HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2007
8. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

HRRS-Praxishinweis Die Überschreitung der 11-Tages-Frist als revisibler Rechtsfehler - ein Fall klassischer Rechtsauslegung (§ 268 III StPO)

Anmerkungen zu BGH 2 StR 22/07, Urteil vom 30. Mai 2007 (= HRRS 2007 Nr. 570)

Von Staatsanwalt Tobias Wolf, Hanau

Hintergrund der Entscheidung war die Neuordnung der Terminierungsfristen durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24.8.2004 (BGBl. I 2198, fortan: JuMoG). Der neue § 229 I StPO verlängert die Zeitdauer zwischen zwei Hauptverhandlungsterminen von ursprünglich 10 Tagen auf drei Wochen. Dagegen blieb § 268 III StPO unverändert, so dass ein Urteil nach wie vor 11 Tage nach dem Schluss der Verhandlung zu verkünden ist. Hier verkündete das Landgericht das Urteil erst nach 17 Tagen.

Der Entscheidung des 2. Senats wurde in der Fachwelt mit großem Interesse entgegengesehen, nachdem sich zuvor schon der 5. und 4. Senat mit der Problematik zu befassen hatten. Die kurz aufeinander folgenden Entscheidungen wurden sofort aufgegriffen und diskutiert (Burhoff, ZAP Fach 22 R, Seite 483; von Freier, HRRS 2007, S. 139). Es zeichnet sich nun offensichtlich eine Linie ab, da sich zwei der fünf Strafsenate und die Literatur für den zwingenden Charakter der Vorschrift aussprechen. Eine Entscheidung des großen Senates war bisher nicht erforderlich.

Dem 5. Senat (Entscheidung vom 9.11.2006, 5 StR 349/06) erschien die gesetzliche Fristenregelung unstimmig. Man könne die Frist des § 268 III StPO ohne weiteres unbedenklich durch einen Wiedereintritt in die Beweisaufnahme umgehen. Dies lege nahe, die Vorschrift nur als Ordnungsvorschrift zu werten, auf deren Verletzung ein Urteil niemals im Sinne von § 337 I StPO beruhen könne. Eine Korrektur durch den Gesetzgeber sei wünschenswert. Die Ausführungen des 5. Senates waren jedoch nicht entscheidungserheblich, weil im Streitfall die abschließende Beratung der Strafkammer innerhalb der 11 Tage stattfand und der Senat bereits deshalb die Beruhensfrage ausschließen konnte.

Der 4. Senat widersprach in einer Entscheidung vom 30.11.2006 (4 StR 452/06) dieser Auffassung ausdrücklich. Dabei argumentierte er mit dem Gesetzeswortlaut: Die Neuordnung der Fristen solle den Gerichten eine flexiblere Terminsbestimmung ermöglichen und rein formale Fortsetzungstermine ("Schiebetermine") vermeiden. Die Regelung in § 268 III StPO habe der Gesetzgeber unverändert belassen. Es fänden sich in den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 15/999 S. 24/25 und 15/1508 S. 25) keinerlei Hinweise dafür, dass § 268 III StPO nur noch als Ordnungsvorschrift gelten solle. Für eine planwidrige Regelungslücke sah der 4. Senat keinen Anhalt. Auch sei es nicht Aufgabe der Rechtsprechung, eine solche Lücke zu füllen, wenn sie denn vorläge.

Dem folgt nun auch der 2. Senat. Die Entscheidungen des 2. und 4. Senates sind konsequent und stellen Musterbeispiele für die Anwendung juristischer Auslegungsmethoden dar. Der 2. und 4. Senat stützen ihre Hauptargumente auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der betroffenen Normen. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift "muss" das Urteil spätestens am 11. Tage nach dem Schluss der Verhandlung verkündet werden, andernfalls mit der Hauptverhandlung von neuem zu beginnen "ist". Nichts anderes ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien.

Die Bundesanwaltschaft stellte sich in konkreten Fall auf den Standpunkt, dass zwar eine Gesetzesverletzung vorliege, die Beruhensfrage aber anders beurteilt werden müsse. Der Bundesanwalt führte in seiner Antragsschrift und in der mündlichen Verhandlung aus, es käme für die Kausalität von Gesetzesverletzung und Urteilsspruch darauf an, ob die Beweisaufnahme, die Schlussvorträge und das letzte Wort den Richtern noch lebendig in Erinnerung gewesen seien. Danach erscheine die Nichtanpassung der Urteilsverkündungsfrist an die Neuregelung des § 229 I StPO als offenkundige Regelungslücke. Dem widersprach der 2. Senat ausdrücklich. Die Verlängerung der Unterbrechungsfristen könne zwar in Einzelfällen dazu führen, dass den Verfahrensbeteiligten die Beweisaufnahme infolge Zeitablaufs nicht mehr in allen Einzelheiten vor Augen stehe. Die Urteilsverkündungsfrist stelle aber jedenfalls sicher, dass die Schlussvorträge und das letzte Wort allen Richtern noch lebendig in Erinnerung seien.

Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber die Empfehlung des 5. Senats aufgreift und die Angleichung der Fristen prüft und vornimmt. Damit ist nicht unbedingt zu rechnen: Bei einem systematischen Vergleich mit § 229 I StPO fällt zwar auf, dass eine einheitliche Fristenrege-

lung sinnvoll erscheint. Jedoch hat der Gesetzgeber zum Beispiel die abweichende Fristenregelung des § 229 II StPO auch nicht paritätisch in § 268 StPO aufgenommen, ohne dass hier eine Lücke vermutet wird.

Für die Praxis wäre die Angleichung indes wünschenswert, da nur so die vom JuMoG verfolgte Maxime der Vereinheitlichung und Vereinfachung auch durchgreift: Bei der Planung eines umfangreichen Prozesses muss das Gericht in der Regel schon früh Termine abstimmen. Oft ist unklar, wie viele Termine dies sein werden. Wenn das Gericht aber stets darauf bedacht sein muss, im nächsten Termin auch ein Urteil zu verkünden, dürfte es die revisionssichere 10-Tages-Regelung der Neuerung vorziehen. Dann hätte das JuMoG den Zweck der flexibleren Terminierung verfehlt.

Hiergegen könnte man zwar einwenden, dass der Richter seinen Eindruck unmittelbar aus der Hauptverhandlung schöpfen und in die Urteilsberatung einfließen lassen soll. Jegliche Fristenverlängerung könne daher die Rechtsfindung beinträchtigen. Bei längeren Prozessen ist jedoch zu beachten, dass bei steigender Dauer des Prozesses eine Angleichung des § 268 III an § 229 I StPO immer weniger ins Gewicht fällt. Im konkreten Fall war für die Dauer von 6 Monaten terminiert. Der Eindruck, den ein Richter bei einem sechsmonatigen Prozess am ersten Hauptverhandlungstag gewinnt, wird nach 6 Monaten und 3 Wochen kaum anders erinnerlich sein als nach 6 Monaten und 11 Tagen. Es muss daher bezweifelt werden, ob gerade die 11-Tagesfrist zwischen dem förmlichen Schluss der Verhandlung und dem Urteil sicherstellt, dass der Richter den Prozessstoff vollständig vor Augen hat.