HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2006
7. Jahrgang
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IV. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

100. BGH 3 StR 470/04 - Urteil vom 21. Dezember 2005 (LG Düsseldorf)

BGHSt; Untreue (gravierende Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht; sicherer Vermögensnachteil; Einverständnis des Vermögensinhabers); Fall Mannesmann (Vodafone); Aktiengesellschaft (Präsidium; Aufsichtsrat; Vorstand; unternehmerische Führungs- und Gestaltungsaufgaben: Beurteilungs- und Ermessensspielraum); Sonderzahlung (Anreizwirkung; Dienstvertrag; kompensationslose Anerkennungsprämie; Verschwendung); unvermeidbarer Verbotsirrtum; Beihilfe bei berufstypischen neutralen Handlungen (objektive Zurechnung; Gehilfenvorsatz).

§ 266 Abs. 1 StGB; § 87 Abs. 1 AktG; § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG; § 112 AktG; § 116 Satz 1 AktG; § 15 StGB; § 16 StGB; § 17 StGB; § 27 StGB; § 353 StPO

1. Bewilligt der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft für eine erbrachte dienstvertraglich geschuldete Leistung einem Vorstandsmitglied nachträglich eine zuvor im Dienstvertrag nicht vereinbarte Sonderzahlung, die ausschließlich belohnenden Charakter hat und dem Unternehmen keinen zukunftsbezogenen Nutzen bringt (kompensationslose Anerkennungsprämie), liegt hierin eine treupflichtwidrige Schädigung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens. (BGHSt)

2. Die zur Erfüllung des Tatbestandes der Untreue erforderliche Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht muss auch bei unternehmerischen Entscheidungen eines Gesellschaftsorgans nicht zusätzlich "gravierend" sein (Klarstellung zu BGHSt 47, 148 und 187). (BGHSt)

3. Die Mitglieder des Präsidiums, das die Aktiengesellschaft gegenüber den Vorstandsmitgliedern vertritt, haben bei Entscheidungen über die inhaltliche Ausgestaltung der Dienstverträge mit den Vorstandsmitgliedern und über deren Bezüge eine Vermögensbetreuungspflicht, die aus ihrer Stellung als Verwalter des für sie fremden Vermögens der Aktiengesellschaft folgt. (Bearbeiter)

4. Für unternehmerische Führungs- und Gestaltungsaufgaben ist in der Regel ein weiter Beurteilungs- und Ermessensspielraum eröffnet, da sie regelmäßig aufgrund einer zukunftsbezogenen Gesamtabwägung von Chancen und Risiken getroffen werden, die wegen ihres Prognosecharakters die Gefahr erst nachträglich erkennbarer Fehlbeurteilungen mit sich bringt. Eine Pflichtverletzung ist daher nicht gegeben, solange die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muss, nicht überschritten sind. (Bearbeiter)

5. Auch bei fehlender Rechtsgrundlage im Dienstvertrag ist die Bewilligung einer nachträglichen Anerkennungsprämie zulässig, soweit dem Unternehmen gleichzeitig Vorteile zufließen, die in einem angemessenen Verhältnis zu der mit der freiwilligen Zusatzvergütung verbundenen Minderung des Gesellschaftsvermögens stehen. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn von der freiwilligen Sonderzahlung eine für das Unternehmen vorteilhafte Anreizwirkung ausgeht. (Bearbeiter)

6. Der allgemeine Grundsatz des Zivilrechts, dass derjenige, der fremdes Vermögen zu betreuen hat, ausschließlich und uneingeschränkt im Interesse des Vermögensinhabers handeln muss und das anvertraute Vermögen nicht nutzlos hingeben darf, gilt auch im Aktienrecht. (Bearbeiter)

7. Die Vermögensbetreuungspflicht des § 266 Abs. 1 StGB ist in der Regel nicht verletzt, wenn der Vermögensinhaber sein Einverständnis mit der Vermögensschädigung erklärt hat. Bei einer Aktiengesellschaft ist Voraussetzung für ein strafrechtlich bedeutsames Einverständnis mit einer kompensationslosen Anerkennungsprämie, dass es entweder von dem Alleinaktionär oder von der Gesamtheit der Aktionäre durch einen Beschluss der Hauptversammlung über die Verwendung des Bilanzgewinns erteilt worden ist, nicht gegen Rechtsvorschriften verstößt oder aus sonstigen Gründen ausnahmsweise als unwirksam zu bewerten ist. Das Einverständnis eines zukünftigen Alleinaktionärs kann allein - je nach den Umständen - als den Unrechtsgehalt erheblich mindernder Faktor die Strafzumessung beeinflussen. (Bearbeiter)

8. Eine Aufrechterhaltung an sich fehlerfreier Feststellungen kommt nicht in Betracht, wenn der Angeklagte die Tatvorwürfe bestreitet und freigesprochen wird, weil er das rechtsfehlerfreie Zustandekommen der Feststellungen in diesem Fall mangels Beschwer nicht überprüfen lassen konnte. (Bearbeiter)

9. Der Vorstandsvorsitzende einer Aktiengesellschaft als deren Geschäftsführer und Vertreter hat keine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB im Hinblick auf Entscheidungen, die die Bezüge der Vorstandsmitglieder betreffen. Denn diese werden durch das Aktiengesetz nicht nur aus der Vertretungsmacht, sondern auch aus der Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands ausgeklammert und sind dem Präsidium (Aufsichtsrat) in ausschließlicher Zuständigkeit zugewiesen (§ 87 Abs. 1 und 2, § 112 AktG). (Bearbeiter)

10. Es kann offen bleiben, ob die Problematik der Unternehmensspenden dadurch sachgerechter gelöst werden könnte, dass die Annahme einer strafbaren Untreue nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" ausscheidet, solange nur ein die Spende kompensierender Nutzen für das Unternehmen möglich erscheint. (Bearbeiter)

11. Es kann offen bleiben, ob die zur Eingrenzung der Beihilfestrafbarkeit bei "berufstypischen neutralen Handlungen" entwickelten Kriterien der Sache nach weiter führen oder ob nicht vielmehr die Strafbarkeitsbeschränkung bei sachgerechter Auslegung ausreichend nach den herkömmlichen und allgemein anerkannten Regeln etwa über die objektive Zurechnung oder den Gehilfenvorsatz erfolgen kann. (Bearbeiter)


Entscheidung

123. BGH 5 StR 119/05 - Urteil vom 2. Dezember 2005 (LG Köln)

BGHSt; Steuerhinterziehung (Selbstbelastungsfreiheit: Versteuerung von Bestechungsgeldern); Amtsträgerstellung (sonstige Stelle; private Mischunternehmen; Sperrminorität); Untreue (Beihilfe; Mindestvermögensnachteil bei Schmiergeldzahlungen; Bestechung im geschäftlichen Verkehr; Missbrauchstatbestand: Wirksamkeit der Verpflichtung); Verfall (Erlangtes bei Bestechung); Bestechlichkeit bzw. Bestechung im geschäftlichen Verkehr; Strafaussetzung zur Bewährung (Einfluss des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung auf die Verfolgbarkeit von Steuer- und Wirtschaftskriminalität; obiter dictum des 5. Strafsenats).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB; § 370 AO; § 261 StPO; § 267 StPO; § 27 StGB; § 266 StGB; § 73

Abs. 1 Satz 1 StGB; § 393 AO; § 299 StGB; § 300 StGB; § 56 StGB; § 266 StGB

1. Privatrechtlich organisierte Unternehmen im Bereich der Daseinsvorsorge sind keine "sonstigen Stellen" im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB, wenn ein Privater daran in einem Umfang beteiligt ist, dass er durch eine Sperrminorität wesentliche unternehmerische Entscheidungen mitbestimmen kann. (BGHSt)

2. Bei der Auftragserlangung durch Bestechung im geschäftlichen Verkehr bildet der auf den Preis aufgeschlagene Betrag, der lediglich der Finanzierung des Schmiergelds dient, regelmäßig die Mindestsumme des beim Auftraggeber entstandenen Vermögensnachteils im Sinne von § 266 Abs. 1 StGB. (BGHSt)

3. Durch Bestechung erlangt im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB ist bei der korruptiven Manipulation einer Auftragsvergabe der gesamte wirtschaftliche Wert des Auftrags im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses, nicht der vereinbarte Werklohn. (BGHSt)

4. Wer Bestechungsgelder erhält, muss diese versteuern. Dem steht der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit auch in Fällen des § 393 Abs. 2 Satz 2 AO nicht entgegen, soweit sich die Erklärungspflicht auf die betragsmäßige Angabe der Einnahmen beschränkt und nicht deren deliktische Herkunft umfasst. (BGHSt)

5. "Sonstige Stellen" sind - ohne Rücksicht auf ihre Organisationsform - behördenähnliche Institutionen, die zwar keine Behörden im organisatorischen Sinne sind, aber rechtlich befugt sind, bei der Ausführung von Gesetzen und bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben mitzuwirken (vgl. BGHSt 43, 370, 375 ff.; 49, 214, 219). Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass auch als juristische Personen des Privatrechts organisierte Einrichtungen und Unternehmen der öffentlichen Hand als "sonstige Stellen" den Behörden gleichzustellen sind, wenn bei ihnen Merkmale vorliegen, die eine Gleichstellung rechtfertigen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie bei ihrer Tätigkeit öffentliche Aufgaben wahrnehmen und dabei derart staatlicher - gegebenenfalls auch kommunaler - Steuerung unterliegen, dass sie bei einer Gesamtbewertung der sie kennzeichnenden Merkmale als "verlängerter Arm" des Staates erscheinen (vgl. BGHSt 49, 214, 219 m.w.N.). (Bearbeiter)

6. Nach der Erfahrung des Senats kommt es bei einer Vielzahl von großen Wirtschaftsstrafverfahren dazu, dass eine dem Unrechtsgehalt schwerwiegender Korruptions- und Steuerhinterziehungsdelikte adäquate Bestrafung allein deswegen nicht erfolgen kann, weil für die gebotene Aufklärung derart komplexer Sachverhalte keine ausreichenden justiziellen Ressourcen zur Verfügung stehen. Die seit der Tat vergangene Zeit und auch die Dauer des Ermittlungs- und Strafverfahrens (vgl. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) werden in vergleichbaren Verfahren häufig zu derart bestimmenden Strafzumessungsfaktoren, dass die Verhängung mehrjähriger Freiheitsstrafen oder die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 Abs. 3 StGB namentlich wegen des Zeitfaktors ausscheidet. Dem in § 56 Abs. 3 StGB zum Ausdruck gekommenen Anliegen des Gesetzgebers, das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts vor einer Erschütterung durch unangemessen milde Sanktionen zu bewahren, kann im Bereich des überwiegend tatsächlich und rechtlich schwierigen Wirtschafts- und Steuerstrafrechts nach Eindruck des Senats nur durch eine spürbare Stärkung der Justiz in diesem Bereich Rechnung getragen werden. Nur auf diese Weise - nicht durch bloße Gesetzesverschärfungen - wird es möglich sein, dem drohenden Ungleichgewicht zwischen der Strafpraxis bei der allgemeinen Kriminalität und der Strafpraxis in Steuer- und Wirtschaftsstrafverfahren entgegenzutreten und dem berechtigten besonderen öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung schwerwiegender Wirtschaftskriminalität gerecht zu werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

81. BGH 3 StR 243/02 - Urteil vom 15. Dezember 2005 (LG Mönchengladbach)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Versuch trotz "verzweifelter Bemühungen" um ein Umsatzgeschäft mit "Drogendealern"; Vollendung; Eigenverbrauch); Recht auf Verfahrensbeschleunigung (rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; Anfrageverfahren; Großer Senat für Strafsachen).

§ 29 BtMG; § 22 StGB; § 23 StGB; § 132 GVG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG

Zu einem Einzelfall, in dem nach den Grundsätzen des Großen Senats für Strafsachen auch nach dem "verzweifelten Bemühen", mit "Drogendealern" ein konkretes Umsatzgeschäft zu tätigen, keine Vollendung angenommen wurde.


Entscheidung

85. BGH 3 StR 61/02 - Urteil vom 15. Dezember 2005 (LG Mönchengladbach)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (reine Vorbereitungshandlungen; Vorfeld eines noch nicht näher konkretisierten Drogenumsatzes); Recht auf Verfahrensbeschleunigung (rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; Anfrage- und Vorlageverfahren).

§ 29 BtMG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG

Zu einem Einzelfall, in dem nach den Grundsätzen des Großen Senats für Strafsachen eine reine Vorbereitungshandlung angenommen worden ist (hier: Auftrag zur Erkundung einer Telephonnummer, unter der Betäubungsmittel gekauft werden können).


Entscheidung

74. BGH 2 StR 539/05 - Beschluss vom 21. Dezember 2005 (LG Koblenz)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Täterschaft; Teilnahme; Kurier); Aufrechterhaltung des Rechtsfolgenausspruchs trotz Schuldspruchänderung zur Beteiligungsform (Beruhen).

§ 29 BtMG; § 25 StGB; § 26 StGB; § 27 StGB; § 337 StPO; § 354 Abs. 1 StPO analog

1. Der Tatbestand des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln ist weit auszulegen und erfasst grundsätzlich alle Tätigkeiten, soweit sie auf den späteren Umsatz des Rauschgifts gerichtet sind. Nicht jede eigennützige Förderung fremder Umsatzgeschäfte ist aber als täterschaftliches Handeltreiben zu bewerten; eine ganz untergeordnete Tätigkeit genügt in aller Regel nicht.

2. Die Tätigkeit eines Kuriers, der gegen Entlohnung selbst Betäubungsmittel transportiert, ohne selbst Käufer oder Verkäufer zu sein, ist nicht grundsätzlich von untergeordneter Bedeutung, auch er kann Täter sein. Zu dieser Feststellung bedarf es jedoch der Abgrenzung zur Beihilfe nach den allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts.

3. Von Bedeutung für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe kann bei einem Kurier sein, ob er mit dem An- und Verkauf der transportierten Betäubungsmittel zu tun hatte, ob er auf Menge, Transportweg und -ziel Einfluss nahm, ob er das Rauschgift eigenverantwortlich oder unter der Aufsicht und Anleitung transportierte und in welcher Höhe er eine Entlohnung für die Kurierfahrt bekam.