HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2000
1. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 4 StR 647/ 99 - Urteil v. 18. Mai 2000 (LG Essen)

Audiovisuelle Vernehmung eines am Erscheinen in der Hauptverhandlung verhinderten Auslandszeugen; Verlesung eines bereits vorliegenden richterlichen Vernehmungsprotokolls; Erreichbarkeit eines Zeugen; Kommissarische Vernehmung und Anwesenheit der Verteidigung; Mord zur Ermöglichung einer anderen Straftat (Versicherungsbetrug)

§§ 247 a Satz 1 Halbs. 2; 251 Abs. 1 Nr. 2; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 211 Abs. 2 StGB

1. Die audiovisuelle Vernehmung eines am Erscheinen in der Hauptverhandlung verhinderten Auslandszeugen ist dann nicht erforderlich, wenn von ihr keine weiter gehende oder bessere Sachaufklärung zu erwarten ist als durch das Verlesen eines bereits vorliegenden richterlichen Vernehmungsprotokolls. (BGHSt)

2. Die nach § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO zu beantwortende Frage, ob dem Erscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung ein nicht zu beseitigendes Hindernis entgegensteht - und deshalb die Verlesung von richterlichen Vernehmungsprotokollen zulässig ist -, deckt sich jedoch nicht mit der Frage nach seiner Erreichbarkeit. (Bearbeiter)

3. Das Gericht ist nicht verpflichtet darzulegen, warum seiner Meinung nach die Aufklärungspflicht eine audiovisuelle Vernehmung nicht gebietet; eine solche Pflicht zur Darlegung von Verfahrensvorgängen ist der Strafprozeßordnung auch sonst fremd (vgl. BGH NStZ-RR 1999, 272 a. E.). (Bearbeiter)

4. Das Gericht darf der verlesenen Niederschrift einer kommissarischen Vernehmung einen erheblichen Beweiswert beimessen, wenn ein Verteidiger anwesend war, der sein Fragerecht ausgeübt hat.


Entscheidung

BGH 1 StR 125/00 - Beschluß v. 3. Mai 2000 (LG Ulm)

Schweigerecht des Angeklagten; Nemo tenetur; Faires Verfahren; Begriff der Teilaussage; Beweiswürdigung bei einer Teilaussage

§ 136 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 261 StPO

1. Der Grundsatz, daß niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagen braucht, insoweit also ein Schweigerecht besteht, ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens.

2. Macht ein Angeklagter von seinem Schweigerecht Gebrauch, so darf dies nicht zu seinem Nachteil gewertet werden (BGHSt 32, 140, 144; 38, 302, 305; BGH NJW 2000, 1426). Allerdings darf bei einer Teileinlassung des Angeklagten sein Schweigen zu einzelnen Fragen gegen ihn verwertet werden (BGHSt 20, 298, 300; BGHSt 38, 302, 307). Durch die Einlassung macht sich der Angeklagte freiwillig zum Beweismittel (BGH NJW 1966, 209). Sein teilweises Schweigen bildet dann einen negativen Bestandteil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) unterliegt.

3. Eine Teileinlassung in diesem Sinne ist jedoch nicht gegeben, wenn der Angeklagte seine Schuld lediglich grundsätzlich bestreitet (BGHSt 38, 302,307). Die Tatsache, daß ein Angeklagter sich überhaupt - zu einer Tat - zur Sache einläßt, führt nicht dazu, daß sein Schweigen zu anderen Taten indiziell gegen ihn verwertet werden kann (BGHSt 32, 140, 145).

4. Bei der Prüfung, ob von einem (verwertbaren) Teilschweigen oder einem (nicht verwertbaren) vollständigen Schweigen hinsichtlich des zweiten Tatvorwurfs auszugehen ist, ist entscheidend, ob die Tatvorwürfe lediglich eine oder mehrere Taten im prozessualen Sinne gemäß § 264 StPO betreffen.


Entscheidung

BGH 1 StR 62/00 - Beschluß v. 2. Mai 2000 (LG Ravensburg)

Strafzumessung und Schuldgehalt bei unklarem Beteiligungsumfang eines Mittäters bei gefährlicher Körperverletzung; Vereidigung; Entfallen der Beweiskraft des Sitzungsprotokolls bei offensichtlichen Mängeln; Freibeweis; Strafvereitelung durch Zeugen; Rücktritt und Vereidigungsverbot; Beruhen

§ 46 Abs. 1 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 224 StGB; § 59 StPO; § 274 Satz 1 StPO; § 60 Nr. 2 StPO

1. Weist das Protokoll einen offensichtlichen Mangel auf, entfällt die in § 274 Satz 1 StPO geregelte Beweiskraft. In einem solchen Fall kann und muß das Revisionsgericht im Freibeweis klären, wie der Verfahrensablauf wirklich war.

2. Ein Zeuge, der wegen eines Stützung eines falschen Alibis zumindest der versuchten Strafvereitelung gemäß § 258 StGB verdächtig war, darf auch dann nach § 60 Nr. 2 StPO nicht vereidigt werden, wenn ein strafbefreiender Rücktritt durch Richtigstellung der eigenen Angaben erfolgt (vgl. BGH NStZ-RR 1998, 335 m. w. Nachw.). Auf einen solchen Verstoß beruht aber der Schuldspruch nicht, wenn sich das Urteil insoweit nicht auf die Vereidigung der Zeugin stützt, sondern auf die Schlüssigkeit ihrer Angaben, ihr Aussageverhalten in der Hauptverhandlung sowie die Bestätigung ihrer Angaben durch eine anderweitige Zeugenaussage und zusätzliche Sachbeweise.


Entscheidung

BGH 1 StR 181/00 - Beschluß v. 10. Mai 2000 (LG Ellwangen)

Glaubwürdigkeit einer Zeugin; Vergewaltigung; Beweiswürdigung bei Aussage gegen Aussage

§ 261 StPO; § 177 Abs. 2 StGB

In solchen Fällen, in denen "Aussage gegen Aussage" steht und sich die Unwahrheit eines Teils der Aussage des Belastungszeugen herausstellt, sind außerhalb der Zeugenaussage liegende Gründe von Gewicht erforderlich, die es dem Tatrichter ermöglichen, dem Zeugen im übrigen dennoch zu glauben. Diese gewichtigen Gründe sind im Urteil darzulegen (BGHSt 44, 153, 158 f.).