HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2001
2. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 1 StR 42/01 - Urteil v. 30. Mai 2001 (LG Augsburg)

BGHSt; Grundsatz des fairen Verfahrens; Tatprovokation; Abgrenzung zur voraussetzungslosen bloßen Nachfrage; Verdeckter Ermittler; Vertrauensperson (VP); Verhältnismäßigkeit (deliktsspezifisches Verhältnis) zwischen provozierter Tat und dem individuell bestehendem Tatverdacht; Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln; Zurechenbarkeit; Strafzumessung

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 1 GG; § 152 StPO; § 29a BtMG; § 46 StGB

1. Der Grundsatz des fairen Verfahrens (gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) kann verletzt sein, wenn das im Rahmen einer Tatprovokation durch eine von der Polizei geführte Vertrauensperson (VP) angesonnene Drogengeschäft nicht mehr in einem angemessenen, deliktsspezifischen Verhältnis zu dem jeweils individuell gegen den Provozierten bestehenden Tatverdachts steht (Fortführung von BGHSt 45, 321). (BGHSt) Das schließt eine bloße Nachfrage, ob der Tatverdächtige sich auf ein erheblich unrechtsgesteigertes Drogengeschäft einläßt, oder ein schlichtes Mitwirken der VP an einem solchermaßen gesteigerten Unrecht nicht aus, wenn dadurch die Schwelle zur Provokation nicht überschritten wird. (Bearbeiter)

2. Je stärker der Verdacht, desto nachhaltiger wird auch die Stimulierung zur Tat sein dürfen, bevor die Schwelle der Tatprovokation erreicht wird. Die Qualität des Tatverdachts, der sich im Verlaufe des Einsatzes der VP hinsichtlich Intensität und Unrechtscharakter auch verändern kann, begrenzt den Unrechtsgehalt derjenigen Tat, zu der der Verdächtige in zulässiger Weise provoziert werden darf. (Bearbeiter)

3. Es darf nicht Aufgabe einer dem Fairneßgrundsatz verpflichteten staatlichen Strafrechtspflege sein, einen Unverdächtigen durch Provokation in die Täterschaft zu treiben oder einen zwar Tatverdächtigen, der die ihm angesonnene Tat aber ablehnt, zu einer solchen zu provozieren oder zur Begehung einer im Unrechtsgehalt gegenüber der Tatverdachtslage erheblich gesteigerten Tat zu verleiten. (Bearbeiter)

4. Der Senat läßt offen, ob die Revision in einem solchen Fall nur mit einer Verfahrensrüge oder auch mit der Sachrüge geltend machen kann, es liege ein Konventionsverstoß vor. (Bearbeiter)

5. Bei der Beurteilung der Unrechtsqualität des gegen den Provozierten bestehenden Tatverdachts können neben den tatsächlichen Umständen, die den Anfangsverdacht begründen, auch die deliktsspezifischen Gegebenheiten mit in Betracht gezogen werden (sog. Einheitlichkeit des Drogenmarktes). (Bearbeiter)

6. In allen anderen Fällen erweist sich die Tatveranlassung durch eine polizeilich geführte VP als Umstand, der bei der konkreten Strafzumessung zugunsten des Täters berücksichtigt werden kann. (Bearbeiter)

7. Grundsätze des Bundesgerichtshofes zur rechtlichen Behandlung der Tatprovokation (Bestätigung von BGH 1 StR 221/99 = BGHSt 45, 321). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 1 StR 116/01 - Urteil v. 30. Mai 2001 (LG Ulm)

Grundsätze des BGH zur Tatprovokation (Begriff; Ausnutzung beeinträchtigter Steuerungsfähigkeit); Rechtsstaat; Zurechenbarkeit; Quantensprung; Depravation; Verdeckter Ermittler; Strafzumessung (Durch Unfall herabgesetzte Kritikfähigkeit)

Art. 20 Abs. 3 GG; § 21 StGB; § 110a StPO; § 46 StGB

1. Eine Tatprovokation liegt nicht schon dann vor, wenn ein Dritter ohne sonstige Einwirkung lediglich darauf angesprochen wird, ob dieser Betäubungsmittel beschaffen könne. Ebenso liegt keine Provokation vor, wenn nur die offen erkennbare Bereitschaft zur Begehung oder Fortsetzung von Straftaten ausgenutzt wird. Dagegen liegt eine Tatprovokation vor, wenn über das bloße "Mitmachen" hinaus in die Richtung auf eine Weckung der Tatbereitschaft oder eine Intensivierung der Tatplanung mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter eingewirkt wird (BGHSt 45, 321, 338).

2. Erreicht die Intensität der Einwirkung durch den polizeilichen Lockspitzel das Maß einer Tatprovokation, so ist diese nur zulässig, wenn die Vertrauensperson bzw. ein Verdeckter Ermittler gegen eine Person eingesetzt wird, die in einem den § 152 Abs. 2, § 160 StPO vergleichbaren Grad verdächtig ist, an einer bereits begangenen Straftat beteiligt gewesen oder zu einer zukünftigen Straftat bereit zu sein; hierfür müssen also zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Einsatz ursprünglich (bis zur Tatprovokation) der präventiven Gefahrenabwehr diente oder von Anfang an repressiven Charakter hatte. Die Rechtmäßigkeit des Lockspitzeleinsatzes ist selbst im Falle einer "Gemengelage" einheitlich an den Regelungen der StPO zu messen (BGHSt 45, 321, 337).

3. Zwischen der Stärke des bestehenden Tatverdachts und dem Maß der für die Annahme einer Tatprovokation erheblichen Einwirkung eines polizeilichen Lockspitzels kann eine Wechselwirkung geben. Je stärker der Verdacht, desto nachhaltiger wird auch die Stimulierung zur Tat sein dürfen, bevor die Schwelle der Tatprovokation erreicht wird.


Entscheidung

BGH 3 StR 29/01 - Urteil v. 27. Juni 2001 (LG Bückeburg)

BGHSt; Anwesenheit des Beistands in der Hauptverhandlung (Einschränkung analog § 247 StPO); Wahrheitsermittlung; Aufklärungspflicht; Angeklagter; Ehe (Beistand nach § 149 StPO); Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden; Verwirkung des Rügerechts; Verteidiger

§ 149 StPO; § 247 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; Art. 6 GG; § 238 StPO; § 138a StPO

1. Die Anwesenheit des Beistands in der Hauptverhandlung darf zeitweise eingeschränkt werden, wenn dies nach dem Rechtsgedanken des § 247 Satz 1 StPO aus Gründen, die in der Person des Beistands liegen, zur Wahrheitsermittlung geboten ist. (BGHSt)

2. Das Institut des Beistands nach § 149 Abs. 1 StPO hat seine Wurzel in dem aus der Ehe entspringenden Vertrauensverhältnis und der gegenseitigen Fürsorge der Ehepartner. Der Beistand unterstützt und berät den Angeklagten in der Hauptverhandlung als dessen natürlicher und persönlicher Vertrauter und Fürsprecher. In der Hauptverhandlung hat er einen Rechtsanspruch auf antragsgemäße alsbaldige Zulassung (vgl. BGHSt 4, 205, 206). Wegen seines Rechts auf Stellungnahme, Anhörung und Beratung steht ihm nach zutreffender Ansicht auch das Fragerecht nach § 240 Abs. 2 StPO zu (vgl. BGHSt 44, 82, 86). (Bearbeiter)

3. Dem Beistand müssen die Hauptverhandlungstermine so rechtzeitig mitgeteilt werden, daß er das Anwesenheitsrecht ausüben kann (offengelassen in BGHSt 44, 82, 84 f.). In Rechtsprechung und Literatur besteht daher Einigkeit darüber, daß der Beistand das Recht hat, nach Möglichkeit an der gesamten Hauptverhandlung teilzunehmen, obwohl § 149 StPO ihm ein solches Anwesenheitsrecht nicht ausdrücklich einräumt (vgl. BGHSt 4, 205, 206; BGHSt 44, 82, 86). (Bearbeiter)

4. Weder aus dem Wortlaut des § 149 StPO noch aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift ergibt sich ein Recht des Beistands, an der gesamten Hauptverhandlung teilzunehmen. Die Anwesenheit des Beistands kann vielmehr wegen vorrangiger strafprozessualer Grundsätze zeitweise eingeschränkt werden. Einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage bedarf es für den zeitweiligen Ausschluß des Beistands nicht. Bei Konflikten mit anderen Rechtspositionen und Interessen hat vielmehr die Rechtsprechung den Umfang des Anwesenheitsrechts zu konkretisieren. (Bearbeiter)

5. Der Beistand ist ebenso wie der Angeklagte entsprechend § 247 Satz 1 und 4 StPO sofort nach der Vernehmung wieder zur Hauptverhandlung zuzulassen und über den Inhalt der Aussage zu unterrichten, damit er seine Rechte ausüben kann. (Bearbeiter)

6. Die §§ 138 a, 138 b StPO regeln abschließend und nur für Verteidiger (nicht auch entsprechend für Beistände) die Ausschließungsgründe. (Bearbeiter)

7. Der Senat neigt der Rechtsmeinung zu, daß der Vorsitzende die Entfernung des Beistands aus dem Sitzungssaal anordnen kann. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 1 StR 198/01 - Urteil vom 28. Juni 2001 (LG Augsburg)

BGHR; Beschlagnahmeverbot; Verwertungsverbot; Recht auf konkrete und angemessene Verteidigung; Wiederaufnahmeverfahren; Zeugenbeistand; Beweisantrag (Beweisbehauptung; bestimmte Tatsachenbehauptung / schlagwortartige Verkürzung; Konnexität); Aufklärungsrüge; Aufklärungspflicht; Verwertungsverbot bei Verletzung des Richtervorbehalts; Schriftliche Mitteilung; Widerspruchslösung

§ 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO; Art. 6 EMRK; § 364a StPO; § 364b StPO; § 244 StPO; § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO; § 148 StPO

1. Das Beschlagnahmeverbot des § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO gilt auch, soweit der Verteidiger im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens als Zeugenbeistand für den Verurteilten tätig ist. (BGHR)

2. Hat das zuständige Gericht aufgrund eigenverantwortlicher Prüfung die Beschlagnahme abgelehnt, ist es der Staatsanwaltschaft verwehrt, anstelle des dafür allein zuständigen Gerichts die Beschlagnahme anzuordnen. Das ist mit der grundrechtssichernden Schutzfunktion des Richtervorbehalts (BVerfG NJW 2001, 1121) unvereinbar. Es liegt nahe, daß in einem solchen Fall ein Verwertungsverbot bereits deshalb entsteht, weil die Beschlagnahme der Schreiben unter Verstoß gegen den Richtervorbehalt erfolgte. (Bearbeiter)

3. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob das Kommunikationsverhältnis zwischen dem Verteidiger und seinem Mandanten gemäß § 148 StPO ohne Einschränkungen geschützt ist oder ob eine Beschlagnahme von Verteidigungsunterlagen beim Verteidiger jedenfalls bei qualifiziertem Teilnahmeverdacht zulässig ist. Liegt ein solcher qualifizierter Teilnahmeverdacht (§ 97 Abs. 2 Satz 3 StPO) nicht vor, so steht der Verlesung der Verteidigungsunterlagen gegen den Widerspruch des Angeklagten nach jeder Auffassung ein Verwertungsverbot entgegen. Daß sich ein solcher Verdacht (erst) aus den beschlagnahmten Schreiben selbst ergeben habe, könnte die ursprünglich unzulässige Beschlagnahme nicht nachträglich zulässig machen. (Bearbeiter)

4. Da § 137 Abs. 1 StPO bestimmt, daß sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen kann, umfaßt die von § 148 StPO geschützte Verteidigerstellung auch die Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 1 StR 290/01 - Beschluß v. 2. August 2001 (LG Konstanz)

Wirksamer Rechtsmittelverzicht (Keine unzulässige Willensbeeinflußung durch Absprache)

§ 302 StPO

Es kann dahinstehen, ob eine Rechtsmittelverzichtserklärung auch Teil einer das Verfahren beendenden Absprache zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung war (vgl. BGHSt 43, 195). Dieser Umstand würde die Wirksamkeit des erklärten Rechtsmittelverzichts nicht berühren, weil der Angeklagte ungeachtet einer Verletzung der für die Führung von Verhandlungsgesprächen aufgestellten Vorgaben bei der Abgabe der Verzichtserklärung seine Interessen unbeeinflußt und sachgerecht wahrgenommen haben kann. Entscheidend kann nur sein, ob eine unzulässige Beeinflussung der freien Willensbildung vorliegt (Senat, NStZ 2000, 386, 387; BGH, Beschluß vom 11. Juni 2001 - 2 StR 223/01 -).


Entscheidung

BGH 2 StR 247/01 - Beschluß v. 4. Juli 2001 (LG Gießen)

Unzulässige Revision nach Rechtsmittelverzicht (Trotz Erklärung auf Grund unzulässiger Absprache; Wirksamkeit trotz fehlender Belehrung; Willensbeeinflussung)

§ 302 StPO

1. Auch eine unzulässige Absprache über einen Rechtsmittelverzicht berührt die Wirksamkeit eines daraufhin erklärten Verzichts grundsätzlich nicht (vgl. BGH NStZ 1997, 611; BGH NStZ 2000, 386; Senatsbeschl. vom 25. Oktober 2000 - 2 StR 403/00), soweit keine Anhaltspunkte für eine unzulässige Willensbeeinflussung des Angeklagten gegeben sind.

2. Der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist auch dann wirksam. wenn eine Rechtsmittelbelehrung unterblieben war (vgl. u.a. BGH NStZ 1997, 611 jeweils m.w.N.).


Entscheidung

BGH 2 StR 136/01 - Urteil v. 6. Juni 2001 (LG Koblenz)

Antrag auf Durchführung eines Sicherungsverfahrens; Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; Gemeinschädliche Sachbeschädigung; Wahrnehmung berechtigter Interessen; Rechtfertigungsgrund

§ 414 Abs. 2 StPO; § 63 StGB; § 62 StGB; § 304 StGB; § 193 StGB

1. Der Antrag auf Durchführung des Sicherungsverfahrens kann im Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft noch im Beschwerdeverfahren nach Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens gestellt werden. (BGHSt)

2. Die Zulässigkeit der Maßregel darf nicht nach ihrem Verhältnis zu jedem einzelnen der in § 62 StGB bezeichneten Elemente beurteilt werden. Vielmehr sind alle Merkmale insgesamt zu würdigen und zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen (BGHSt 24, 134, 135). Da die Unterbringung nach § 63 StGB ihrem Zweck nach auf die Verhinderung künftiger Taten abzielt, wird bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung regelmäßig der Bedeutung der in Zukunft zu erwartenden Rechtsverletzungen besonderes Gewicht zukommen. Die Anordnung der Maßregel kann deshalb auch dann zulässig sein, wenn die bisherigen Taten für sich betrachtet weniger gewichtig erscheinen, in Zukunft aber Taten von erheblicher Schwere zu erwarten sind (BGHSt 24, 134, 135). Daß die festgestellten Anlaßtaten die Erheblichkeitsschwelle nicht überschreiten, berührt somit weder das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen nach § 63 StGB, noch stellt es - für sich allein betrachtet - die Verhältnismäßigkeit der Unterbringung in Frage. (Bearbeiter)

3. Der Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB setzt voraus, daß bei Abwägung der einander widerstreitenden Interessen der Beteiligten (BGHSt 18, 182, 184) sich die Ehrverletzung nach den konkreten Umständen als angemessenes Mittel der Interessenwahrnehmung darstellt. Hierzu ist eine umfassende Interessenabwägung erforderlich. (Bearbeiter)

4. Der Tatbestand der gemeinschädlichen Sachbeschädigung nach § 304 Abs. 1 StGB setzt voraus, das die Beschädigung einer dem öffentlichen Nutzen dienenden Sache auch deren dem öffentlichen Nutzen dienende Funktion beeinträchtigt. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 550/00 - Urteil v. 12. Juli 2001 (LG Magdeburg)

BGHR; Hinzuziehen eines Ergänzungsrichters (Ergänzungsschöffe) erst nach Beginn der Hauptverhandlung; Vorschriftswidrige Gerichtsbesetzung; Präklusion; Besetzungseinwand; Treuhand Liegenschaftsgesellschaft mgH (TLG); Sonstige Stelle; Amtsträger (Privatrechtliche Personen); Bestechlichkeit; Anwesenheitspflicht; Rügepflicht (Entbehrlichkeit); Erkennendes Gericht; Unzulässigkeit der Verfahrensrüge

§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB; § 332 Abs. 1, 3 a. F. StGB; § 222 b Abs. 1 StPO; § 226 StPO; § 338 Nr. 1 StPO; § 192 Abs. 2, 3 GVG; § 332 StGB; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Wird ein Ergänzungsrichter oder -schöffe erst nach Beginn der Hauptverhandlung hinzugezogen, so ist das Gericht vorschriftswidrig besetzt. Die Revision kann aber hierauf nur gestützt werden, wenn der Einwand nach § 222 b Abs. 1 StPO rechtzeitig erhoben worden ist. (BGHR)

2. Die Treuhand Liegenschaftsgesellschaft mgH (TLG) ist eine "sonstige Stelle" im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB. (BGHR)

3. Die Anwesenheitspflicht des § 226 StPO ist bereits dann verletzt, wenn der Ergänzungsschöffe, der später in das Quorum eintritt und damit zum erkennenden Richter wird, auch für nur einen kleinen Teil der Hauptverhandlung fehlt. Die Verletzung des § 226 StPO eröffnet auch, soweit ein Mitglied des erkennenden Gerichts betroffen ist, (ausschließlich) den absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 1 StPO, da diese Bestimmung insoweit gegenüber § 338 Nr. 5 StPO die speziellere Regelung darstellt (BGHSt 44, 361, 365). (Bearbeiter)

4. Die Rügepflicht des § 222 b Abs. 1 StPO knüpft daran an, daß das Gericht (nicht: das erkennende Gericht) vorschriftswidrig besetzt ist. Es entspricht demgemäß auch allgemeiner Auffassung, daß der Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung nach § 222 b Abs. 1 Satz 1 StPO soweit Ergänzungsrichter und Ergänzungsschöffen betroffen sind, ebenfalls innerhalb der dort bezeichneten Frist und nicht etwa erst im Zeitpunkt ihres Eintritts zu erheben ist. (Bearbeiter)

5. Die Erhebung einer Besetzungsrüge kann ausnahmsweise entbehrlich sein. Mängel in der Person eines mitwirkenden Richters oder Schöffen werden von der Rügepräklusion nicht erfaßt. Eine Ausnahme kommt jedoch nicht in Betracht, wenn der Mangel nicht in der Person begründet, objektiv erkennbar und seine Rüge zumutbar war. (Bearbeiter)

6. Eine juristische Person des Privatrechts als "sonstige Stelle" den Behörden gleichzustellen, wenn bei ihr Merkmale vorhanden sind, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen. Insbesondere ist eine solche Gleichstellung dann geboten, wenn die als juristische Personen des Privatrechts organisierte Einrichtungen und Unternehmen der öffentlichen Hand bei ihrer Tätigkeit öffentliche Aufgaben wahrnehmen und dabei derart staatlicher Steuerung unterliegen, daß sie bei der gebotenen Gesamtbewertung (vgl. BGHSt 45, 16, 19) der sie kennzeichnenden Merkmale als "verlängerter Arm" des Staates erscheinen (vgl. BGHSt 43, 370, 376 f.; 45, 16, 19).

7. Der Gesichtspunkt der Beteiligung einer öffentlichen Körperschaft reicht für sich allein (noch) nicht aus, eine privatrechtlich organisierte Gesellschaft mit einer "sonstigen Stelle" im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB gleichzustellen (vgl. BGHSt 38, 199, 203; 45, 16, 20). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 1 StR 190/01 - Urteil v. 12. Juni 2001 (LG Traunstein)

Sexueller Mißbrauch eines Kindes; Vergewaltigung; Zeugenaussage; Beweiswürdigung; Überzeugungsbildung; Glaubwürdigkeitsbegutachtung und Sachverständigengutachten; Aussagegenese; Sachbeweis (stützende objektive Umstände); Verfahrensbeschränkung und Zustimmung der umfassend zugelassenen Nebenklage; Zulässigkeit der Revision der Nebenklage; Irreführungsversuch

§ 176 StGB; § 177 StGB; § 261 StPO; § 154a StPO; § 397a Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Eine Verfahrensbeschränkung nach § 154a StPO vor der Zulassung der Nebenklage entfällt mit der uneingeschränkt erfolgten Zulassung gemäß § 397a Abs. 2 Satz 2 StPO wieder. Danach ist sie nur mit ausdrücklich und klar erteilter Zustimmung der Nebenklage wirksam (vgl. BGHR StPO § 400 Abs. 1 Satz 1 Zulässigkeit 1).

2. Behauptet eine Zeugin (die Nebenklägerin), zwischen ihrem 13. und 19. Lebensjahr vielfach sexuell mißbraucht worden zu sein, sind derartige Behauptungen, zumal nach weiteren Jahren, zu überprüfen, kann schon wegen dem naheliegend immer wieder ähnlichen Ablauf des eigentlichen Tatgeschehens nicht für jeden einzelnen Vorgang eine zeitlich exakte und detailreiche Schilderung erwartet werden. Ebensowenig kann erwartet werden, daß jedes als solches erinnerliche Detail auch einem zeitlich exakt fixierten Vorgang zugeordnet werden kann (vgl. nur BGHSt 40, 44, 46). Mögen solche Angaben auch nicht immer ohne weiteres hinlänglich zu konkretisieren sein (vgl. BGHSt 42, 107 ff.), so sind sie aber nicht schon allein wegen solcher Ungenauigkeiten falsch.

3. Ein Versuch, das Gericht absichtlich in die Irre zu führen, kann die Annahme nahe legen, nach Art und Tendenz vergleichbare Angaben des selben Zeugen dienten nur dem selben Zweck. Eine teilweise nur ungenaue Schilderung langjährigen sexuellen Mißbrauchs kann im Rahmen der Gesamtbewertung einer Aussage nicht mit ausgeschmückten Lügen - z.B. über eine Geburtstagsfeier, die in Wahrheit nicht stattgefunden hat - gleichgesetzt werden.

4. Eine abstrakt-theoretische gedankliche Möglichkeit ohne realen Anhaltspunkt kann im Rahmen der Beweiswürdigung kein Gewicht gewinnen.

5. Der Tatrichter ist nicht gehalten, einem Sachverständigen in seiner Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Zeugin zu folgen. Kommt er aber zu einem anderen Ergebnis, muß er sich konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen, daß er über das bessere Fachwissen verfügt, nachdem er zuvor glaubte, sachverständiger Beratung zu bedürfen (zuletzt ebenso BGH NStZ 2000, 550, 551 m.w.Nachw.). Anders wäre es nur dann, wenn sich schon auf Grund von Feststellungen, die offensichtlich auch ohne sachverständige Beratung getroffen werden konnten, erwiesen hätte, daß die vom Sachverständigen überprüften Angaben falsch sind.


Entscheidung

BGH 3 StR 179/01 - Urteil v. 11. Juli 2001 (LG Duisburg)

BGHR; Recht des Nebenklägers auf Erwiderung; Verfahrensrechtliches Gewicht; Beruhen; Letztes Wort des Angeklagten; Grausam; Mord

§ 397 Abs. 1 Satz 3 StPO; § 258 Abs. 2 StPO; § 337 Abs. 1 StPO; § 211 StGB

1. Dem Recht des Nebenklägers auf Erwiderung kommt verfahrensrechtlich nicht dasselbe Gewicht zu wie dem letzten Wort des Angeklagten. (BGHR)

2. Auch dem Nebenkläger steht nach einhelliger Ansicht gemäß § 397 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 258 Abs. 2 2. Halbs. StPO das Recht auf Erwiderung zu (BGHSt 28, 272, 274). Die Verweigerung dieses Rechts begründet aber nicht stets und ausnahmslos die Revision, sondern nur dann, wenn und soweit das Urteil auf dem Fehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 3 StR 136/01 - Urteil v. 27. Juni 2001 (LG Düsseldorf)

Beweiswürdigung; Wahlgegenüberstellung; Anwendungsbereich des Zweifelsgrundsatzes (Indiztatsachen); Überzeugungsbildung

§ 261 StPO; § 58 StPO

Der Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag (vgl. BVerfG MDR 1975, 468, 469; BGHR StPO § 261 Einlassung 4). Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anzuwenden. Er gilt jedenfalls nicht für entlastende Indiztatsachen, aus denen lediglich ein Schluß auf eine unmittelbar entscheidungsrelevante Tatsache gezogen werden kann (BGHSt 25, 285, 286 f.; 36, 286, 289 ff.; a. A. in die Entscheidung nicht tragenden Ausführungen: BGH NJW 1989, 1043, 1044). Kommt das Gericht bezüglich einer derartigen Indiztatsache zu einem non liquet, hat dies somit nicht zur Folge, daß sie zugunsten des Angeklagten als bewiesen anzusehen wäre, vielmehr ist sie mit der ihr zukommenden Ungewißheit in die Gesamtwürdigung des für die unmittelbar entscheidungserhebliche Tatsache gewonnenen Beweisergebnisses einzustellen (BVerfG aaO; BGH NJW 1983, 1865).


Entscheidung

BGH 3 StR 211/01 - Beschluß v. 18. Juli 2001 (LG Itzehoe)

Aufklärungspflicht (keine Bindung an die Ablehnungsgründe des § 244 StPO); Abgrenzung von Beweisanregung und Beweisantrag bei Wiederholungsanträgen (Neue Beweistatsachen); Beweisthema

§ 244 Abs. 2 StPO

Zielt ein Antrag im Ergebnis lediglich auf die Wiederholung einer Beweiserhebung, so liegt kein echter Beweisantrag sondern lediglich eine Beweisanregung vor (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 16 und 32).


Entscheidung

BGH 2 StR 194/01 - Beschluß v. 6. Juni 2001 (LG Frankfurt/Main)

Vorschriftswidrige Abwesenheit des Angeklagten; Anwesenheitsrecht des Angeklagten; Wesentlicher Teil der Hauptverhandlung; Eigenmächtiges Fernbleiben

§ 338 Nr. 5 StPO; § 230 StPO; § 268 StPO

1. Die Verlesung der Urteilsformel nach § 268 StPO stellt einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung dar (vgl. BGHSt 16, 178, 180).

2. Eine unterbrochene Hauptverhandlung darf nur dann ohne den Angeklagten fortgesetzt werden, wenn dieser ihr eigenmächtig ferngeblieben ist, d.h. ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt hat (BGHSt 37, 249, 251; 46, 81 ff.). Eigenmächtiges Handeln liegt unter anderem dann nicht vor, wenn der Angeklagte sich über den Zeitpunkt des Fortsetzungstermins geirrt hat (BGH StV 1981, 393, 394). Dabei obliegt es nicht dem Angeklagten, glaubhaft zu machen, daß sein Ausbleiben nicht auf Eigenmächtigkeit beruht, diese ist ihm vielmehr nachzuweisen (BGHSt 10, 304, 305; 16, 178, 180). Es kommt auch nicht darauf an, ob das Gericht Grund zur Annahme hatte, der Angeklagte habe den Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung vorsätzlich nicht wahrgenommen, sondern allein darauf, ob eine solche Eigenmächtigkeit im Sinne von § 231 Abs. 2 StPO tatsächlich vorlag (BGH StV 1981, 393, 394). Das Revisionsgericht prüft dabei selbständig - gegebenenfalls im Wege des Freibeweises - nach, ob die Eigenmächtigkeit auch noch im Zeitpunkt des Revisionsverfahrens nachgewiesen ist, ohne an die Feststellungen des Tatrichters gebunden zu sein (BGH NStZ 1999, 418).