HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

August 2004
5. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

648. BGH 3 StR 368/02 / 3 StR 415/02 - Beschluss vom 15. Juni 2004

Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen; verfahrensbeendende Absprachen (Wirksamkeit des Rechtmittelverzichts: Versprechenlassen, Anregen; rechtsstaatliche Grenzen); Vergleich im Strafprozess; Überprüfung des Urteils durch das Rechtsmittelgericht.

§ 132 Abs. 2 GVG; § 132 Abs. 4 GVG; § 302 StPO

1. Hinsichtlich der Anforderungen an eine mit der StPO und dem GG vereinbare verfahrensbeendende Absprache im Strafverfahren ist an den in BGHSt 43, 195 aufgestellten Grundsätzen festzuhalten.

2. Dem Verbot, im Rahmen einer verfahrensbeendenden Absprache einen Rechtsmittelverzicht zu vereinbaren, kommt besondere Bedeutung zu, da die Einhaltung der übrigen Anforderungen an eine Absprache davon abhängt, ob ihre Beachtung der Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht unterliegt. Der wirksamste Schutz gegen Fehlentwicklungen bei der Urteilsabsprache besteht darin, dass die Beteiligten nicht sicher sein können, dass das Urteil nicht doch zur Überprüfung gestellt wird.

3. Das Gericht darf im Rahmen einer Urteilsabsprache nicht auf einen Rechtsmittelverzicht hinwirken, indem es ihn ausdrücklich anspricht oder befürwortet. Zum einen unterscheidet sich die Beeinträchtigung des Willens des Angeklagten dabei nicht wesentlich von derjenigen durch ein abgegebenes Verzichtsversprechen. Zum anderen bestünde ansonsten die Gefahr des Ausweichens in äußerlich unverbindliche Erklärungen.

4. Wegen der zentralen Bedeutung des Verbots, bei der verfahrensbeendenden Absprache einen Rechtsmittelverzicht zu vereinbaren oder seitens des Gerichts auf ihn hinzuwirken, kann die Konsequenz aus einem Verstoß gegen dieses Verbot nur die Unwirksamkeit der im Anschluss daran abgegebenen Rechtsmittelverzichtserklärung sein.


Entscheidung

668. BGH 4 StR 85/03 - Urteil vom 6. Juli 2004 (LG Essen)

BGHSt; BGHR; Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Beschleunigungsgebot; Vorabteilentscheidung der Revision); Teilurteile und Zwischenurteile im Strafverfahren; Entziehung der Fahrerlaubnis (Ungeeignetheit zur Führung eines Fahrzeuges; Erfordernis des "spezifischen Zusammenhangs"; Gesamtwürdigung; Anfrageverfahren); Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Beschleunigungsgebot; Durchführung eines zeitaufwendigen Anfrage- und Vorlageverfahrens); Freiheit der Person.

§ 353 StPO; § 354 StPO; § 69 StGB; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 5 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 GG; § 132 GVG

1. Zur Befugnis, über Teile einer Revision ausnahmsweise vorab zu entscheiden, wenn dies wegen des Beschleunigungsgrundsatzes geboten ist. (BGHSt)

2. Die Strafprozessordnung kennt grundsätzlich keine Teil- oder Zwischenurteile, durch die einzelne, denselben Prozessgegenstand betreffende Fragen vorab entschieden oder einzelne Rechtsfolgen gesondert abgeurteilt werden. Regelmäßig muss im Strafverfahren eine einheitliche, abschließende Entscheidung ergehen, durch die der Prozessstoff erschöpfend erledigt wird. Dem strafprozessualen Rechtsmittelrecht ist allerdings eine Teilerledigung nicht völlig fremd. (Bearbeiter)

3. Eine Teilerledigung, die zur Herbeiführung von Teilrechtskraft führt, ist nur zulässig, wenn der rechtskräftige ebenso wie der nichtrechtskräftige Urteilsteil von dem übrigen Urteilsinhalt losgelöst, selbständig geprüft und rechtlich beurteilt werden kann. (Bearbeiter)

4. Es liegt keine prozessordnungswidrige, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vor, wenn im Rahmen des Revisionsverfahrens ein zeitaufwendiges Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 132 GVG durchgeführt werden muss. (Bearbeiter)

5. Im Hinblick auf das verfassungsrechtliche (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK (Recht auf Verfahrensbeschleunigung) ausdrücklich normierte Gebot angemessener Beschleunigung des Strafverfahrens ist es unvertretbar, ein Verfahren, obwohl es zum - für den Angeklagten im Vordergrund seines Rechtsmittels stehenden - Schuldspruch und Strafausspruch entscheidungsreif ist, bis zum Abschluss des Vorlageverfahrens insgesamt nicht weiter zu betreiben. (Bearbeiter)


Entscheidung

622. BGH 2 StR 382/03 - Beschluss vom 5. Mai 2004 (LG Frankfurt)

BGHSt; absoluter Revisionsgrund der falschen Besetzung; Besetzungsrüge; gesetzlicher Richter; Beschluss

über die kammerinterne Geschäftsverteilung (Schriftform).

§ 21g GVG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 338 Nr. 1 StPO

1. Zum Erlass eines kammerinternen Geschäftsverteilungsplans. (BGHSt)

2. Die Mitwirkungsgrundsätze für die kammerinterne Geschäftsverteilung sind durch Beschluss aller dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichter vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer zu regeln. Sie haben Geltung nur für das betreffende Geschäftsjahr und treten mit dessen Ablauf ohne weiteres außer Kraft. (Bearbeiter)

3. Der Beschluss über die kammerinterne Geschäftsverteilung bedarf der Schriftform. (Bearbeiter)

4. Durch das Fehlen eines nach § 21 g GVG von den Kammermitgliedern zu erstellenden Mitwirkungsplans wird das Gebot des gesetzlichen Richters zwar dann nicht verletzt, wenn ein Spielraum bei der Heranziehung der einzelnen Richter nicht besteht, etwa bei einem nicht überbesetzten Spruchkörper. Verhandelt eine Kammer aber in reduzierter Besetzung nach § 76 Abs. 2 GVG, so muss ungeachtet der Reduzierung der Besetzung durch von allen drei Richtern zu erlassenden Eröffnungsbeschluss bereits in der kammerinternen Geschäftsverteilung geregelt werden, welcher Richter nicht an der Hauptverhandlung teilnimmt, falls die Zweierbesetzung beschlossen werden sollte (BVerfG - Kammer-Beschl. vom 3. Mai 2004 - 2 BvR 1825/02). (Bearbeiter)


Entscheidung

629. BGH 2 ARs 33/04 - Beschluss vom 26. Mai 2004

Recht auf Verfahrensbeschleunigung; Antwort auf Anfragebeschluss; Prüfung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung (Sachrüge; Verfahrensrüge); Verfahrensverstoß; Aufklärungspflicht; Einstellung des Verfahrens durch Prozessurteil.

§ 344 StPO; § 132 GVG; Art. 6 Abs. 1 Satz EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG

1. Die Erhebung allein der Sachrüge verpflichtet das Revisionsgericht grundsätzlich nicht zur Prüfung, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, die eine kompensatorische Strafzumessung erforderlich macht. Denn das Urteil als Grundlage der revisionsgerichtlichen Prüfung auf die Sachrüge enthält in der Regel nicht alle Angaben, die zur Prüfung erforderlich wären, ob eine rechtsstaatwidrige Verfahrensverzögerung eingetreten ist.

2. Auf die Sachrüge hin kann eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu prüfen sein, wenn ausnahmsweise alle notwendigen Umstände im Urteil mitgeteilt werden, wenn die für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu gewährende Kompensation nicht exakt bestimmt wurde oder wenn der Tatrichter das Verfahren wegen der Verzögerung als rechtsstaatswidrig durch Prozessurteil eingestellt hat.

3. Es ist naheliegend, dass Verfahrensverzögerungen Verfahrensverstöße darstellen und deshalb mit der Verfahrensrüge zu beanstanden sind. Denn dass ein Verfahrensfehler in Form einer Verfahrensverzögerung sich sachlich-rechtlich - nämlich in Form einer Strafzumessung ohne angemessene Kompensation - auswirkt, nimmt ihm nicht die Qualität eines Verfahrensfehlers, der nur auf die Verfahrensrüge zu prüfen ist.

4. Trifft der Tatrichter keine Feststellungen zur Verfahrensdauer und nimmt er daraufhin keine Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verzögerung vor, so verstößt er primär gegen die Aufklärungspflicht, was nur auf die Aufklärungs- und damit auf die Verfahrensrüge hin zu prüfen ist. Wäre insoweit die Sachrüge zulässig, so würde dem Tatrichter der sachlich-rechtliche Vorwurf gemacht, den Umstand der Verzögerung nicht zum Gegenstand der Urteilsfindung gemacht zu haben, obwohl dieser nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war und daher gem. § 261 StPO auch nicht berücksichtigt werden durfte.


Entscheidung

683. BGH 5 StR 181/04 - Beschluss vom 9. Juni 2004 (LG Berlin)

Recht auf ein faires Verfahren bei Verfahrensverständigung und Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Rechtsirrtum des Gerichts hinsichtlich der Zulässigkeit der Verfahrensabsprache: Gesamtstrafenbildung; Hinweispflicht des Gerichts und Verbot, sich in einen nicht nachvollziehbaren Widerspruch zu den im Rahmen der Verständigung gegebenen Rechtsfolgenbewertung zu setzen; Kompensation zum Ausgleich von Verletzungen beider Rechte durch analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 55 StGB; § 354 Abs. 1 StPO analog

1. Ein Gericht ist nicht verpflichtet - im Gegenteil aus Rechtsgründen gehindert -, eine zugesagte sachlichrechtlich fehlerhafte nachträgliche Gesamtstrafbildung allein aufgrund der insoweit irrtümlichen Zusage vorzunehmen.

2. Nach Aufdeckung des Irrtums muss allerdings ein Hinweis an den Angeklagten erfolgen, damit dieser sich im Rahmen der weiteren Hauptverhandlung unter Berücksichtigung der nicht mehr einhaltbaren Zusage infolge einer insoweit "gescheiterten Absprache" umfassend sachgerecht verteidigen konnte (vgl. BGHSt 43, 195, 210; BGHR StPO vor § 1/faires Verfahren - Vereinbarung 13).

3. Ein Gericht darf sich bei seiner vorgenommenen Gesamtstrafbildung nicht in nicht nachzuvollziehender Weise in Widerspruch zu seinen eigenen im Rahmen der Verständigung gefundenen und bekanntgegebenen Rechtsfolgenbewertungen setzen (vgl. BGH NJW 2004, 1396, 1397 f., zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt).

4. Ein entsprechender - vgl. Leitsatz 3 - Verfahrensfehler gäbe grundsätzlich Anlass zur Aufhebung und Zu-

rückverweisung. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob sich eine derartige Entscheidung auf die Aufhebung der von dem Verfahrensfehler unmittelbar betroffenen Gesamtstrafe zu beschränken oder zur Eröffnung effektiver Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten in der neuen Hauptverhandlung weiterzugehen hätte, ob etwa gar zur Eröffnung anderweitiger Verteidigungsmöglichkeiten nach fehlgeschlagener Absprache - auf welche der Verteidiger freilich selbst nicht gedrungen hat - bis hin zur Hinterfragung der Verwertbarkeit des nach der ursprünglich gefundenen, dann fehlgeschlagenen Verständigung abgelegten Geständnisses eine vollständige Urteilsaufhebung geboten oder jedenfalls angezeigt wäre.

5. Zu einem Sonderfall der analogen Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO zur Kompensation von Verstößen gegen das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf Verfahrensbeschleunigung.


Entscheidung

688. BGH 5 StR 579/03 - Beschluss vom 9. Juni 2004 (LG München)

Steuerhinterziehung (Rechtsanwendung und Berechnungsdarstellung des Richters: Aufhebung auf die Sachrüge, Bedeutung eines Geständnisses; unechte Betriebsaufspaltung, steuerrechtliche Strohmannrechtsprechung); Recht auf faires Verfahren bei Verfahrensabsprachen (Öffentlichkeitsgrundsatz; Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Angeklagten durch den Druck des Gerichts zu einer Verfahrensabsprache; unerklärbares Auseinanderfallen der Strafunter- und Strafobergrenzen); Freiheit der Person (Missbrauch der Untersuchungshaft).

§ 370 AO; § 15 EStG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 5 EMRK; Art. 18 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG

1. Zwar sind mittlerweile die dem deutschen Strafprozess an sich fremden einverständlichen verfahrensbeendenden Absprachen Bestandteile des Strafverfahrens geworden; "deals" gehören zur täglichen Praxis der Strafgerichte. Sie sind indes nur dann hinnehmbar, wenn sie im Rahmen eines geordneten Strafverfahrens mit Einbeziehung aller Verfahrensbeteiligten unter Wahrung ihrer prozessualen Rechte bei hinreichender Beachtung des Öffentlichkeitsgrundsatzes erfolgen (vgl. BGHSt 43, 195 ff.; BGH NJW 2004, 1396, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).

2. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Wahrung der freien Willensentschließung des Angeklagten (BGHSt 43, 195, 204). Nach ständiger Rechtsprechung darf deshalb im Rahmen von Verständigungsgesprächen nicht mit einer überhöhten Strafe gedroht werden oder durch Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils der Angeklagte zu einem Geständnis gedrängt werden (BGHSt aaO). Entsprechend diesen Grundsätzen dürfen die vom Gericht ernsthaft aufgezeigten Strafgrenzen nicht so weit auseinander fallen, dass die Willensfreiheit des Angeklagten ungebührlich beeinträchtigt wird. Eine Differenz zwischen zwei Jahren Freiheitsstrafe mit Aussetzung zur Bewährung und sechs Jahren Freiheitsstrafe ist nicht mehr mit der strafmildernden Wirkung von Geständnis und Schadenswiedergutmachung im Rahmen schuldangemessenen Strafens zu erklären (vgl. BGH StV 2002, 637, 639). Ein solches Vorgehen kann nur noch als massives Druckmittel zur Erwirkung eines verfahrensverkürzenden Geständnisses verstanden werden; eine kaum nachvollziehbare Untersuchungshaftanordnung und -vollstreckung kann diesen Eindruck noch verstärken. Ein solches Verhalten ist rechtsstaatlich nicht hinnehmbar.

3. Die Rechtsanwendung zur Ausfüllung der strafrechtlichen Blankettnorm des § 370 Abs. 1 AO ist Aufgabe des Strafrichters. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat der Tatrichter im Blick auf die steuerrechtlichen Vorschriften den Sachverhalt so zu ermitteln und im Urteil darzustellen, dass deutlich wird, welches steuerlich erhebliche Verhalten im Rahmen der jeweiligen Abgabenart zu einer Steuerverkürzung oder zu einem ungerechtfertigtem Steuervorteil geführt hat. Die vom Gericht vorzunehmende Rechtsanwendung kann nicht dadurch ersetzt werden, dass auf Betriebs- oder Fahndungsprüfungsberichte und diesen zugrundeliegende steuerrechtliche Beurteilungen der Finanzverwaltung verwiesen oder zurückgegriffen wird (BGHR AO § 370 Abs. 1 Berechnungsdarstellung 5, 9).

4. Die Ermittlung und Darstellung des steuerlich relevanten Sachverhalts sowie die daraus sich ergebende steuerrechtliche Beurteilung kann auch nicht durch den Verweis auf ein Geständnis des Angeklagten ersetzt werden. Lediglich die Darstellung der Berechnung der hinterzogenen Steuern kann als Teil der Rechtsanwendung dann verkürzt und ergebnisbezogen erfolgen, wenn der Angeklagte geständig und zudem sachkundig genug ist, die steuerlichen Auswirkungen seines Verhaltens zu erkennen (BGHR AO § 370 Abs. 1 Berechnungsdarstellung 2, 4, 8 und BGH wistra 2001, 22). Fehlt in einem Urteil die Angabe der beweiserheblichen Tatsachen oder ist im Rahmen der Beweiswürdigung nicht dargelegt, wie der Tatrichter die Bemessungsgrundlagen selbst ermittelt hat, ist das Urteil lückenhaft und muss bereits auf die Sachrüge hin vom Revisionsgericht aufgehoben werden.


Entscheidung

643. BGH 3 StR 206/04 - Beschluss vom 1. Juli 2004 (LG Osnabrück)

Recht auf Verfahrensbeschleunigung; Strafzumessung; rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; neue Hauptverhandlung nach Aufhebung und Zurückverweisung; Verschlechterungsverbot.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 46 Abs. 2 StGB; § 358 Abs. 2 StPO

1. Wenn dem Täter wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung eine Kompensation zu gewähren ist, so hat der Tatrichter der gemilderten Strafe als Ausgangspunkt eine fiktiv zuzumessende Strafe zugrunde zu legen, die ohne Berücksichtigung der Verzögerung tat- und schuldangemessen wäre. Die Strafzumessung eines Urteils, das zumindest auch auf eine zuungunsten des Verurteilten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft aufgehobenen wurde, bindet den neuen Tatrichter jedoch

in keiner Weise. Daher ist auch die in dem ersten Urteil vorgenommene Strafzumessung kein Kriterium für die dem neuen Urteil zugrundezulegende fiktive Strafe; diese kann auch höher zugemessen werden als in dem aufgehobenen Urteil.

2. Die Verfahrensverlängerung, die dadurch entsteht, dass auf die Revision eines Verfahrensbeteiligten ein Urteil teilweise aufgehoben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wird, begründet regelmäßig keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 15; BVerfG NJW 2003, 2228). Etwas anderes mag gelten, wenn die Zurückverweisung Folge erheblicher, kaum verständlicher Rechtsfehler ist (vgl. etwa BGH, Beschl. vom 4. Juli 1997 - 2 StR 311/97).


Entscheidung

651. BGH 1 StR 166/04 - Beschluss vom 16. Juni 2004 (LG Nürnberg)

Richterliche Hinweispflicht (formenstrenge Anwendung auf die mögliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung; konkludenter Hinweis).

§ 66 StGB; § 265 Abs. 2 StPO

1. Die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung stellt mit ihrer in das Leben eines Angeklagten besonders tief eingreifenden Wirkung einen besonders gravierenden Eingriff dar. An die Hinweispflicht des Gerichts dürfen in einem solchen Falle keine zu geringen Anforderungen gestellt werden. Das Gesetz und ihm folgend die Rechtsprechung fordern in Fällen der vorliegenden Art im Hinblick auf die Bedeutung des Hinweises aus rechtsstaatlichen Gründen zu Recht die Einhaltung einer gewissen Formenstrenge (vgl. BGHR StPO § 265 II Hinweispflicht 6, m.w.N.). Wird auf die Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung weder in der Anklageschrift (vgl. hierzu BGH NStZ 2001, 162) noch im Eröffnungsbeschluss hingewiesen, muss der erforderliche Hinweis gemäß § 265 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung ergehen.

2. Zur (hier verneinten) Möglichkeit eines konkludenten Hinweises durch den Verlauf der Hauptverhandlung.


Entscheidung

657. BGH 1 StR 214/04 - Beschluss vom 16. Juni 2004 (LG Hechingen)

Ablehnung von Beweisanträgen wegen Prozessverschleppung (Begriff des Beweisantrages; unzulässige Verknüpfung mit der Strafzumessung; Hinwirkung der Verteidigung auf eine bestimmte Strafe; Feststellung der Sprachfähigkeiten des ausländischen Angeklagten; Verfahrensabsprachen).

Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO


Entscheidung

684. BGH 5 StR 203/04 - Beschluss vom 9. Juni 2004 (LG Braunschweig)

Erstreckung der Revision auf Mitangeklagte (Entbehrlichkeit einer Anhörung bei Schuldspruchberichtigung; rechtliches Gehör; faires Verfahren; Recht auf Verfahrensbeschleunigung); schwere Brandstiftung (minder schwerer Fall; verminderte Schuldfähigkeit; Strafrahmenverschiebung); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (sichere Feststellung einer mindestens verminderten Schuldfähigkeit).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 103 Abs. 1 GG; § 357 StPO; § 306a Abs. 3 StGB; § 21 StGB; § 49 Abs. 1 StGB

Zu den Voraussetzungen einer Erstreckung der Revision auf Mitangeklagte ohne vorherige Anhörung.


Entscheidung

660. BGH 1 StR 526/03 - Beschluss vom 30. Juni 2004 (LG Karlsruhe)

Strafverfolgungsverjährung (Alternativität der Unterbrechungsmöglichkeiten: Unterbrechung nur durch die erste der vorgenommenen Handlungen); analoge Anwendung des § 354 StPO.

§ 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 354 Abs. 1 StPO

1. Analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO bei Wegfall einer Einzelstrafe durch Reduktion der Gesamtstrafe in vollem Umfang der Einzelstrafe durch den BGH.

2. Die in § 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB vorgesehenen Unterbrechungsmöglichkeiten der Anordnung der Vernehmung und der Vernehmung selbst bilden eine Einheit, so dass sie nur alternativ durchgreifen. Die Verjährung wird nicht durch die Anordnung der Vernehmung und dann noch einmal durch die darauf beruhende Vernehmung selbst unterbrochen. Es unterbricht nur die erste der vorgenommenen Maßnahmen.


Entscheidung

687. BGH 5 StR 534/02 (alt: 5 StR 469/97 und 5 StR 456/99) - Urteil vom 22. April 2004 (LG Berlin)

Unzureichende Beweiswürdigung bei Mord; Freispruch durch das Revisionsgericht (Durchentscheidung nach der dritten Urteilsaufhebung; verletzungsbedingte Konfabulationsneigung).

§ 211 StGB; § 354 Abs. 1 StPO; § 261 StPO

Zu einem Einzelfall der Durchentscheidung des Revisionsgerichts auf Freispruch nach dreimaliger Urteilsaufhebung.


Entscheidung

655. BGH 1 StR 72/04 - Urteil vom 26. Mai 2004 (LG Aschaffenburg)

Darlegungsanforderungen bei einem Freispruch (möglicher Schluss auf den zugrunde gelegten Sachverhalt aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe); Beweiswürdigung (Widerspruchsfreiheit).

§ 267 StPO; § 261 StPO

Auch wenn in den Urteilsgründen ein ausdrücklich hervorgehobener Abschnitt fehlt, aus dem sich die für erwiesen erachteten Tatsachen ergeben, führt dies nicht automatisch zur Aufhebung eins Freispruches, soweit der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe hinreichend verdeutlicht, von welchem festgestellten Sachverhalt das Gericht ausgegangen ist.


Entscheidung

626. BGH 2 ARs 216/04 / 2 AR 124/04 - Beschluss vom 4. Juni 2004 (AG Bad Kissingen)

Bestimmung des zuständigen Gerichts.

§ 14 StPO

Die Bestimmung eines Gerichtsstands gemäß § 14 StPO muss unterbleiben, wenn sich die Zuständigkeit eines anderen - bisher am Streit nicht beteiligten - Gerichts ergibt (st. Rspr. BGHSt 26, 162, 164; 28, 351, 352; 31, 244, 255; BGH NStZ 2001, 110).