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HRR-Strafrecht
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2000
1. Jahrgang
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1. Ist abzusehen, daß die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird, so ist § 141 Abs. 3 StPO im Lichte des von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK garantierten Fragerechts dahin auszulegen, daß dem unverteidigten Beschuldigten vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen ist. (BGHSt)
2. Der Verteidiger muß regelmäßig Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit dem Beschuldigten zu besprechen. (BGHSt)
3. Das Unterlassen der Bestellung des Verteidigers mindert den Beweiswert des Vernehmungsergebnisses. Auf die Angeben des Vernehmungsrichters kann eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Anfrage bestätigt werden. (BGHSt)
4. Ein Verwertungsverbot für den Rückgriff auf den Vernehmungsrichter besteht ähnlich wie beim anonymen Zeugen (grundlegend BGHSt 17, 382) nicht. Die mögliche tatrichterliche Beweiswürdigung setzt jedoch voraus, daß
a) der originäre Zeuge in der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung steht,
b) eine Feststellung regelmäßig nur dann auf die Angaben des Vernehmungsrichters gestützt werden kann, wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden, und
c) der Tatrichter eine sorgfältigste (BGHSt 17, 382, 386) Überprüfung der von dem Vernehmungsrichter wiedergegebenen Aussage nach diesen Maßstäben in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise im Urteil deutlich macht. (Bearbeiter)
5. Die MRK, die nach Art. II des Zustimmungsgesetzes vom 7. August 1952 Bestandteil des deutschen Rechts geworden ist und dabei im Rang eines (einfachen) Bundesgesetzes steht (BVerfGE 74, 358, 370), ist als Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen Rechts zu berücksichtigen. (StRspr)
6. "Notwendig sein wird" iSd § 141 Abs. 3 StPO heißt, daß die Pflicht zur Antragstellung schon dann entsteht, wenn abzusehen ist, daß die Mitwirkung notwendig werden wird. Die Regelung des § 117 Abs. 4 Satz 1 StPO stellt lediglich eine Mindestgarantie dar. (Bearbeiter)
7. Wird der zentrale zeugnisverweigerungsberechtigte Belastungszeuge unter Ausschluß des Beschuldigten aus Gründen der Beweissicherung ermittlungsrichterlich vernommen, so reduziert sich das Ermessen bei der Frage der Bestellung eines Verteidigers auf Null. Anderes mag dann gelten, wenn die durch die Zuziehung eines Verteidigers bedingte zeitliche Verzögerung den Untersuchungserfolg gefährden würde. Nur diese Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO ist mit der Vorgabe der MRK vereinbar. (Bearbeiter)
8. Zum Stand der Auslegung des Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK durch den EMRK (Bearbeiter).
Der Beschwerdeführer muß eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahren durch die Tatprovokation eines polizeilichen Lockspitzels mit Hilfe einer Verfahrensrüge geltend machen, sofern sich die tatsächlichen Voraussetzungen eines Konventionsverstoßes nicht schon aus den Urteilsfeststellungen ergeben.
1. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, daß das Gericht die erhobenen Beweise entsprechend gewürdigt, vor allem die Umstände, die die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat.
2. Um den biologisch-psychologischen Sachverhalt des Affekts direkt zu erfassen, bedarf es insbesondere einer Analyse der Tatdurchführung selbst einschließlich des unmittelbaren Vorfeldes und des unmittelbaren Nachtatgeschehens. Die Kennzeichnung des Zustandes des in einer mehr standardisierten Form genügt nicht.
3. Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewußt zur Tötung ausnutzt. Bei der erschöpfenden Würdigung der diesbezüglich erhobenen Beweise muß sich der Richter in den Urteilsgründen insbesondere mit solchen Feststellungen auseinandersetzen, die zunächst einmal (prima facie) gegen die von ihm gezogenen Schlußfolgerungen sprechen.
4. Arglos ist, wer sich keines Angriffs von seiten des Täters versieht (BGHSt 32, 382 m.w.N.). Die Arglosigkeit ist nicht allein mit dem Schluß aus einem fast fluchtartigen Verhalten des Tatopfers zu verneinen, dieses habe möglicherweise mit einem Angriff des Angeklagten gerechnet, wenn dafür keine weiteren Hinweise gegeben sind.
Nach der Verlesung der Niederschrift über eine richterliche Vernehmung ist von Amts wegen über die Vereidigung des Zeugen nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 59 ff. StPO zu entscheiden. Einen entsprechenden Verfahrensverstoß kann der Angeklagte rügen, auch wenn er keine Entscheidung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO herbeigeführt hat (BGH NStZ 1981, 71; BGH StV 1992, 146).
1. Das Gericht muß bei einer Einstellung des Verfahrens in der Hauptverhandlung den Hinweis geben, daß der ausgeschiedene Verfahrensstoff strafschärfend berücksichtigt werden kann (BGHSt 30, 197 f.). Zwar kann dieser Hinweis ausnahmsweise entbehrlich sein (vgl. dazu BGH NStZ 1987, 134), doch ist dies nicht schon immer dann der Fall, wenn der Angeklagte die betroffenen Taten gestanden hat. Der Hinweis ist erforderlich, um dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, durch Anträge auch zum Schuldgehalt der von der Einstellung betroffenen Taten auf die Strafhöhe Einfluß zu nehmen.
2. Der Zweifelsgrundsatz gilt uneingeschränkt auch für die Feststellung der Strafzumessungstatsachen und ist auch dann zu beachten, wenn in dubio pro reo das Gegenteil der Strafzumessungstatsache hinsichtlich eines anderen Angeklagten angenommen werden mußte.
3. Daß der Drogenkonsum des Angeklagten nach der ersichtlich ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen getroffenen Einschätzung des Landgerichts nicht zu einer erheblichen Verminderung seiner Steuerungsfähigkeit geführt hat, steht der Annahme eines Hanges im Sinne des § 64 Abs. 1 StGB nicht entgegen (st. Rspr.; BGHR StGB § 64 Ablehnung 6, 8).
Wird ein nicht verlesenes Schriftstück ohne einen Hinweis auf eine bestätigende Erklärung einer in der Hauptverhandlung vernommenen Auskunftsperson im Urteil auszugsweise wörtlich wiedergegeben, so deutet dies in der Regel darauf hin, daß der Wortlaut selbst zum Zwecke des Beweises verwertet worden ist und nicht nur eine gegebenenfalls auf einen Vorhalt abgegebene Bekundung.
1. Ein Einverständnis bei Rügen über die Abwesenheit des Angeklagten bei der Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrechts hat der Bundesgerichtshof unter Hinweis auf die Unverzichtbarkeit des - mit einer Anwesenheitspflicht korrespondierenden - Anwesenheitsrechts des Angeklagten wiederholt für unerheblich erachtet. Das sollte aber - zur gebotenen Vermeidung überspannter Formstrenge bei Anwendung der absoluten Revisionsgründe - jedenfalls dann nicht gelten, wenn die Voraussetzungen für eine Abwesenheitsverhandlung zweifelsfrei vorliegen, entsprechend das Einverständnis des auf sein Anwesenheitsrecht verzichtenden Angeklagten - wie das sämtlicher Prozeßbeteiligter - auf der Anerkennung dieser verfahrensrechtlich eindeutigen Situation beruht (vgl. zum Meinungsstand BGHR StPO § 338 Nr. 5 - Angeklagter 18; BGH NJW 1976, 1108; BGH NStZ 1983, 36; auch BGHSt 45, 117).
2. Nur bei vollständiger Kenntnis des Vorlaufs und Ablaufs der Zeugnisverweigerung läßt sich beurteilen, ob ein Vorgang ein - zudem wesentlicher - Teil der Hauptverhandlung gewesen ist oder vielmehr die Durchführung eines Freibeweisverfahrens am Rande der Hauptverhandlung, das gerade nicht deren wesentlicher Teil ist und für welches das durch den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gesicherte grundsätzliche Anwesenheitsgebot für den Angeklagten nicht gilt (vgl. BGHR StPO § 247 - Abwesenheit 17; vgl. ferner BGHR StPO § 338 Nr. 6 - Öffentlichkeit 2). Die hierfür erforderlichen Angaben hat die Revisionsbegründung mitzuteilen.
3. Erklärt ein zeugnisverweigerungsberechtigter Zeuge vor einer Hauptverhandlung, daß er unter Berufung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht nicht aussagen wolle, ist das Gericht - wenn es keine Hinweise auf eine unzureichende Information des Zeugen über seine Rechtsstellung und Interessenlage oder über eine möglicherweise noch bestehende Unentschlossenheit des Zeugen über die Zeugnisverweigerung hat - nicht gehalten, den Zeugen zur Hauptverhandlung zu laden; ist die Zeugnisverweigerung eindeutig erklärt, ist das Gericht mit Rücksicht auf die Belange des Zeugen sogar gehindert, ihn zu laden. Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines derart eindeutig berechtigt das Zeugnis verweigernden Zeugen wäre unzulässig (BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 - Unerreichbarkeit 17; BGH NStZ 1982, 126). Das Gericht, das sich so freibeweislich über die Zeugnisverweigerung unterrichten läßt, kann folglich fraglos etwa noch bestehende Zweifel über Willensmängel des Zeugen ebenfalls außerhalb der Hauptverhandlung freibeweislich beseitigen.
1. Nicht jeder Fehler bei der Schöffenheranziehung führt zu einer vorschriftswidrigen Besetzung des Gerichts im Sinne des § 338 Nr. 1 StPO. Aus einem etwaigen Fehler läßt sich eine vorschriftswidrige Besetzung dann nicht herleiten, wenn dieser Fehler nicht schwer wiegt (so BGHSt 34, 121, 122), was insbesondere dann der Fall ist, wenn eine sachwidrige Einflußnahme ausgeschlossen scheint.
2. Die Verneinung eines freiwilligen Rücktritts vom Versuch einer Tat ist nicht zwingend widersprüchlich erfolgt, wenn das Gericht im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten ins Feld führt, dieser habe sein Tatziel weiter verfolgen können, davon jedoch Abstand genommen. Bei dieser Formulierung kann es sich ersichtlich um ein bloßes Vergreifen im Ausdruck handeln, wenn den Feststellungen zum Tatablauf zu entnehmen ist, daß die Tat auch nach der Einschätzung des Angeklagten gescheitert war, als dieser aufgab.
1. Einzelfall des Ausschlusses des Beruhens bei einem rechtsfehlerhaft unterbliebenen Gerichtsbeschluß gemäß § 251 Abs. 4 StPO.
2. Handelt es sich um ärztliche Befunde und ihre Begutachtung in dem Protokoll einer Leichenöffnung, so kommt unter Beachtung der Aufklärungspflicht eine Verlesung nach § 256 StPO in Betracht, wenn die beiden nach § 87 StPO erforderlichen Ärzte der Behörde angehören und es unterzeichnet haben.
3. Dem Tatgericht, das während, aber außerhalb der Hauptverhandlung verfahrensbezogene Ermittlungen anstellt, erwächst aus dem Gebot der Verfahrensfairneß (Art. 6 MRK in Verbindung mit § 147 StPO) die Pflicht, dem Angeklagten, der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft durch eine entsprechende Unterrichtung Gelegenheit zu geben, sich Kenntnis von den Ergebnissen dieser Ermittlungen zu verschaffen. Der Pflicht zur Erteilung eines solchen Hinweises ist das Tatgericht auch dann nicht enthoben, wenn es die Ergebnisse der Ermittlungen selbst für nicht entscheidungserheblich erachtet; denn es muß, den übrigen Verfahrensbeteiligten überlassen bleiben, selbst zu beurteilen, ob es sich um relevante Umstände handelt (BGHSt 36, 305, 308 ff.). Entsprechendes muß auch gelten, wenn während der Hauptverhandlung Urkunden oder andere Beweismittel, deren Erheblichkeit nicht ausgeschlossen ist, ohne Veranlassung durch das Gericht zu den Akten gelangen.
4. Gründe, die zur Ablehnung eines Beweisantrages berechtigen, lassen auch die Aufklärungspflicht entfallen (BGH NStZ 1991, 399, 400).