HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2005
6. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

873. BGH 2 StR 237/05 - Urteil vom 2. November 2005 (LG Frankfurt)

Körperverletzung mit Todesfolge; Einschränkung des Notwehrrechts (Absichtsprovokation; sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten; Rechtswidrigkeit des Vorverhaltens).

§ 32 StGB; § 223 StGB; § 227 StGB

1. Eine Notwehreinschränkung aufgrund des Vorverhaltens des Angegriffenen setzt voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges oder wenigstens sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht. Die Rechtswidrigkeit des Vorverhaltens ist nicht erforderlich.

2. In welchem Maße das Recht des Angegriffenen, sich gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zur

Wehr zu setzen, durch eine rechtswidrige und vorwerfbare Verursachung der Notwehrlage eingeschränkt ist, hängt insbesondere von dem Gewicht der schuldhaften Verursachung einerseits und dem Gewicht der drohenden Rechtsgutsverletzung andererseits ab.

3. Die bloße Kenntnis oder die Annahme, ein bestimmtes eigenes Verhalten werde eine andere Person zu einem rechtswidrigen Angriff provozieren, führt für sich allein nicht zu einer Einschränkung des Rechts, sich gegen einen solchen Angriff mit den erforderlichen und gebotenen Mitteln zur Wehr zu setzen.

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

888. BGH 3 StR 295/05 - Beschluss vom 20. September 2005 (LG Flensburg)

Fremde Sache (Diebstahl; Betäubungsmittel; Verkehrsfähigkeit; Eigentum; Vorsatz).

§ 242 StGB; § 249 StGB; § 29 BtMG; § 134 BGB; § 903 BGB; § 15 StGB

1. Illegal erworbene Drogen können tauglicher Gegenstand eines Eigentumsdeliktes sein. (BGHR)

2. Fremd ist eine Sache, wenn sie verkehrsfähig ist, das heißt überhaupt in jemandes Eigentum stehen kann, nicht herrenlos ist und nicht im Alleineigentum des Täters steht. (Bearbeiter)

3. Die Verkehrsfähigkeit illegaler Drogen wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Eigentum an ihnen nach den Verbotsvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes in Verbindung mit § 134 BGB nicht rechtsgeschäftlich übertragen werden kann. (Bearbeiter)

4. Für die Verurteilung wegen eines Eigentumsdeliktes genügt die Feststellung, dass fremdes Eigentum verletzt ist; nicht notwendig ist die Ermittlung der Person des Eigentümers. Dementsprechend ist es auch belanglos, welche Vorstellungen der Täter über die Person des Eigentümers hat; es genügt, dass er weiß, dass die Drogen nicht in seinem Alleineigentum stehen und nicht herrenlos sind. (Bearbeiter)


Entscheidung

912. BGH 4 StR 185/05 - Urteil vom 25. Oktober 2005 (LG Halle)

Das Leben gefährdende Behandlung (Würgen; Angriff auf den Hals des Opfers); bedingter Tötungsvorsatz (Gesamtwürdigung; Ausschluss einer entgegenstehenden hochgradigen Alkoholisierung und affektiver Erregung trotz mangelnder Erörterung).

§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB; § 212 Abs. 1 StGB; § 15 StGB

1. Nicht jeder Angriff auf den Hals des Opfers in der Form des Würgens, der zu würgemalähnlichen Druckmalen oder Hautunterblutungen führt, ist eine das Leben gefährdende Behandlung im Sinne dieser Vorschrift. Von maßgeblicher Bedeutung sind vielmehr Dauer und Stärke der Einwirkung, die zwar nicht dazu führen muss, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät, aber abstrakt geeignet sein muss, das Leben des Opfers zu gefährden (vgl. BGH NJW 2002, 3264, 3265; NStZ 2004, 618, jeweils m.w.N.).

2. Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen, zu denen ein Schnitt in den Hals zählt, ist der Schluss auf einen zumindest bedingten Tötungsvorsatz nahe liegend. Er ist nach ständiger Rechtsprechung allerdings nur dann rechtsfehlerfrei, wenn der Tatrichter alle nach Sachlage in Betracht kommenden Tatumstände in seine Erwägungen einbezogen hat, die dieses Ergebnis in Frage stellen können (vgl. BGH NStZ 2004, 51, 52; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 7, jeweils m.w.N.). Nach ständiger Rechtsprechung gehören hochgradige Alkoholisierung und affektive Erregung zu den Umständen, die der Annahme eines Tötungsvorsatzes entgegenstehen können und deshalb ausdrücklicher Erörterung in den Urteilsgründen bedürfen (vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 54 m.w.N.) - zur möglichen Entbehrlichkeit dessen nach den Fallumständen.


Entscheidung

908. BGH 1 StR 455/05 - Beschluss vom 8. November 2005 (LG Augsburg)

Konkurrenzverhältnis von Nötigung und Bedrohung (Klarstellungsfunktion; Vorrang des konkreten vor dem abstrakten Rechtsgüterschutz).

§ 240 StGB; § 241 StGB; § 52 StGB

Die Bedrohung tritt auch hinter einer nur versuchten Nötigung zurücktritt (BGHR StGB § 240 Abs. 3 Konkurrenzen 2. Abstrakter Rechtsgüterschutz hat jedoch nach den allgemeinen Grundsätzen unter Konkurrenzgesichtspunkten hinter dem konkreten zurückzutreten. Bedrohungen mit einem Verbrechen, auf die § 241 StGB beschränkt ist, stellen auch kein im Verhältnis zu § 240 StGB eigenständiges Handlungsunrecht dar.


Entscheidung

895. BGH 1 StR 195/05 - Urteil vom 11. Oktober 2005 (LG Tübingen)

Mordmerkmal "niedrige Beweggründe" (Wut und Verärgerung; Beurteilungsspielraum; deutscher Bewertungsmaßstab für kulturelle Vorstellungen); natürliche Handlungseinheit und höchstpersönliche Rechtsgüter.

§ 211 Abs. 2 StGB; § 52 StGB

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Tötungsbeweggrund niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht

und deshalb besonders verachtenswert ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich aufgrund einer Gesamtwürdigung, welche die Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und seine Persönlichkeit einschließt (vgl. BGHSt 47, 128, 130 m.w.N.). Bei einer Tötung aus Wut oder Verärgerung kommt es darauf an, ob diese Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen (BGH NJW 1995, 3196). Bei diesen Abwägungen steht dem Tatrichter ein Beurteilungsspielraum zu, den das Revisionsgericht nicht durch eigene Erwägungen ausfüllen kann (vgl. Senat, Urteil vom 10. Mai 2005 - 1 StR 30/05).

2. Der Maßstab für die Bewertung der Beweggründe (hier: Verteidigung der Ehre) ist den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 41 m.w.N.).

3. Höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen sind einer additiven Betrachtungsweise, wie sie der natürlichen Handlungseinheit zugrunde liegt, nur ausnahmsweise zugänglich. Greift daher der Täter einzelne Menschen nacheinander an, um jeden von ihnen in seiner Individualität zu beeinträchtigen, so besteht sowohl bei natürlicher als auch bei rechtsethisch wertender Betrachtungsweise selbst bei einheitlichem Tatentschluss und engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang regelmäßig kein Anlass, diese Vorgänge rechtlich als eine Tat zusammenzufassen (vgl. BGHR StGB vor § 1/natürliche Handlungseinheit Entschluss, einheitlicher 9). Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn eine Aufspaltung in Einzeltaten wegen eines außergewöhnlich engen zeitlichen und situativen Zusammenhangs, etwa bei Messerstichen innerhalb weniger Sekunden (vgl. BGHR StGB vor § 1/natürliche Handlungseinheit Entschluss, einheitlicher 2 und 5) oder bei einem gegen eine aus der Sicht des Täters nicht individualisierten Personenmehrheit gerichteten Angriff (vgl. BGH NJW 1985, 1565), willkürlich und gekünstelt erschiene.


Entscheidung

928. BGH 5 StR 347/05 - Urteil vom 13. Oktober 2005 (LG Dresden)

Strafzumessung (Erörterungsmangel hinsichtlich der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit bei Ersttätern im vorgerückten Alter im Bereich des Sexualstrafrechts); Recht auf Verfahrensbeschleunigung (eigenständiger Strafmilderungsgrund).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 46 StGB; § 21 StGB

Bei Ersttätern im vorgerückten Alter im Bereich des Sexualstrafrechts ist die Frage der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) infolge altersbedingter psychischer Veränderungen zu erörtern (vgl. u. a. BGH NJW 1964, 2213; BGHR StGB § 21 Sachmangel 1, 2, 3; Sachverständiger 5).


Entscheidung

887. BGH 3 StR 260/05 - Beschluss vom 26. August 2005 (LG Verden)

Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung (schutzlose Lage; Wohnung; Tenorierung beim besonders schweren Fall).

§ 177 StGB; § 260 Abs. 4 StPO

1. Eine schutzlose Lage (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB) ist gegeben, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maß verringert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist. Dies ergibt sich nicht schon daraus, dass sich der Täter mit dem Opfer allein in einer Wohnung befindet. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, etwa die Einsamkeit der Wohnung oder das Fehlen von Fluchtmöglichkeiten.

2. Wenn der Tatrichter eine sexuelle Nötigung (§ 177 Abs. 1 StGB) wegen sonstiger, nicht im Katalog des Abs. 2 Satz 2 StGB aufgeführter Umstände als besonders schweren Fall beurteilt, kommt dies im Schuldspruch nicht zum Ausdruck. Der Grundsatz, dass Strafzumessungsvorschriften nicht in den Urteilstenor aufzunehmen sind, wird nur für das schon durch die gesetzliche Überschrift besonders hervorgehobene Regelbeispiel der Vergewaltigung durchbrochen.


Entscheidung

896. BGH 1 StR 234/05 - Urteil vom 9. November 2005 (LG Stuttgart)

Mord (niedrige Beweggründe; fehlender nachvollziehbarer Grund); Totschlag (Wertungsfehler bei der Strafzumessung; besonders schwerer Fall; Nähe zu Mordmerkmalen).

§ 211 Abs. 2 StGB; § 212 StGB; § 46 StGB; Art. 103 Abs. 2 GG

Wenn der Angeklagte ohne jeglichen Grund gehandelt hätte, stellt dies für sich im Grundsatz noch keinen niedrigen Beweggrund dar. Es wäre auch im Hinblick auf § 103 Abs. 2 GG und die absolute Rechtsfolge des § 211 StGB verfehlt, jede vorsätzliche Tötung, für welche sich kein 'nachvollziehbarer’ oder nahe liegender Grund finden lässt, als Mord aus niedrigen Beweggründen anzusehen.


Entscheidung

924. BGH 5 StR 315/05 - Urteil vom 12. Oktober 2005 (LG Berlin)

Schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes; sexueller Missbrauch von Jugendlichen (sexuelle Handlung gegen Entgelt).

§ 176a StGB; § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 182 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. StGB

Entgelt im Sinne von § 182 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. StGB ist jede in einem Vermögensvorteil bestehende Gegenleistung (§ 11 Abs. 1 Nr. 9 StGB). Tatbestandsmäßig sind Vermögensvorteile jedweder Art. Für die Verwirklichung des Tatbestandes des § 182 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. StGB reicht es aus, dass sich Täter und Opfer vor oder spätestens während des sexuellen Kontaktes darüber einig sind, dass der Vermögensvorteil die Gegenleistung für das Sexualverhalten des Jugendlichen sein soll. Dabei ist es ausreichend, wenn der Jugendliche zur Duldung oder

Vornahme der sexuellen Handlung durch die Entgeltvereinbarung wenigstens mitmotiviert wird, da er schon hierdurch die Erfahrung der Käuflichkeit sexueller Handlungen macht, die seine ungestörte sexuelle Entwicklung nachhaltig negativ beeinflussen kann (vgl. BGHR StGB § 182 Abs. 1 Nr. 1 Entgelt 1 m.w.N.).


Entscheidung

911. BGH 4 StR 163/05 - Beschluss vom 13. September 2005 (LG Paderborn)

Strafrahmenwahl bei Vergewaltigung (Begriff der Vergewaltigung; Entfallen der Regelwirkung; "ambivalentes Verhalten"; Prüfung des minder schweren Falles); redaktioneller Hinweis.

§ 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 5 StGB; § 177 Abs. 1 StGB

Entfällt die Regelwirkung des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB, weil das Regelbeispiel mit gewichtigen Milderungsgründen zusammentrifft, so kommt in Betracht, die Tat darüber hinaus als minder schwerer Fall nach § 177 Abs. 5 StGB (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren) zu beurteilen. Allerdings müssen die Umstände, die der Tat trotz Erfüllung eines Regelbeispiels das Gepräge eines minder schweren Falles geben könnten, in einem ganz außergewöhnlichen Umfang schuldmildernd sein (vgl. BGH StV 2000, 557; BGHR StGB § 177 Abs. 5 [i.d.F. d. 6. StrRG] Strafrahmenwahl 1, 3).