HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2006
7. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

127. BGH 5 StR 344/05 (alt: 5 StR 94/04) - Urteil vom 30. November 2005 (LG Berlin)

Tötungsvorsatz (voluntatives Element; Billigen im Rechtssinne; hochgradig interessenwidrige Tatfolgen); Beweiswürdigung; zulässige Revision der Nebenklage (Gesetzesverletzung; konkludente Berufung; Mord (niedrige Beweggründe); Schuldspruchänderung auf Totschlag (Körperverletzung mit Todesfolge); innerprozessuale Bindung an die aufrecht erhaltenen Feststellungen.

§ 211 StGB; § 15 StGB; § 212 StGB; § 261 StPO; § 400 StPO; § 354 StPO; § 226 StGB; § 353 Abs. 2 StPO

Der Erfolg muss den Wünschen des Täters nicht entsprechen (vgl. BGHSt 7, 363, 369). Allenfalls hochgradig interessenwidrige Tatfolgen widerstreiten der Annahme einer Billigung des Erfolges durch einen in der Steuerungsfähigkeit beeinträchtigten, ohnehin überaus unüberlegt handelnden Täter.


Entscheidung

82. BGH 3 StR 243/05 - Urteil vom 1. Dezember 2005 (LG Duisburg)

Mord (Heimtücke; Strafzumessung; Rechtsfolgenlösung); rechtfertigender Notstand (Dauergefahr); Putativnotstand; Tateinheit (natürliche Handlungseinheit); Zweifelssatz (unwiderlegliche Einlassung; Aufklärungspflicht).

§ 211 StGB; § 49 Abs. 1 StGB; § 46 StGB; § 35 Abs. 2 StGB; § 52 StGB; § 34 StGB

Eine so genannte Dauergefahr ist i.S. der §§ 34 und 35 StGB gegenwärtig, wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts so verdichtet hat, dass die zum Schutz des bedrohten Rechtsgutes notwendigen Maßnahmen sofort eingeleitet werden müssen, um den Schaden sicher zu verhindern (BGHSt 48, 255, 259).

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

112. BGH 4 StR 283/05 - Urteil vom 15. Dezember 2005 (LG Bochum)

Volksverhetzung (böswilliges Verächtlichmachen; Angriff auf die Menschwürde; Behauptung der religiös bedingten Bereitschaft zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger bei Juden; Synagogenbau; öffentlicher Friede); Meinungsfreiheit (Deutungsobliegenheiten; Recht auf Gegenschlag); vermeidbarer Verbotsirrtum (Subsumtionsirrtum; Vermeidemaßnahmen).

Art. 1 GG; Art. 5 GG; Art. 10 EMRK; § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 17 StGB

1. Wer vor dem geschichtlichen Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung und der damit einhergehenden systematischen Zerstörung von Synagogen in einer die NS-Ideologie befürwortenden antisemitischen Gesinnung zum Ausdruck bringt, Juden seien nicht würdig, Synagogen zu errichten, trifft diese im Kernbereich ihrer Persönlichkeit und begeht damit einen Angriff auf ihre Menschenwürde.

2. Ein "Recht auf Gegenschlag" greift nicht beim absoluten Schutz der Menschenwürde (BVerfG NStZ 2003, 655 f.).


Entscheidung

114. BGH 4 StR 347/05 - Urteil vom 22. Dezember 2005 (LG Göttingen)

Beweiswürdigung (Tötungsvorsatz; Schüsse auf ein fahrendes Auto; Körperverletzungsvorsatz); gefährliche Körperverletzung (Unmittelbarkeitszusammenhang beim gefährlichen Werkzeug; gemeinschaftlich: unschädlich mangelnde Kenntnis des Tatopfers).

§ 261 StPO; § 212 StGB; § 223 StGB; § 15 StGB; § 224 StGB

1. § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB setzt voraus, dass mindestens zwei Personen bei der Körperverletzung bewusst zusammenwirken. Nicht erforderlich ist die eigenhändige Mitwirkung jedes einzelnen an der Verletzungshandlung. Vielmehr genügt es, dass eine am Tatort anwesende Person den unmittelbar Tatausführenden aktiv - physisch oder psychisch - unterstützt (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 47, 383, 386/387; BGH NStZ 2000, 194, 195 ).

2. Der Annahme gemeinschaftlicher Begehungsweise steht nicht prinzipiell entgegen, dass die Tatopfer von der Beteiligung einer zweiten Person keine Kenntnis hatten. Durch den Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB sollen Begehungsweisen erfasst werden, bei denen durch das Zusammenwirken mehrerer eine verstärkte Gefährlichkeit der Körperverletzung für das Tatopfer begründet wird (BGHSt 47, 383, 386). Der Grad der Gefährlichkeit der Körperverletzung hängt jedoch von der konkreten Tatsituation, nicht aber von der Kenntnis des Tatopfers ab.