HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2006
7. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zwischen Klarheit und Verwirrung - Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung

Anmerkung zu BVerfG, 2 BvR 226/06 vom 23.08.2006 (HRRS 2006 Nr. 804)

Von Dr. Oliver Milde, Berlin *

I. Nachdem die nachträgliche Sicherungsverwahrung in den vergangenen zwei Jahren fortwährend die Gerichte der Republik beschäftigte und sich immer wieder für einen Aufsatz in den einschlägigen Fachzeitschriften anbot, hat die Thematik nunmehr den Weg zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe gefunden. Die Überschrift der Pressemitteilung: "Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung" ließ wohl so manchen Kritiker der Maßregel zunächst triumphieren, bis sich dann herausstellte, dass es eine Einzelfallentscheidung war, bei der die Rechtsprechung eines Strafgerichts gerügt wurde. Gleichwohl enthält der Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats wertvolle grundsätzliche Erwägungen, die es hier zu erörtern gilt.

1. So beschäftigten sich die Verfassungsrichter zunächst mit einem möglichen Verstoß der Maßregel gegen das sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebende verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot (Abs. 12 f). Die Ausführungen erschöpften sich jedoch folgerichtig in einem Verweis auf die Urteile aus dem Jahre 2004[1] in denen das Bundesverfassungsgericht ausführlich erörtert hat, dass die Maßregeln nicht dem Begriff des Strafrechts unterfallen. Damit bestätigten die an dem Beschluss mitwirkenden Richter zugleich die höchstrichterliche Rechtsprechung[2] zu § 66 b StGB.

2. Nicht wesentlich ausführlicher gestalteten sich die Ausführungen zum rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot des Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG (Abs. 14 ff). Nachdem keine Senatsentscheidung zu treffen war und die Richter des dissentierenden Votums des Urteils vom 10.02.2004 nicht der entscheidenden Kammer angehörten, konnten keine bahnbrechenden Neuerkenntnisse erwartet werden. Zudem haben auch diesbezüglich die ordentlichen Gerichte Vorarbeit geleistet und bereits mehrfach dargelegt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot verstößt.[3] Dennoch gibt es in der Literatur Zweifler,[4] die dieses Verfassungsrecht als Notanker benutzen, um der nachträglichen Sicherungsverwahrung einen Verstoß gegen das Grundgesetz vorzuhalten.

3. Die umfassendsten Ausführungen erfolgten zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (Abs. 17 ff), den die Verfassungsrichter Hassemer, di Fabio und Landau auch schließlich, wohlgemerkt nur in der Einzelfallentscheidung, als verletzt ansahen.

a) Die drei Richter der entscheidenden Kammer nahmen sich zunächst der formellen Voraussetzung der neuen Tatsachen an. Einmal mehr war der Wegfall der Therapiemotivation Gegenstand gerichtlicher Überprüfung. Eine neue Tatsache liegt nach Ansicht der Verfassungsrichter dann nicht vor, "wenn die Gefährlichkeit sich ausschließlich als Folge der - zum Zeitpunkt der Verurteilung bereits bekannten - unbewältigten Suchtproblematik darstellt" (Abs. 29). Damit hat wohl niemand gerechnet, insbesondere nicht die Richter am Landgericht und am Bundesgerichtshof, die in dieser Sache entschieden haben. Vermeintlich lag mit der zunächst glaubhaft geltend gemachten Therapiemotivation ein deutlicher Fall einer neuen Tatsache vor. Gerade der Umstand, dass von der Sicherungsverwahrung im Ausgangsurteil aufgrund der Norm des § 72 StGB abgesehen wurde, unterstreicht das Vertrauen der Gerichte in eine erfolgreiche Therapie, denn schließlich erfordert die Unterbringung in der Entziehungsanstalt die "hinreichend konkrete Aussicht eines Erfolges"[5]. Mit den Ausführungen der Verfassungsrichter wird das Eis dünn für die Therapiemotivati-

on. Der weggefallenen Therapiemotivation als neue Tatsache wird die Grundlage entzogen, indem von der materiellen Anordnungsvoraussetzung der Gefährlichkeit auf die formelle Anordnungsvoraussetzung geschlossen wird. Wünschenswert wäre eine deutlich klarere Trennung formeller und materieller Anordnungsvoraussetzungen. Leider hat sich der Gesetzgeber gegen eine "exemplarische oder namentliche Nennung von Tatsachen"[6] entschieden, die dieser Forderung hätte Rechnung tragen können.

Bedenklich, wenn auch nicht Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Ausführungen, ist die Begründung des Unterbringungsbefehls allein mit der Therapieverweigerung.[7] Dass dies nicht möglich ist, wurde bislang häufig erörtert.[8] Offenbar wurde dies den Staatsanwälten bewusst, denn in der Hauptsacheverhandlung trat zu der Therapieverweigerung die Haltungsänderung des Beschwerdeführers hinsichtlich der Bewertung seiner Tat als neue Tatsache hinzu. Grundsätzlich ist es zwar möglich, weitere sich bis zum Ende des Haftzeit (nicht auch nach Beendigung der Haft und vor der Entscheidung in der Hauptsache!) ergebende Gründe anzuführen. Allerdings gilt es sodann einen neuen Antrag zu stellen[9] und dem Betroffenen die neuen Gründe mitzuteilen, damit dieser sich zum einen im Beschwerdeverfahren, zum anderen aber auch im Hauptsacheverfahren hinreichend auf die ihm unterbreiteten Vorwürfe vorbereiten kann. Es zählt hier der Gedanke des "fair trial".

b) Überraschend sind die Ausführungen zum Erfordernis des Hanges (Abs. 21). Die an dem Beschluss beteiligten Richter vertreten die Auffassung, dass der Hang nicht zu den materiellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB gehört. Hiermit beziehen sie Stellung gegen den Bundesgerichtshof[10] und einen Teil der Literatur[11]. Ist dies das Ende des überflüssigsten und "umstrittensten Begriffs"[12] des materiellen Strafrechts? Die Vermutung liegt nahe, zumal sich Konsequenzen auch für § 66 a Abs. 2 StGB ergeben, der, folgt man der Auffassung der Verfassungsrichter, ebenfalls den Hang nicht als Anordnungsvoraussetzung enthalten dürfte. Die letztendlich doch einschränkende Aussage der Richter, dass die Feststellung des Hanges im Einzelfall geboten sein könne (Abs. 22), trägt eher zu Verwirrung, als zu Rechtsklarheit bei, denn wie soll die Grenzziehung erfolgen? Im Sinne der Rechtseinheitlichkeit sollte nunmehr der Hang vollkommen abgeschafft werden. Der erste Schritt hierzu ist getan.

c) Dankenswerter Weise haben sich die Verfassungsrichter zudem mit der materiellen Voraussetzung der Gefährlichkeit befasst. Kritisiert wurde die Feststellung der Gefährlichkeit nach Maßstäben des Wohlverhaltens, die sonst bei der Verhängung disziplinarischer Maßnahmen, u. ä. herangezogen werden (Abs. 32). Nunmehr bleibt zu hoffen, dass sich Richter nicht weiterhin mit malträtierten Grünpflanzen, beschädigten Toilettendeckeln und Schlägen gegen Wände[13] oder Scheiben, beziehungsweise Verstößen gegen Rauchverbote (!)[14] zu beschäftigen haben, wodurch eine Gefährlichkeit des Betroffenen dargelegt werden soll. All dies vor dem Hintergrund, dass es um eine mögliche Anordnung der weitgehendsten Sanktion im Strafrecht geht. Gleichwohl ist es ein schmaler Grad zwischen subkulturellen Verhaltensweisen und zu wertenden Gesichtspunkten, die auf eine Gefährlichkeit hindeuten. Eine Grenzziehung sollte dort erfolgen, wo sich eine abstrakte Gefährdung anderer ergibt, wenn beispielsweise unerlaubte Gegenstände gegen andere Personen eingesetzt werden oder aufgrund des Konsums von Alkohol oder Drogen aggressive oder gefährdende Handlungen vorgenommen werden. Denn dann manifestiert sich die Gefahr nach außen, auch wenn Straftatbestände möglicherweise noch nicht erfüllt sind.

d) Schließlich geht der Beschluss noch auf das Merkmal der hohen Wahrscheinlichkeit der Begehung neuer Straftaten ein (Abs. 33). Die Richter führen aus, dass es verfassungsrechtlich nicht ausreicht, wenn überwiegende Umstände auf eine künftige Delinquenz des Betroffenen hindeuten. Stattdessen sei die Feststellung "einer gegenwärtigen erheblichen Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit" erforderlich. Die beteiligten Verfassungsrichter bemühen sich also, die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Begehung neuer Straftaten zu konkretisieren. Wenn die Richter des weiteren ausführen, dass bloße Erwägungen zur Rückfallwahrscheinlichkeit nicht ausreichen würden, so liegt mittelbar eine Konformität mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs[15] vor, der ein über 50 % liegendes Rückfallrisiko nicht allein zur Begründung einer Gefährlichkeit ausreichen lassen will.

Rätsel gibt die Forderung auf, dass das Merkmal der Rückfallwahrscheinlichkeit zudem die Rückfallgeschwindigkeit erfassen soll. Es stellt sich die Frage nach dem Nutzen von Ausführungen über die Rückfallgeschwindigkeit, denn schließlich ist die Gefährlichkeit des Betroffenen zur Zeit der Hauptverhandlung zu beurteilen. Sobald eine Gefährlichkeit festgestellt wird, impliziert dies doch die Gefahr einer baldigen Begehung von Straftaten. Die Gefährlichkeit ist eine feststehende, zu prüfen-

de materielle Voraussetzung, aus der sich die Rückfallgeschwindigkeit ergibt, nicht umgekehrt.

II. Abschließend betrachtet liegt ein Beschluss vor, der viele Fragen dieser umstrittenen Maßregel beantwortet, aber gleichzeitig neue Problemfelder eröffnet. Es ist daher zu erwarten, dass die Erörterung der Thematik viele weitere Seiten füllen wird, bis eine einheitliche Linie in der Rechtsprechung verfolgt wird.


* Der Verfasser ist Rechtsreferendar am Kammergericht.

[1] BVerfGE 109, 133 = NJW 2004, 739; BVerfGE 190, 190 = NJW 2004, 750.

[2] BGH StraFo 2005, 300 (303) = JR 2006, 32 (35) = NJW 2005, 2022 (2025); BGH StV 2006, 67 (70) = NStZ 2006, 156 (158); BGH NJW 2005, 3078 (3080) = StV 2005, 549 (550); BGH Beschl. v. 12.01.2006, 4 StR 485/05, S. 5.

[3] Wie Fn. 2. Bedenken jedoch OLG Frankfurt NStZ-RR 2005, 106 (109).

[4] Kinzig, NJW 2004, 914; Gazeas, StraFo 2005, 13; Waterkamp, StV 2004, 271; Streng, StV 2006, 97; Düx, ZRP 2006, 85; krit. Jansing, Nachträgl. Sicherungsverwahrung (2004), S. 477.

[5] BVerfG NJW 1995, 1077 (1078).

[6] BT-Drucks. 15/2887, S. 12.

[7] OLG München NStZ 2005, 573 (574).

[8] BVerfG NJW 2004, 750 (758); BT-Drucks. 15/2887, S. 13 und 15/3346, S. 17; BGH StraFo 2005, 300 (302) = NStZ 2005, 561 (562); Ullenbruch, NStZ 2005, 562.

[9] Ullenbruch NJW 2006, 1380.

[10] BGH NJW 2006, 1442 (1445).

[11] Tröndle/Fischer, 53. Aufl. (2006), § 66 b Rn. 20; Ullenbruch in MüKo (2005), § 66 b Rn. 115; Böllinger/Pollähne in NK, 2. Aufl. (2005), § 66 b Rn. 12; Römer, JR 2006, 6; Ullenbruch, NJW 2006, 1383. A. A. BT-Drucks. 15/2887, S. 13; Lackner/Kühl, 25. Aufl. (2004), § 66 b Rn. 8; Milde, Die Entwicklung der Normen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung in den Jahren von 1998 bis 2004 (2006), S. 265; Folkers, NStZ 2006, 427, 433; Kinzig, NStZ 2004, 657; Passek, GA 2005, 105, 112.

[12] Ullenbruch in MüKo, § 66 Rn. 111; Volckart, Praxis der Kriminalprognose (1997), 95.

[13] BGH StV 2006, 63 (64).

[14] OLG Rostock StV 2005, 279 (283).

[15] BGH StraFo 2005, 300 (303) = NStZ 2005, 561 (563).