 2 StGB; Art. 103 Abs. 2 GG; § 74a GVG; § 120 Abs. 2 Nr. 1 GVG

1. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Katalogtat nach § 129a Abs. 2 Nr. 2 StGB durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat erheblich schädigen kann. (BGHSt)

2. Das Tatbestandsmerkmal des § 129a Abs. 2 StGB „einen Staat erheblich schädigen kann“ ist für sich ohne Konturen und wenig aussagekräftig. Es bedarf daher namentlich mit Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot der Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens durch Bestimmtheit strafrechtlicher Normen (Art. 103 Abs. 2 GG) in besonderer Weise einer strukturierenden und

konkretisierenden Auslegung durch die Rechtsprechung. (Bearbeiter)

3. Im Sinne dieser Auslegung droht dem Staat ein relevanter Schaden, wenn die Straftaten geeignet sind, die Bevölkerung in erheblicher Weise einzuschüchtern, eine Behörde rechtswidrig mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen des Staates erheblich zu beeinträchtigen. (Bearbeiter)

4. Vermögensnachteile, die nicht wegen ihres Ausmaßes zu einer zumindest vergleichbaren Wirkung führen, reichen nicht aus, auch wenn sie rein wertmäßig als erheblich angesehen werden könnten. (Bearbeiter)


Entscheidung

1093. BGH 1 StR 238/07 - Urteil vom 23. Oktober 2007 (LG Traunstein)

Körperverletzung mit Todesfolge (tatbestandsspezifischer Gefahrzusammenhang; Pflichtwidrigkeitszusammenhang); fahrlässige Tötung (ärztlicher Heileingriff: de lege artis, „Turboentzug“, Überwachung, Unterversorgung, Außenseitermethode; hypothetische Einwilligung; wirksame Einwilligung nach Risikoaufklärung: Schutzzweckzusammenhang; Sorgfaltswidrigkeit; Zweifelsgrundsatz).

§ 227 StGB; § 222 StGB; § 228 StGB; § 223 StGB; § 18 StGB

1. Ärztliche Heileingriffe erfüllen den Tatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung und bedürfen daher grundsätzlich der Einwilligung des Patienten, um rechtmäßig zu sein. Die Einwilligung kann aber wirksam nur erteilt werden, wenn der Patient in gebotener Weise über den Eingriff, seinen Verlauf, seine Erfolgsaussichten, Risiken und mögliche Behandlungsalternativen aufgeklärt worden ist (vgl. BGHR StGB § 223 Abs. 1 Heileingriff 4; BGH, Urt. vom 5. Juli 2007 - 4 StR 549/06 - Rdn. 16).

2. Die Aufklärung soll den Patienten gerade in die Lage versetzen, eine autonome Entscheidung darüber zu treffen, ob er sich dem körperlichen Eingriff unterzieht, und etwaige - auch unklare - Risiken zu beurteilen.

3. Eine Einwilligung in einen ärztlichen Heileingriff bezieht sich auch bei der hypothetischen Einwilligung jedenfalls bei Fehlen einer weitergehenden Aufklärung nur auf eine nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft („lege artis“) durchgeführte Heilbehandlung.

4. Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten, zu denen im Sinne von § 18 StGB auch die erfolgsqualifizierten Delikte gehören, entfällt der ursächliche Zusammenhang zwischen dem pflichtwidrigen Verhalten und dem Tötungs- und Verletzungserfolg, wenn der gleiche Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Täters eingetreten wäre, der Erfolg also für ihn unvermeidbar gewesen wäre (vgl. BGHSt 49, 1, 4).


Entscheidung

1063. BGH 3 StR 226/07 - Urteil vom 18. Oktober 2007 (LG Oldenburg)

Totschlag (bedingter Vorsatz; bewusste Fahrlässigkeit; vage Hoffnung); Mord (Heimtücke); Arg- und Wehrlosigkeit (Herbeiführen; Ausnutzen; Bewusstlosigkeit; schutzbereiter Dritter; Euthanasie; Mitleidstötung; feindselige Willensrichtung).

§ 212 StGB; 211 StGB; § 15 StGB

1. Beim Angriff auf das Leben eines bewusstlosen Erwachsenen kann Heimtücke vorliegen, wenn der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit eines schutzbereiten Dritten zur Tatbegehung ausnutzt.

2. Schutzbereiter Dritter in diesem Sinne ist jede Person, die den Schutz eines Besinnungslosen vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut. Sie muss dabei den Schutz wirksam erbringen können, wofür eine gewisse räumliche Nähe und eine überschaubare Anzahl der ihrem Schutz anvertrauten Menschen erforderlich sind.

3. Für das Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit ist es ausreichend, dass der Täter die von ihm erkannte Arglosigkeit eines schutzbereiten Dritten bewusst zur Tatbegehung ausnutzt, und zwar unabhängig davon, worauf diese beruht. Insofern gilt gleiches wie bei der Heimtücke gegenüber dem Tatopfer selbst, bei der es ebenfalls für die Erfüllung des Tatbestandes nicht darauf ankommt, ob der Täter dessen Arglosigkeit herbeiführt oder bestärkt oder eine bereits bestehende Arglosigkeit zur Tötung ausnutzt.

4. Das Mordmerkmal der Heimtücke kann entfallen, wenn der Täter nicht aus einer feindseligen Haltung gegenüber dem Opfer heraus, sondern aus Mitleid gehandelt hat, um einem Todkranken schwerstes Leid zu ersparen. Es reicht jedoch nicht jede Mitleidsmotivation aus, um eine die Heimtücke prägende Gesinnung auszuschließen. Gerade in einer oberflächlich vorhandenen Mitleidsmotivation kann sich Feindseligkeit gegenüber dem Lebensrecht eines Schwerkranken äußern (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 14), zumal wenn dieser im Koma liegt, deshalb seinen Zustand nicht realisiert sowie keine Schmerzen erleidet und seine Angehörigen um sein Leben kämpfen.

5. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Abgrenzung von bedingtem Tötungsvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ist das Willenselement des bedingten Vorsatzes gegeben, wenn der Täter den von ihm als möglich erkannten Eintritt des Todes billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen damit abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein. Bewusste Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn er mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft - nicht nur vage - darauf vertraut, der Tod werde nicht eintreten. Zur Abgrenzung beider Schuldformen ist eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geboten (st. Rspr.; vgl. BGHSt 36, 1, 9 f.; BGH NStZ-RR 2000, 165, 166). Dabei liegt die Annahme einer Billigung nahe, wenn der Täter sein Vorhaben trotzt erkannter Lebensgefährlichkeit durchführt (st. Rspr.; vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 27, 35, 51).

6. Eine im Urteil verwendete Formulierung, der Angeklagte habe auf das Ausbleiben des Todes nicht vertrau-

en, sondern nur vage darauf hoffen können, und die Wertung, es sei für ihn erkennbar gewesen, dass es allein vom Zufall abhänge, ob der Patient reanimiert werden könne oder versterbe, vermag - für sich genommen - nur den Vorwurf der (bewussten) Fahrlässigkeit zu begründen (vgl. BGH NStZ 2003, 259, 260).


Entscheidung

1123. BGH 5 StR 171/07 - Beschluss vom 27. September 2007 (LG Berlin)

Grundsätzlich keine Urkundenunterdrückung bei Totalfälschungen; Strafzumessung (Schadensfeststellung).

§ 274 StGB; § 46 StGB

Totalfälschungen sind keine geeigneten Tatobjekte im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB: Nur echte Urkunden unterfallen dem Schutzbereich des § 274 StGB. Allerdings kann ausnahmsweise auch einer Totalfälschung später Urkundsqualität im Sinne des § 274 StGB zuwachsen, wenn sie eine eigenständige Beweiserheblichkeit erlangt. Dies kann dann eintreten, wenn die Fälschung Teil (einer dann echten) Gesamturkunde oder die Fälschung selbst zum Beweismittel geworden ist.