hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 207

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 403/22, Beschluss v. 14.12.2022, HRRS 2023 Nr. 207


BGH 6 StR 403/22 - Beschluss vom 14. Dezember 2022 (LG Göttingen)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Subsidiarität der Abgabe von Betäubungsmitteln beim selben Vorrat); Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Zäsurwirkung: Entfallen bei Erledigung der verhängten Strafe; Mitteilung in den Urteilsgründen).

§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG; § 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG; 55 Abs. 1 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 23. Mai 2022

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Vergewaltigung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung, der Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige, der Verbrauchsüberlassung von Betäubungsmitteln an Minderjährige in zwei Fällen, des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und der Abgabe von Betäubungsmitteln in zwei Fällen schuldig ist;

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung, unter Einbeziehung der mit Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 4. Dezember 2019 verhängten Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Außerdem hat es gegen ihn wegen „unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an eine Person unter 18 Jahren als Person über 21 Jahre“ in drei Fällen sowie wegen „unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln“, auf eine weitere Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten erkannt. Zudem hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 60 Euro angeordnet.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte in den beiden unter A.II.2.b der Urteilsgründe genannten Fällen nicht wegen Abgabe, sondern wegen Verbrauchsüberlassung von Betäubungsmitteln an Minderjährige strafbar gemacht. Eine Abgabe von Betäubungsmitteln im Sinne des § 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG ist jede Gewahrsamsübertragung an eine andere Person zur freien Verfügung. An einer solchen fehlt es, wenn das Betäubungsmittel - wie hier - zum sofortigen Gebrauch an Ort und Stelle hingegeben wird; in dieser Konstellation liegt vielmehr die Tatbestandsvariante des Überlassens zum unmittelbaren Verbrauch (§ 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG) vor (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. März 2022 - 6 StR 14/22; vom 23. März 2021 ? 3 StR 19/21, NStZ 2022, 301; BeckOK BtMG/Schmidt, 16. Edition, § 29a Rn. 5.2; ders. NJW 2022, 2964, 2967).

2. In den Fällen A.II.2.e und f der Urteilsgründe tragen die Feststellungen die tateinheitliche Verurteilung des Angeklagten wegen Abgabe von Betäubungsmitteln neben dem jeweiligen Schuldspruch wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nicht. Danach verkaufte der Angeklagte „vier Pappen LSD“ für insgesamt 60 Euro und gab weiteren Personen aus demselben Vorrat stammende Betäubungsmittel, weil sie diese für ihn weiterverkaufen sollten. In solchen Fällen tritt die Abgabe der Betäubungsmittel nach dem Wortlaut des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG („ohne Handel zu treiben“) im Wege der Subsidiarität hinter das Handeltreiben zurück (im Ergebnis ebenso Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl., § 29 Rn. 533).

3. Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend (§ 354 Abs. 1 StPO analog). § 265 StPO steht dem nicht entgegen, weil sich der Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können. Es ist angesichts des unveränderten Strafrahmens und der weiteren Umstände auszuschließen, dass das Landgericht bei zutreffender rechtlicher Würdigung auf geringere Einzelstrafen erkannt hätte.

4. Hingegen hält die Gesamtstrafenbildung revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Strafkammer ist zwar im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 4. Dezember 2019 Zäsurwirkung haben könnte mit der Folge, dass zwei Gesamtfreiheitsstrafen zu bilden wären. Die Zäsurwirkung einer früheren Verurteilung entfällt jedoch, wenn die dort verhängte Strafe erledigt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2017 - 3 StR 497/16, NStZ-RR 2017, 169; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 1247 mwN). Ob dies bei der mit Urteil des Amtsgerichts Göttingen festgesetzten Geldstrafe der Fall ist, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Die allgemeine Feststellung, dass der Angeklagte noch Schulden durch Geldstrafen habe, genügt nicht, weil solche wiederholt gegen den Angeklagten verhängt worden waren. Es ist daher nicht auszuschließen, dass sich die Geldstrafe erledigt hat, mit der Folge, dass dann aus den Einzelstrafen nur noch eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden gewesen wäre.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 207

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi