HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2005
6. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen


HRRS-Praxishinweis: Verfahrensverzögerung durch zur Zurückweisung führende staatliche Verfahrensfehler und Detailprüfung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen

Zugleich Anmerkung zu BVerfG HRRS 2005 Nr. 900.

Von Karsten Gaede, Hamburg/Karlsruhe *

Das BVerfG hat durch die 3. Kammer des Zweiten Senats eine bemerkenswerte stattgebende Entscheidung gefällt, mit der nicht nur das OLG Düsseldorf zum zweiten Male in der gleichen Sache wegen eines Verfassungsverstoßes gerügt wird. Die Entscheidung über eine über acht Jahre währende Untersuchungshaft zeigt vielmehr über den Fall hinaus lehrbuchartig praktisch bedeutsame Maßstäbe der verfassungsrechtlich und menschenrechtlich gebotenen Verfahrensbeschleunigung auf. Zumal die an die erste Aufhebung anschließende Entscheidung kein Einzelfall ist,[1] sollte sie nicht nur in der Tagespresse,[2] sondern vor allem in der juristischen Fachöffentlichkeit unverzögert Berücksichtigung finden. Entsprechend hebt der folgende Praxishinweis die besonders wesentlichen Passagen der Entscheidung hervor (I.). Er begrüßt die Entscheidung und umreißt erste absehbare Streitfragen und Diskussionen, die nun aufkommen dürften (II.).

I. Wesentliche Aussagen der Kammer

Das BVerfG hatte sich wiederholt mit dem Fall eines Angeklagten zu befassen, der des mehrfachen Mordes verdächtigt wird und sich acht Jahre in Untersuchungshaft befand. In einer ersten Entscheidung hatte das BVerfG deutlich auf eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG entnommenen Beschleunigungsgebots in Haftsachen erkannt.[3] Nachdem das zuständige OLG Düsseldorf abermals die Untersuchungshaft bestätigte, erkannte die 3. Kammer nun erneut insbesondere auf eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, wobei die Kammer keine weitere Einschaltung des OLG Düsseldorf mehr für vertretbar erachtete: Das BVerfG selbst hob den Haftbefehl auf. Dabei verwendete das Gericht in der gesamten Entscheidung eine Diktion, die keinen Zweifel daran aufkommen lässt, für wie verfehlt das BVerfG die oberlandesgerichtliche Entscheidung hielt.[4] Über den schon für sich genommen Aufsehen erregenden Fall hinaus sind eine ganze Reihe bemerkenswerter Sachaus-

sagen zu verfassungsmäßigen Verfahrensrechten getroffen worden, die allgemeine Aufmerksamkeit verdienen:

1. Staatliche Verfahrensverzögerung durch jede Zurückweisung nach einem offensichtlich dem Staat zuzurechnenden Verfahrensfehler

Im Anschluss an frühere Entscheidungen, in denen das BVerfG dem Vorbild des EGMR gefolgt ist,[5] präzisiert die Kammer die Rechtsprechung des BVerfG zur Einstufung einer erfolgreichen Revision des Angeklagten als eine dem Staat zurechenbare Verfahrensverzögerung. Bislang war die herrschende Meinung auch im Anschluss an die Formulierung des BVerfG davon ausgegangen, dass eine staatliche Verfahrensverzögerung nur ganz ausnahmsweise mit dem Umstand einer Zurückweisung nach einer Revision begründet werden kann.[6] Nunmehr[7] hat das Gericht jedoch mit dem bereits erklärten Vorbehalt für Ausnahmefälle bei offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlern ernst gemacht und den Einwand, die Aufhebung beruhe auf der rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Revisionsverfahrens, entscheidend eingeschränkt. Es heißt in der Entscheidung selbst:

"Das Bundesverfassungsgericht hat zwar festgestellt, dass es von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden ist, die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit nicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen … Ebenso unmissverständlich hat es aber darauf hingewiesen, dass hiervon eine Ausnahme dann zu machen ist, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat (so ausdrücklich Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 2003 - 2 BvR 153/03 -, NJW 2003, S. 2897 <2898> …".

Im geprüften Verfahren genügte eine Aufhebung wegen eines Verstoßes gegen die Benachrichtigungspflicht des § 168c V StPO mit anschließender Verwertung der Vernehmung, um einen offensichtlich der Justiz anzulastender Verfahrensfehler anzunehmen.[8] Für die Reichweite dieser Rechtsprechung über den Fall hinaus ist nun erstens wesentlich, dass die Kammer eine Einschränkung zurückweist, nach der nur kaum verständliche bzw. eklatante Rechts- oder Verfahrensfehler eine dem Staat anzulastende Verzögerung begründen können sollen:

"Maßgebend ist allein, ob er[der Rechts- oder Verfahrensfehler]offensichtlich der Justiz (oder dem Beschwerdeführer) zuzurechnen ist. Eine wie auch immer geartete Vorwerfbarkeit ist damit nicht verbunden. Entscheidend ist ausschließlich, in wessen Sphäre der Verfahrensfehler wurzelt, in der des Beschwerdeführers oder in der der Justiz."

Zweitens dürfte die Untersuchungshaft angesichts der typisch beträchtlichen staatlichen Verzögerung durch ein Revisionsverfahren nach einer Zurückweisung allgemein nur noch schwer zu begründen sein. Das Gericht hält kleinere Verfahrensverzögerungen für tolerierbar, führt jedoch aus:

"Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden".[9]

2. Verfahrensabschnittsbezogene Detailprüfung der erforderlichen Beschleunigung und erhöhte Begründungslast bei Untersuchungshaft

Das Gericht nimmt eine detaillierte Prüfung des vorliegenden Verfahrens vor. Diese soll hier nicht im Einzelnen dargestellt werden; auf die Entscheidung wird insoweit verwiesen (vgl. auch beispielhaft 3.).[10] Ganz allgemein führt das Gericht aber im Kontext des Beschleunigungsgebots in Haftsachen betont aus, dass die Maßstäbe des Art. 2 Abs. 2 GG insbesondere mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft

"eine auf den Einzelfall bezogene Analyse des Verfahrensablaufs[erfordern]. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sind höhere Anforderungen an das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes zu stellen."[11]

Wie weit dieses Gebot gehen kann, demonstriert das BVerfG sodann auf eindrucksvolle und wohl kaum je vorher so publizierte Art und Weise, wobei viele Ausfüh-

rungen der Kammer Lehrbuchcharakter zukommt. Die folgenden beiden Beispiele vermögen dies zu illustrieren:

3. Keine unbeschränkte Unabhängigkeit bei der Terminierung von Hauptverhandlungen des Tatrichters und in der Revision

Bei umfangreicheren Verfahren kann sich offenbar auch die Terminierung des Richters nicht mehr geradezu sakrosankt hinter dem Mantel der richterlichen Unabhängigkeit verbergen:[12] Vor allem in dem hiesigen Fall vergleichbaren Konstellationen sind besondere Vorsorgemaßnahmen hinsichtlich des Erscheinens von Zeugen und Überlegungen zu einem Alternativvorgehen bei vorhersehbaren Verfahrenswendungen angeraten. Erneut im Anschluss an den EGMR[13] betont die Kammer hier mit einer Detailprüfung insbesondere des zweiten Verfahrens, dass nach dem festgestellten und dokumentierten Verfahrensablauf ein Bemühen erkenntlich sein muss, Zeugen und Sachverständige auf eine effiziente Art und Weise zu laden und einen straffen Verhandlungsplan festzulegen. Sie hält fest:

"Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen wird verletzt, wenn - wie hier - lediglich an einem Sitzungstag pro Woche für wenige Stunden verhandelt wird und sich die Hauptverhandlung dadurch über Monate hinzieht, ohne dass ein Ende abzusehen wäre."

Auch der BGH wird in diesem Zusammenhang im Anschluss an Krehl[14] in deutlicher Form gerügt: Die offenbar bestehende Praxis, regulär selbst in Haftsachen Revisionshauptverhandlungen mit einem Abstand von bis zu einem halben Jahr bis zum Verhandlungstag anzuberaumen, wurde insbesondere für Verfahren verworfen, in denen bereits Verzögerungen aufgetreten sind. Diese Praxis, so das BVerfG weiter, entspreche nicht der wertsetzenden Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Zu ihrer Änderung könnten auch organisatorische Vorkehrungen erforderlich sein.

4. Keine hohen Mindestzeiten für eine ausschlaggebende und nicht pauschal auszugleichende staatliche Verfahrensverzögerung

Weiter ist bemerkenswert, dass das BVerfG jedenfalls für Haftsachen zur Länge problematischer und nicht mehr rechtfertigungs- oder ausgleichslos tolerabler staatlicher Verfahrensverzögerungen Position bezieht: Selbst eine einmonatige staatliche Verfahrensverzögerung kann einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bedeuten. Das Gericht prüft etwa exakt eine einmonatige Verfahrensverzögerung, die dem BGH beim Eingang der Sache unterlaufen ist. Obiter stellt das Gericht die - auch hier abgelehnte[15] - Praxis insbesondere des BGH in Frage, festgestellte staatliche Verfahrensverzögerungen allein mit Blick auf eine insgesamt angemessen erscheinende Verfahrensdauer bzw. durch den Verweis darauf für unbeachtlich zu erklären, dass das Verfahren in anderen Verfahrensabschnitten zügig betrieben wurde. Zu Recht fragt nun auch das BVerfG rhetorisch, was denn in diesen anderen Verfahrensabschnitten anderes hätte geschehen sollen. Es stellt damit die Frage nach der rechtfertigenden Wirkung dieser rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeit für die bereits festgestellten staatlichen Verfahrensverzögerungen.

5. Stellungnahme zur gebotenen Wahrung des rechtlichen Gehörs und der Waffengleichheit schon im Ermittlungsverfahren

Im Rahmen der Prüfung des § 168c V StPO bezieht die Kammer sodann eine bemerkenswerte Position zum rechtlichen Gehör, bzw. zum Recht auf ein faires Verfahren. Hier nimmt die Kammer insbesondere auf die verfassungsgerichtlich eher selten und allgemein in Deutschland zu unrecht oft zu skeptisch gesehene Waffengleichheit[16] Bezug. Sie betont, dass ein Verstoß gegen § 168c V StPO grundlegender Natur ist und auch genügen muss, um einen - nach ihrer Auffassung aber nicht konstitutiven - eklatanten Verfahrensfehler anzunehmen. Dabei demonstriert das Gericht eine bemerkenswerte Sensibilität gegenüber der Wahrnehmbarkeit des rechtlichen Gehörs im Ermittlungsverfahren, die man bei deutschen Fachgerichten jedenfalls nicht stets antrifft.[17] Die Kammer erinnert - auch einem Ansatz des EGMR entsprechend[18] - daran, dass im Ermittlungsverfahren keine möglicherweise entscheidenden Beweisergebnisse unter Verletzung des rechtlichen Gehörs gewonnen werden dürfen. Wenn das BVerfG ausführt,

"jede andere Beurteilung würde nicht nur den Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren konterkarieren, sondern zugleich auch die verfahrensrechtliche

'Waffengleichheit' von Ankläger und Beschuldigtem, für den bis zur Verurteilung die Vermutung seiner Unschuld streitet, verletzen",

demonstriert es seine Wertschätzung gegenüber der Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs im Ermittlungsverfahren. Diese sollte man auch dann nicht übersehen, wenn es nicht um die Verfahrensbeschleunigung, sondern originär um den Umgang mit dem rechtlichen Gehör bzw. mit einem auf waffengleiche Teilhabe gerichteten fairen Verfahren selbst geht. Dies gilt auch deshalb, weil die Kammer in einem weiteren Zusammenhang auch allgemeiner

"die wertsetzende Bedeutung des Anspruchs des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf verfahrensrechtliche Waffengleichheit im Strafprozess"

betont .[19]

II. Bedeutung und Folgen der Entscheidung

Vor allem mit den klaren Stellungnahmen zugunsten einer detaillierten, verfahrensabschnittsbezogenen Prüfung der Beschleunigungsmaßstäbe im Strafverfahren hat die Entscheidung eine erhebliche Betonung grundrechtlicher Ansprüche vorgenommen, die im Grunde bereits anerkannt waren, so dass das Wort der Kammer zu Recht als Wort des BVerfG gelten kann. Zumal der BGH auch außerhalb der Untersuchungshaft entsprechende Ansätze gezeigt hat und der EGMR solche detaillierteren Prüfungen bereits demonstriert hat,[20] sollte die Entscheidung der Kammer nicht allein als Sonderfall "OLG Düsseldorf" für Konstellationen mit acht Jahren Untersuchungshaft betrachtet werden: Die gerade bei Untersuchungshaft erhöhten Begründungsanforderungen sind zwar nicht damit zu verwechseln, dass in Zukunft ein ideales Verfahren ex post im Wege der Beschleunigungsprüfung den Handelnden aufoktroyiert werden darf. Eine Grobprüfung der allgemein üblich scheinenden Gesamtverfahrensdauer, die sich nicht auch auf den konkreten Fall bezieht und die auf substantiierte Darlegungsobliegenheiten zum Verfahrensfortgang verzichtet, ginge jedoch an der Ratio des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung insbesondere bei Haftsachen ersichtlich vorbei.[21]

Während die Kontrolle der gerichtlichen Terminierung nach einem entsprechenden Vorbild des EGMR in einer gegen Deutschland ergangenen Entscheidung kaum noch überraschen konnte, ist jedenfalls die Positionierung zum Revisionsverfahren als einer dem Staat zurechenbaren Verfahrensverzögerung doch ein juristischer Paukenschlag, zumal die damit typisch anzunehmende beträchtliche staatliche Verfahrensverzögerung die Rechtfertigung der Untersuchungshaft erheblich erschwert. In der Tat hätte man sich vorstellen können, dass die bereits vom BVerfG anerkannte ausnahmsweise Einordnung als staatliche Verfahrensverzögerung durch einen sonst nicht selten anzutreffenden "Schwerevorbehalt" abgemildert werden würde. Zu Recht hat das BVerfG anders entschieden und damit - jedenfalls für Haftfälle auch ausdrücklich - einem pauschalen staatlichen Fehlerprivileg einen Riegel vorgeschoben: Zwar werden die konkreten Folgen und die Reichweite dieses Ansatzes in Zukunft erst noch näher zu prüfen sein, zumal Spannungen zu früheren Entscheidungen in der Bewertung des Ausnahmevorbehalts wohl bestehen.[22] Soweit aber eine klar dem Staat zuzurechnende Verfahrensrechtsverletzung vorliegt, die zur Zurückweisung führt, dürfte eine entsprechende staatliche Verfahrensverzögerung in der Regel anzunehmen sein. Es ist tatsächlich nicht einzusehen, warum ein staatlich verantworteter Verfahrensmangel und die dadurch objektiv vermeidbar entstandenen, letztlich nicht gerechtfertigten Verfahrenslasten- und -zeiten vor dem Maßstab des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung und des Beschleunigungsgebots in Haftsachen unproblematisch sein sollten. Der Angeklagte wird nicht für den staatlichen Fehler verantwortlich, weil er den staatlichen Mangel nicht duldet und hierzu seine Rechtsmittel ergreift. Dass dies dabei nur in Haftfällen gelten könnte, ist zu bezweifeln, weil dem Staat die Wahrung des Verfahrensrechts nicht nur gegenüber Inhaftierten obliegt und auch das fortdauernde Verfahren als solches den Angeklagten mehr als nur unwesentlich belastet.

Diese und die weiteren Maßstäbe der Entscheidung dürften freilich nicht bei jedem auf Zustimmung stoßen. Eine nicht zu leistende, die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigende Detailprüfung und eine angesichts oftmals streitiger Verfahrensrechtsfragen zu strenge Betrachtung der Revision dürfte der Kammer des BVerfG selbst bei Haftsachen entgegen gehalten werden.[23] Ebenso dürfte eine Diskussion über den Stil der Entscheidung einsetzen. Die Kammer findet klare und durchaus harte Worte, die aus Sicht der Fachgerichtsbarkeit im Wissen um die wertende Natur der Rechtsanwendung Anlass geben könnten, dem BVerfG seinerseits - vielleicht auch mit Blick auf die Bearbeitung dort anhängiger Verfahren[24] -

schlechten Stil vorzuwerfen. Die stilistischen Einwände treffen aber zum einen nicht die Sache selbst. Zum anderen darf ein Gericht über eine deutliche Reaktion des BVerfG auch nicht all zu verwundert sein, das es offenbar darauf anlegt, eher die eigenen Fachkompetenzen gegenüber dem Verfassungsgericht und dem Verfassungsrecht zu demonstrieren, als eine Entscheidung zu fällen, die den Maßstäben ernsthaft gerecht wird. Teilt man die rechtlichen Ausgangspunkte des BVerfG ist nach den über das Verfahren bekannten Tatsachen überdies in der Tat kein weiterer Hafttag mehr gerechtfertigt und daher auch die Vollstreckungsanordnung des Gerichts erstaunlich, aber eben begründet. So bleibt letztlich nur die Frage, ob nicht eine schneidend zurückhaltende Diktion der Sache des BVerfG noch mehr gedient hätte: Sie hätte Bestrebungen von vornherein den Wind aus den Segeln genommen, von der zustimmungswürdigen Strenge in der Sache mit dem Verweis auf die harten Worte des BVerfG abzulenken. Doch auch so bleibt die Entscheidung, was sie ist: Ein herausforderndes und eben auch engagiertes Plädoyer für einen nicht nur behaupteten, sondern tatsächlich auch im Konfliktfall noch wirkungsmächtigen Grundrechtsschutz. Die Praxis sollte sich dieses Beschlusses besser sogleich annehmen, anstatt sich in Rückzugsgefechten zu verlieren, welche den über den Einzelfall hinausreichenden Sachaussagen der Entscheidung soweit wie möglich ihre praktische Wirkung nehmen sollen.


* Der Verfasser ist Referendar am HansOLG und seit November 2005 Herrn Vizepräsident des BVerfG Prof. Dr. Dres. h.c. mult. Winfried Hassemer zur Ausbildung am BVerfG in Karlsruhe zugewiesen, welcher der 3. Kammer des Zweiten Senats nicht angehört. Den Rechtsreferendaren Ulf Buermeyer (Berlin) und Stephan Schlegel (Leipzig) danke ich herzlich für sehr hilfreiche Durchsichten eines früheren Entwurfs dieses Beitrages!

[1] Vgl. vielmehr auf der Homepage des BVerfG z.B. auch 2 BvR 1737/05 v. 29.11.2005 (demnächst BVerfG HRRS 2006 Nr. 2) und BVerfG NJW 2005, 3485 ff. = HRRS 2005 Nr. 804.

[2] Siehe nur FAZ vom 9.12.2005 ("Strafverfahren nicht verschleppen"); Stuttgarter Zeitung vom 9.12.2005 und Süddeutsche Zeitung vom 9.12.2005 ("Mordverdächtiger kommt frei").

[3] Vgl. BVerfG HRRS 2005 Nr. 804. Zur Ableitung des Rechts etwa BVerfGE 46, 194, 195 m.w.N.

[4] Vgl. nur BVerfG HRRS 2005 Nr. 900: "Die hiervon abweichenden Überlegungen des Oberlandesgerichts greifen ins Leere."

[5] Vgl. - nun abermals zitiert - EGMR NJW 2002, 2856, 2857. Allgemein zu dessen Rechtsprechung Demko HRRS 2005, 283 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. (2005), Art. 6 MRK Rn. 7 ff. m.w.N.

[6] Vgl. m.w.N. nur Meyer-Goßner (Fn. 5), Art. 6 MRK Rn. 7a; BVerfGK 2, 239, 251 m.w.N.

[7] Vgl. aber auch bereits BVerfG K StV 2005, 220, 223 und BVerfG K NJW 2005, 3485, 3487 = HRRS 2005 Nr. 804 sowie Gaede wistra 2004, 166, 174.

[8] Vgl. so schon BVerfG NJW 2005, 3485, 3487 = HRRS 2005 Nr. 804.

[9] Vgl. neben BVerfG HRRS 2005 Nr. 900 auch schon BVerfG StV 2005, 220, 223 f. und NJW 2005, 3485, 3487 = HRRS 2005 Nr. 804. Vgl. auch zu Art. 6 I 1 EMRK zur Einordnung der bei Untersuchungshaft gegebenen besonderen Bedeutung als verschärfte Begründungspflicht, Gaede wistra 2004, 166, 172 f. Siehe auch Art. 5 II EMRK.

[10] Vgl. also BVerfG HRRS 2005 Nr. 900.

[11] Vgl. neben BVerfG HRRS 2005 Nr. 900 auch schon BVerfG StV 2005, 220, 223 f. und NJW 2005, 3485, 3487 = HRRS 2005 Nr. 804. Vgl. auch zu Art. 6 I 1 EMRK zur Einordnung der bei Untersuchungshaft gegebenen besonderen Bedeutung als verschärfte Begründungspflicht, Gaede wistra 2004, 166, 172 f.

[12] Vgl. aber auch noch BVerfGK 2, 239, 250.

[13] Siehe Cevizovic v. D, 29.7.2004, §§ 48 ff., 58 ff. = StV 2005, 136, 138 m. Anm. Pauly; auch Gaede HRRS 2005, 377, 378.

[14] Vgl. Krehl StV 2005, 561 f., der auch Treffendes zu Foth NStZ 2005, 457 f. bemerkt, der verkennt, dass auch GBA und BGH verfassungsrechtlichen Darlegungsobliegenheiten unterliegen.

[15] Dazu schon Demko HRRS 2005, 283, 292 ff. und Gaede HRRS 2005, 377, 380 f., jew. m.w.N. zum allgemeinen Recht auf Verfahrensbeschleunigung. Siehe nun auch Krehl StV 2005, 561, 562 am Ende.

[16] Vgl. neben der Praxis des BVerfG, nur eine "gewisse Waffengleichheit" zu gewähren, BVerfGE 63, 45, 61 und 63, 380, 391 ff., etwa krit. m.w.N. KMR-Lesch Vor § 133 Rn. 14: Phrase; Geerds GA 1975, 347: Selbstbetrug; Rüping ZStW 91 (1979), 359 f.; Schaefer, Rieß-FS, S. 491, 492; Schroeder, bei Julius ZStW 115 (2003), 671, 691. Demgegenüber für eine Akzeptanz der Waffengleichheit als qualitatives Kriterium der vom fairen Verfahren gebotenen effektiven Beweisteilhabe des Angeklagten demnächst Gaede, Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, Kapitel F, § 2, III (Diss. Univ. Zürich 2005, derzeit zur Publikation vorbereitet).

[17] Vgl. nur zur Ablehnung der analogen Anwendung des § 168c StPO auf den Mitangeklagten durch den BGH m.w.N. BGH StV 2002, 584 m. abl. Anm. Wohlers.

[18] Siehe dazu demnächst Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 15), Kapitel C, § 2 II und Kap. D § 2 V.

[19] Freilich stehen die Verweise der Kammer auf das rechtliche Gehör, die Waffengleichheit und das faire Verfahren auch in einem unklaren, beliebig wirkenden Verhältnis zu einander. Für eine systematische Deutung dieser Rechtspositionen gemäß Art. 6 EMRK vgl. demnächst Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 15), Kap. F § 2.

[20] Vgl. dazu bereits BGH HRRS 2005 Nr. 726.

[21] Vgl. Demko HRRS 2005, 283, 294 ff.; Krehl StV 2005, 561, 562 und Gaede HRRS 2005, 377, 380 f.

[22] Vgl. nur die Bewertung der verfahrensrechtsbezogenen Auffassungen eines Amtsgerichts bei BVerfGK 2, 239, 251, wo überdies von "eklatante Gesetzesverletzungen" die Rede ist, wenngleich dort zugleich auf den letztlich nun übernommenen EGMR-Maßstab verwiesen wurde.

[23] Siehe schon den ehmaligen RiBGH Foth NStZ 2005, 457 f. und ders. NStZ 2004, 337 f., der hier die - von ihm insbesondere zur Revision als gewiss kenntnislos gescholtenen - wissenschaftlichen Mitarbeiter des BVerfG als Grund allen Übels, bzw. als Grund für die selbst gegenüber GBA und BGH erfolgende Detailprüfung erkennen möchte, die zuvor schon der EGMR unternommen hatte.

[24] Siehe etwa jüngst die Bemerkungen bei OLG Celle StV 2005, 620 und - man ist vermeint zu sagen, natürlich - bei Foth NStZ 2005, 457.