HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2001
2. Jahrgang
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II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

BGH 1 StR 420/00 - Beschluß v. 10. Oktober 2000 (LG Heilbronn)

Sexueller Mißbrauch von Kindern; Erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit; Schwere Persönlichkeitsstörung bei Pädophilie; Überzeugungsbildung (Auseinandersetzung mit und Darstellung von Sachverständigengutachten); Rüge der Verletzung der Vorschriften über die Mitteilung der Gerichtsbesetzung; Voraussetzungen für eine schwere andere seelische Abartigkeit

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 176 StGB; § 72 StPO; § 261 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; §§ 220a, 338 Nr. 1 StPO

1. Die Rüge der Verletzung der Vorschriften über die Mitteilung der Gerichtsbesetzung (§§ 220a, 338 Nr. 1 StPO) setzt für ihre Zulässigkeit die Darlegung der unrichtigen Besetzung des Gerichts voraus. Der Vortrag, das Gericht habe die Mitteilung einer Änderung der Besetzung unterlassen, genügt nicht.

2. Nicht jedes abweichende Sexualverhalten in Form einer "Pädophilie" ist ohne weiteres einer schweren Persönlichkeitsstörung gleichzusetzen, die als Merkmal des § 20 StGB einer schweren anderen seelischen Abartigkeit zuzuordnen ist und zu einer Schuldmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB führen muß. Liegt ausreichendes Anknüpfungsmaterial für ein umfassendes Persönlichkeitsbild vor, kann aus psychiatrischer Sicht auch der Schluß gerechtfertigt sein, daß nur eine gestörte sexuelle Entwicklung vorliegt, die als eine allgemeine Störung der Persönlichkeit, des Sexualverhaltens oder der Anpassung kein krankheitswertiges Ausmaß aufweist und damit keinen Einfluß auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten hat.

3. Erst auf der Grundlage einer angesichts der Gesamtumstände gebotenen ausführlichen psychiatrischen Diagnose kann der Tatrichter im Rahmen der Erheblichkeitsprüfung die Wertung treffen, ob die von der Norm abweichende sexuelle Präferenz den Täter - nicht anders als bei den sonstigen Persönlichkeitsstörungen - in seiner Persönlichkeit so nachhaltig verändert hat, daß er selbst bei Aufbietung aller ihm eigenen Willenskräfte dem Trieb nicht ausreichend zu widerstehen vermag oder ob sie - in Folge seiner Abartigkeit den Täter in seiner gesamten inneren Grundlage und damit im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert, daß er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt (BGH NStZ 1998, 30, 31).

4. Zu den Voraussetzungen für eine schwere andere seelische Abartigkeit bei Pädophilie.

5. Der Tatrichter wird seiner Aufgabe, sich eine eigene Überzeugung über den Zustand des Angeklagten zu bilden, grundsätzlich nicht dadurch gerecht, daß er lediglich die Befunde des Sachverständigen wiedergibt, ohne sich mit diesen auseinanderzusetzen (BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 17). Wenn der Tatrichter dem Ergebnis eines Sachverständigengutachtens ohne Angaben eigener Erwägungen folgt, müssen jedenfalls die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH NStZ 1999, 610, 611).


Entscheidung

BGH 1 StR 377/00 - Beschluß v. 7. November 2000 (LG München I)

Abgrenzung von Unterschlagung und Diebstahl; Alleingewahrsam; Mitgewahrsam des Dienstherren; Tateinheit wegen Teilidentität; Sicherungsverwahrung; Vorverurteilung; Gefährlichkeitsprognose; Aufhebung des Strafausspruches bei unterbliebener Anordnung der Sicherungsverwahrung

§ 52 StGB; § 246 StGB; § 242 StGB; § 66 StGB

1. Ein Angestellter, der allein eine Kasse zu verwalten und über deren Inhalt abzurechnen hat, hat in aller Regel Alleingewahrsam am Kasseninhalt. Ohne seine Mitwirkung darf niemand Geld aus der Kasse nehmen, damit bei Fehlbeträgen die Verantwortlichkeit festgestellt werden kann. Das generelle Kontroll- und Weisungsrecht des Dienstherren gegenüber seinem Bediensteten begründet nicht ohne weiteres den Mitgewahrsam des Dienstherrn (BGHR StGB § 246 Abs. 1 Alleingewahrsam 1 m.w.N.).

2. Für die Gefährlichkeitsprognose kommt es auf den Urteilszeitpunkt an, jedoch darf der Tatrichter den Wirkungen eines langjährigen Strafvollzuges Bedeutung beimessen, soweit dieser nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung mit hoher prognostischer Sicherheit eine Haltungsänderung des Angeklagten erwarten läßt. Diese Sicherheit ergibt sich aber nicht aus der Annahme, daß sich die Gefährlichkeit des Angeklagten bei seiner Haftentlassung anders darstellen "kann".

3. Die Aufhebung eines Urteils wegen unterbliebener Anordnung von Sicherungsverwahrung kann im Einzelfall auch zur Aufhebung des Strafausspruchs zugunsten des Angeklagten führen, wenn möglicherweise die Strafe bei Anordnung von Sicherungsverwahrung niedriger ausgefallen wäre (BGH StV 2000, 615, 617 m.w.N.).


Entscheidung

BGH 4 StR 377/00 - Beschluß v. 5. Oktober 2000 (LG Halle)

Fehlerhafte unterlassene Prüfung einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt; Hang; Symptomatischer Zusammenhang

§ 64 StGB

Ein symptomatischer Zusammenhang zwischen den begangenen und den künftig zu befürchtenden Straftaten einerseits und dem Hang zum übermäßigen Alkoholgenuß andererseits ist auch dann zu bejahen, wenn der Hang zum Alkoholgenuß neben anderen Umständen mit dazu beigetragen hat, daß der Angeklagte erhebliche rechtswidrige Taten begangen hat und dies bei unverändertem Suchtverhalten für die Zukunft zu besorgen ist (vgl. BGH aaO; BGH NStZ 2000, 25; BGHR StGB § 64 Zusammenhang, symptomatischer 1).


Entscheidung

BGH 2 ARs 304/00 (2 AR 195/00) - Beschluß v. 22. November 2000 (LG Kleve; LG Aachen)

Zuständigkeit für Entscheidung über Aufhebung der Strafaussetzung zur Bewährung

§ 462a Abs. 1 StPO

Befaßt im Sinne des § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO ist ein Gericht mit der Widerrufsfrage schon dann, wenn Tatsachen aktenkundig werden, die den Widerruf der Straf- bzw. Unterbringungsaussetzung rechtfertigen können.