HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2001
2. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

BGH 1 StR 184/00 - Urteil v. 12. Dezember 2000 (LG Mannheim)

Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei Internettaten; Inland; Begehung im Ausland; Genuine Link; Volksverhetzung; Auschwitzlüge; Server; Internetnutzern; Erfolg; Abstrakte Gefährdungsdelikte; Abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt; Konkrete Eignung zur Friedensstörung im Inland; Beleidigung; Ehrverletzung; Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener; Recht des Angeklagten auf wirksame Verteidigung; Grundsatz des fairen Verfahrens; Fürsorgepflicht; Hinweispflicht; Tatbestandsausschlußklausel; Eignungsdelikte; Verjährung bei Presseinhaltsdelikten

§ 9 Abs. 1 StGB; § 130 StGB; § 185 StGB; § 189 StGB; § 338 Nr. 5 StPO; §§ 140, 141 StPO; Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c MRK; § 265 StPO

(1) Stellt ein Ausländer von ihm verfaßte Äußerungen, die den Tatbestand der Volksverhetzung im Sinne des § 130 Abs. 1 oder des § 130 Abs. 3 StGB erfüllen ("Auschwitzlüge"), auf einem ausländischen Server in das Internet, der Internetnutzern in Deutschland zugänglich ist, so tritt ein zum Tatbestand gehörender Erfolg (§ 9 Abs. 1 3. Alternative StGB) im Inland ein, wenn diese Äußerungen konkret zur Friedensstörung im Inland geeignet sind. (BGHSt)

(2) Die Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 und Abs. 3 StGB ist ein abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt. Solche Gefährdungsdelikte sind eine Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte (BGH NJW 1999, 2129). (Bearbeiter)

(3) Bei abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten ist ein Erfolg im Sinne des § 9 StGB dort eingetreten, wo die konkrete Tat ihre Gefährlichkeit im Hinblick auf das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut entfalten kann. Bei abstrakten Gefährdungsdelikten ist ein "zum Tatbestand gehörender Erfolg" im Sinne des § 9 StGB möglich. (Bearbeiter)

(4) Das Merkmal "zum Tatbestand gehörender Erfolg" im Sinne des § 9 StGB ist nicht ausgehend von der Begriffsbildung der allgemeinen Tatbestandslehre zu ermitteln. (Bearbeiter)

(5) Für die Eignung zur Friedensstörung genügt es, daß berechtigte - mithin konkrete - Gründe für die Befürchtung vorliegen, der Angriff werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern. Für die Eignung zur Friedensstörung ist der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht erforderlich. Notwendig ist allerdings eine konkrete Eignung zur Friedensstörung. Sie darf nicht nur abstrakt bestehen und muß wenn auch aufgrund generalisierender Betrachtung konkret festgestellt sein. Vom Tatrichter verlangt wird die Prüfung, ob die jeweilige Handlung bei genereller Betrachtung gefahrengeeignet ist. Der Gegenbeweis der nicht gegebenen Eignung zur Friedensstörung im Einzelfall bleibt möglich. (Bearbeiter)

(6) Eine jedem Internet-Nutzer in Deutschland zugängliche Publikation, die geeignet war, das gedeihliche Miteinander zwischen Juden und anderen Bevölkerungsgruppen empfindlich zu stören und die Juden in ihrem Sicherheitsgefühl und in ihrem Vertrauen auf Rechtssicherheit zu beeinträchtigen, genügt grundsätzlich für die Eignung zur Friedensstörung. (Bearbeiter)

(7) Das deutsche Strafrecht gilt für die Erfolgsdelikte der Beleidigung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener in den Internet-Fällen. Die Ehrverletzung tritt jedenfalls mit der Kenntniserlangung des ermittelnden Polizeibeamten ein (vgl. BGHSt 9, 17), soweit es sich hierbei nicht um vertrauliche Äußerungen handelte, von denen sich der Staat Kenntnis verschafft handelte (vgl. BVerfGE 90, 255). (Bearbeiter)

(8) Eine presserechtliche Verjährung kommt bei Internetveröffentlichungen über homepages von ausländischen Servern nicht in Betracht (kein Presseinhaltsdelikt; vgl. BGH NStZ 1996, 492). (Bearbeiter)

(9) Die Verfügung des Vorsitzenden, durch die ein Verteidiger bestellt wird, unterliegt als Vorentscheidung gemäß § 336 StPO unmittelbar der Überprüfung durch das Revisionsgericht, weil das Urteil auf ihr beruhen kann. Die Statthaftigkeit einer solchen Rüge hängt nicht davon ab, daß der Angeklagte zuvor eine Entscheidung des Gerichts herbeigeführt hat. Dies gilt in gleicher Weise für eine Entscheidung des Vorsitzenden, mit der die Zurücknahme der Bestellung abgelehnt worden ist (BGHSt 39, 310, 311). (Bearbeiter)

(10) Als wichtiger Grund für die Bestellung oder die Zurücknahme der Bestellung kommt jeder Umstand in Frage, der den Zweck der Verteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährdet. Die Fürsorgepflicht gegenüber dem Angeklagten wird es dem Vorsitzenden regelmäßig verbieten, einen Verteidiger zu bestellen, der die Verteidigung wegen eines Interessenkonflikts möglicherweise nicht mit vollem Einsatz führen kann (BVerfG Kammer - NJW 1998, 444). (Einzelfall der Verletzung der §§ 140, 141 StPO und des Rechtes auf wirksame Verteidigung; Bestellung eines Pflichtverteidigers, der Furcht vor eigener Bestrafung hegt - Volksverhetzung). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 3 StR 331/00 - Urteil v. 22. November 2000 (LG Kiel)

Fahrlässigkeit; Absichtsprovokation; Rechtsmißbrauch; Fahrlässige Tötung; Sozialethische Notwehrschranken; (Objektive) Vorhersehbarkeit; Körperverletzung mit Todesfolge (Tatbestandlicher Gefahrzusammenhang); Objektive Zurechnung; Versuchte schwere Körperverletzung; Verteidigungsabsicht (Zäsur); Gegenwärtiger rechtswidriger Angriff; Erforderlichkeit bei Einsatz einer Schußwaffe; actio illicita in causa; Trutzwehr; Schutzwehr; Exzeß bei Mittäterschaft; Kausalität (Äquivalenz)

§ 222 StGB; § 32 StGB; § 212 StGB; § 227 StGB; § 224 StGB; § 22 StGB; § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 25 Abs. 2 StGB

1. Wer durch ein rechtswidriges Vorverhalten die Gefahr einer tätlichen Auseinandersetzung mit tödlichem Ausgang herbeigeführt hat, kann auch dann wegen fahrlässiger Tötung bestraft werden, wenn er den zum Tode führenden Schuß in Notwehr abgibt. (BGHR)

2. Eine Absichtsprovokation begeht, wer zielstrebig einen Angriff herausfordert, um den Gegner unter dem Deckmantel der äußerlich gegebenen Notwehrlage an seinen Rechtsgütern zu verletzen. In einem solchen Fall ist dem Täter Notwehr grundsätzlich versagt, weil er rechtsmißbräuchlich handelt, indem er Verteidigungswillen vortäuscht, in Wirklichkeit aber angreifen will (BGH NJW 1983, 2267). Daß nach den Fallumständen eine solche Situation entstehen könnte und für den Angeklagten auch nicht unvorhersehbar war, reicht für eine Absichtsprovokation nicht aus. (Bearbeiter)

3. Ein Angeklagter handelt auch dann in Verteidigungsabsicht obwohl er seinerseits unmittelbar vor dem Schlag des Angreifers selbst zu einem Faustschlag angesetzt hatte, wenn er sich nach einer zeitlichen Zäsur dem aufgrund eines neuen Entschlusses gefaßten Angriff unvermittelt gegenübersah und zur Abwehr des Angriffs handelte. (Bearbeiter)

4. Ob die Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich ist, hängt im wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Grundsätzlich darf der Angegriffene das für ihn erreichbare Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten läßt (vgl. BGHSt 25, 229, 230; BGH NStZ 1996, 29 m.w.N.). Demgemäß ist auch der Einsatz einer Schußwaffe nicht von vornherein unzulässig; er kann aber nur das letzte Mittel der Verteidigung sein (BGHSt 26, 256, 258). (Bearbeiter)

5. Ein Täter, der leichtfertig einen Angriff auf sich provoziert hat, auch wenn er ihn nicht in Rechnung gestellt haben sollte, darf nicht bedenkenlos von seinem Notwehrrecht Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er muß vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst Zuflucht nehmen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu entsprechend weitreichender Verteidigung befugt. Kann der Täter dem Angriff aber nicht ausweichen oder auch nicht über ein Ausweichen zum Einsatz eines weniger gefährlichen Verteidigungsmittels gelangen, so liegt auch im Falle der verschuldeten Provokation eine rechtsmißbräuchliche Verteidigung nicht vor. Eine Haftung nach der Rechtsfigur der actio illicita in causa hat der Bundesgerichtshof nicht anerkannt (vgl. BGH NJW 1983, 2267).

6. Es werden an den Täter, der sich auf Notwehr berufen will, um so höhere Anforderungen im Hinblick auf die Vermeidung gefährlicher Konstellationen gestellt, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der Notwehrlage wiegt. Wer unter erschwerenden Umständen die Notwehrlage provoziert hat, muß unter Umständen auf eine sichere erfolgversprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, daß ein minder gefährliches Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen hat (BGHSt 39, 374, 379). Diese Grundsätze zur Einschränkung des Notwehrrechts kommen dann nicht zur Anwendung, wenn die Notwehrhandlung des Opfers das einzige Mittel ist, um einen möglicherweise tödlichen Angriff auf den in Notwehr Handelnden abzuwenden, weil kein milderes Abwehrmittel zur Verfügung steht. (Bearbeiter)

7. Für den Versuch der schweren Körperverletzung reicht aus, daß der mit Vorsatz hinsichtlich der schweren Folge Handelnde die Ausführung der Körperverletzung begonnen hat (vgl. BGHR StGB § 22 Ansetzen 12, 16). (Bearbeiter)

8. Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg gezeitigt hat. Die Einzelheiten des durch das pflichtwidrige Verhalten in Gang gesetzten Kausalverlaufs brauchen nicht vorhersehbar sein. Tritt der Erfolg durch das Zusammenwirken mehrerer Umstände ein, müssen alle diese Umstände dem Täter erkennbar sein, weil nur dann der Erfolg für ihn voraussehbar ist. Es genügt, daß die Folgen in ihrem Gewicht im wesentlichen voraussehbar waren. Eine vernunftswidrige Handlungsweise des später Getöteten kann die Vorhersehbarkeit des Erfolges entfallen lassen. (Bearbeiter)

9. Die einem zulässig eingesetzten Verteidigungsmittel anhaftenden Gefahren können als solche keinen Fahrlässigkeitsvorwurf (gegenüber dem Angreifer) begründen (vgl. BGHSt 27, 313, 314). Ein und dieselbe Handlung kann nicht sowohl rechtmäßig als auch rechtswidrig sein. (Bearbeiter)

10. Eine Ursache im Rechtssinne verliert ihre Bedeutung nicht, wenn außer ihr noch andere Ursachen zur Herbeiführung des Erfolges beitragen. Ein Ursachenzusammenhang ist nur zu verneinen, wenn ein späteres Ereignis die Fortwirkung der ursprünglichen Bedingung beseitigt und seinerseits allein unter Eröffnung einer neuen Ursachenreihe den Erfolg herbeigeführt hat (BGHSt 39, 322, 324).


Entscheidung

BGH 4 StR 372/00 - Beschluß v. 10. Oktober 2000 (LG Frankenthal)

Bedingter Tötungsvorsatz; Totschlag; Beendeter Versuch (Keine Vorstellungen über den Erfolg); Rücktritt

§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 212 StGB; § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB

Ein Tötungsversuch ist erst dann im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB beendet, wenn der Täter nach der letzten Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges (zumindest) für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGHSt 31, 170, 175 ; 39, 221, 227 f.). Macht sich der Angeklagte nach der letzten Ausführungshandlung keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns, ist ein beendeter Versuch anzunehmen (BGHSt 40, 304 f.).


Entscheidung

BGH 4 StR 319/00 - Urteil v. 26. Oktober 2000 (LG Schwerin)

Verfolgungsverjährung; Verfahrenshindernis; Nötigung bei zur Tatzeit außertatbestandlicher Vergewaltigung in der Ehe; 3. Verjährungsgesetz; Tatrichterlicher Beurteilungsrahmen bei der Strafzumessung; Widerlegung eines Regelbeispiels (Vergewaltigung in der Ehe)

§ 177 Abs. 2 StGB; § 240 StGB; Art. 315 a Abs. 2 EGStGB; § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB; § 46 StGB

Art. 315 a StGB enthält ein Hinausschieben des frühestmöglichen Verjährungseintritts für alle Straftaten der geringeren und mittleren Kriminalität, die bis zum 31. Dezember 1992 im Beitrittsgebiet begangen worden sind und noch nicht verjährt waren.



2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

BGH 1 StR 300/00 - Urteil v. 21. November 2000 (LG Augsburg)

Vermögensschaden (Submissionsabsprachen); Betrug; Stoffgleichheit; Beweiswürdigung

§ 263 StGB; § 298 StGB; § 261 StPO

1. In der Nichtgeltendmachung der für den Fall einer Absprache vereinbarten Schadensersatzansprüche liegt nur eine mittelbare Folge der auf das Erlangen des Auftrags gerichteten Tat, bei der es an der Stoffgleichheit zwischen dem (angestrebten) Vermögensvorteil und dem Schaden fehlt.

2. Der Wert ausgeschriebener Bauarbeiten bestimmt sich nach dem Preis, der bei Beachtung der für das Ausschreibungsverfahren geltenden Vorschriften im Wettbewerb erzielbar ist (BGHSt 38, 186, 190 ff.; BGH wistra 1997, 336, 340 m.w.N.).

3. Ging es bei den Absprachen darum, "ruinösen" Wettbewerb zu verhindern, liegt die Annahme nahe, daß ohne die Absprachen niedrigere Angebote abgegeben worden wären. Ein Schaden der Auftraggeber wäre unter diesen Umständen nur dann zu verneinen, wenn sie diesen niedrigeren ("ruinösen") Angeboten den Zuschlag nicht hätten erteilen dürfen. Voraussetzung hierfür wäre nicht nur ein (offensichtliches) Mißverhältnis zwischen Preis und Leistung (BGHSt aaO, 195; BGH NJW 1995, 737), sondern es müßte darüber hinaus zu erwarten sein, daß der Auftragnehmer wegen dieses Mißverhältnisses in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät und den Auftrag deshalb nicht oder nicht ordnungsgemäß ausführt. Dagegen besteht für die öffentliche Hand kein Hindernis, auch sogenannte Unterkostenpreise zu akzeptieren, sofern der Anbieter zu diesen Preisen zuverlässig leisten kann (BGH NJW aaO m.w.N.).

4. Es spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß Submissionskartelle nicht gebildet und am Leben erhalten werden, wenn sie ihren Kartellmitgliedern keine höheren Preise als den sonst erzielbaren Marktpreis (Wettbewerbspreis) bringen (BGHSt aaO, 194; BGH NJW aaO). Allerdings handelt es sich hierbei nur um eine Wahrscheinlichkeitsaussage, die der Richter erst anhand weiterer Beweisanzeichen darauf überprüfen muß, ob sie im konkreten Fall zur Gewißheit wird.