HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2003
4. Jahrgang
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II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

BGH 4 StR 406/02 - Beschluss vom 5. November 2002 (LG Paderborn)

Entziehung der Fahrerlaubnis; Ungeeignetheit (Betäubungsmittelkonsum; Transport von Betäubungsmitteln mit einen Kraftfahrzeug; allgemeine Handlungsfreiheit; Haschisch; Einsatz des Fahrzeuges zu Straftaten; Katalogtaten; Regelvermutung; Gesamtwürdigung; Zeitpunkt).

§ 69 StGB; Art. 2 Abs. 1 GG

1. Anders als bei der Begehung einer der in § 69 Abs. 2 StGB aufgeführten rechtswidrigen Taten begründet allein der Umstand, dass der Täter ein Kraftfahrzeug zur Begehung von Straftaten benutzt hat, nicht bereits eine Regelvermutung für seine charakterliche Unzuverlässigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen; deshalb verlangt die Rechtsprechung in diesen Fällen regelmäßig eine nähere Begründung der Entscheidung aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung (st. Rspr.; vgl. BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung 5 und 8).

2. Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Auffassung vertreten, dass bei der Durchführung von Betäubungsmittelgeschäften unter Benutzung eines Kraftfahrzeugs die charakterliche Zuverlässigkeit "in aller Regel" verneint werden müsse und "nur unter ganz besonderen Umständen ausnahmsweise etwas anderes gelten" könne (BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung 3; BGH NStZ 1992, 586; BGH NStZ 2000, 26), bestehen gegen diese Rechtsprechung grundlegende Bedenken (BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung 6). Der Senat teilt die bereits erhobenen Bedenken, zieht darüber hinaus die Rechtsprechung aber allgemein in Frage, soweit überhaupt unter Benutzung von Kraftfahrzeugen begangene Anlasstaten die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigen sollen, die keinerlei spezifischen Verkehrssicherheitsinteressen berühren.

3. Die Maßregel nach § 69 StGB dient nicht der allgemeinen Verbrechensbekämpfung; vielmehr setzt der nach dieser Vorschrift erforderliche Zusammenhang zwischen Straftat und dem Führen eines Kraftfahrzeugs voraus, dass durch das Verhalten des Täters eine erhöhte Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer eintritt. Die strafrechtliche Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB setzt bei Nicht-Katalogtaten voraus, dass konkrete Anhaltspunkte für die Gefahr, der Täter werde seine kriminellen Ziele über die im Verkehr gebotene Sorgfalt und Rücksichtnahme stellen, gegeben sind.

4. Ein Erfahrungssatz, dass jeder Täter, der Betäubungsmittel mit einem Kraftfahrzeug transportiert, deshalb zu besonders riskanter Fahrweise entschlossen ist, um sich im Zweifel auch um den Preis der Gefährdung anderer durch Flucht seiner Feststellung zu entziehen, besteht im allgemeinen nicht.

5. Die Ungeeignetheit im Sinne des § 69 StGB muss noch im Zeitpunkt des Urteils gegeben sein (st. Rspr.; BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung 4 m.w.N.).


Entscheidung

BGH 5 StR 334/02 - Urteil vom 28. November 2002 (LG Dresden)

Fehlerhaft begründete Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung (erhebliche Straftaten; Symptomtaten; hohe Rückfallgeschwindigkeit; Vielzahl von Einzeltaten).

§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB

1. Auch vorsätzliche Straftaten, die an sich in den Bereich mittlerer Kriminalität fallen, können bei einem genügenden Schweregrad als Grundlage der Sicherungsverwahrung ausreichen. Als erheblich erfasst werden alle Taten, die geeignet sind, den Rechtsfrieden in empfindlicher oder besonders schwerwiegender Weise zu stören (vgl. BGHSt 24, 153, 154; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Erheblichkeit 3).

2. Ein gewisser Anhaltspunkt für die Erheblichkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass § 66 StGB als formelle Voraussetzung eine Vorverurteilung des Täters zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr erfordert, wenngleich sich nicht generell annehmen lässt, dass bei einer solchen Verurteilung eine Tat von erheblichem Gewicht vorliegt. Die Erheblichkeit kann sich aber auch aus einer Vielzahl von Einzeltaten ergeben, wobei auch eine besonders hohe Rückfallgeschwindigkeit von Bedeutung sein kann (vgl. BGHSt 24, 153, 155; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Erheblichkeit 2).


Entscheidung

BGH 4 StR 332/02 - Beschluss vom 24. Oktober 2002 (LG Magdeburg)

Nachträgliche Gesamtstrafenbildung (teilweise Zäsurwirkung eines früheren Urteils; Anwendungspflicht).

§ 55 StGB; § 460 StPO

1. Nach BGHSt 32, 190 ff. ist die Bildung einer Gesamtstrafe nach § 55 StGB dann ausgeschlossen, wenn der Richter, der früher entschieden hat, eine Strafe, die in einer noch früheren Verurteilung ausgesprochen worden ist, in eine Gesamtstrafenbildung hätte einbeziehen können. In diesem Fall geht von der ersten Vorverurteilung eine Zäsurwirkung aus, die zur Folge hat, dass die Strafe aus der späteren Vorverurteilung und die Strafe, die im anhängigen Verfahren für eine Tat ausgesprochen wird, die zwischen den Vorverurteilungen begangen worden ist, nicht mehr Gegenstand einer Gesamtstrafenbildung sein kann.

2. Eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung im anhängigen Verfahren scheidet wegen der sog. Zäsurwirkung des ersten Urteils mithin nur dann aus, wenn die Taten aus der zweiten Verurteilung zeitlich vor der ersten Verurteilung begangen worden sind. Ist dies nur zum Teil der Fall, reicht die Zäsurwirkung des ersten Urteils auch nur soweit, als dies der Fall ist.

3. Nach dem Grundgedanken des § 55 StGB, dass der Verurteilte so gestellt werden soll, wie er bei gleichzeitiger Aburteilung aller vor dem zweiten Urteil begangenen Taten stünde (st. Rspr., BGHSt 7, 180; 181; 32, 190, 193), aber auch aus verfahrensökonomischen Gründen zur Ersparung einer weiteren Gesamtstrafenbildung im Verfahren nach § 460 StPO ist es geboten, diese Möglichkeit der Gesamtstrafenbildung auch auf die (noch nicht erledigten) Strafen aus dem ersten Urteil zu erstrecken.


Entscheidung

BGH 1 StR 382/02 - Beschluss vom 6. November 2002 (LG Bamberg)

Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (Hang; sichere Feststellung).

§ 64 StGB

Von einem Hang ist auszugehen, wenn eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung besteht, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad physischer Abhängigkeit erreicht haben muss (vgl. nur BGHSt StGB § 64 Abs. 1 Hang 5). "Im Übermaß" bedeutet, dass der Täter berauschende Mittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt wird. Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof auch die unterbliebene Erörterung einer Unterbringung bei einem Täter gebilligt, bei dem zwar "eine Tendenz zum Betäubungsmittelmissbrauch ... jedoch keine Depravation und erhebliche Persönlichkeitsstörung" vorlag (BGHR StGB § 64 Nichtanordnung 1). Eine Unterbringungsanordnung gemäß § 64 StGB kommt nur in Betracht, wenn das Vorliegen eines Hangs sicher festgestellt ist. Kommt das Gericht jedoch lediglich zu dem Ergebnis, ein Hang sei als Grundlage der Tat nicht auszuschließen, so ist für eine Unterbringung kein Raum.


Entscheidung

BGH 5 StR 355/02 - Beschluss vom 27. November 2002 (LG Berlin)

Gesamtstrafenbildung nach Maßgabe der Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten Verhandlung (Erledigung; Härteausgleich).

§ 55 StGB

Nach Aufhebung einer Gesamtstrafe hat in der erneuten Verhandlung die Gesamtstrafbildung gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB nach Maßgabe der Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten Verhandlung zu erfolgen (BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Erledigung 2 m. w. N.).