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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 974

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 274/22, Beschluss v. 06.09.2022, HRRS 2022 Nr. 974


BGH 6 StR 274/22 - Beschluss vom 6. September 2022 (LG Magdeburg)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (Einzelstrafen und Gesamtstrafenbildung: durch mehrere Taten herbeigeführte Folgen; Doppelverwertungsverbot).

§ 176 StGB; § 176a StGB; § 46 Abs 2, Abs. 3 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Während der Tatbestand von §§ 176, 176a StGB der Gefahr von Entwicklungsschäden auf sexuellem Gebiet begegnen soll und diese damit keinen tauglichen Strafzumessungsumstand darstellt, können tatsächlich eingetretene Schäden strafschärfend berücksichtigt werden.

2. Durch mehrere Taten herbeigeführte Folgen dürfen dem Täter mit vollem Gewicht zwar dann bei den Einzelstrafen angelastet werden, wenn sie unmittelbare Folge der jeweiligen Taten sind; resultieren sie hingegen aus allen Taten insgesamt, so können sie nur einmal bei der Gesamtstrafenbildung gewichtet werden (st. Rspr.).

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 30. März 2022 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die durch die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Schuldspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt.

2. Der Strafausspruch hält rechtlicher Überprüfung ebenfalls stand.

a) Die dem Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung zur Last gelegte Erwägung, er habe „durch seine Taten eine unbefangene sexuelle Entwicklung der Geschädigten verhindert“, verstößt nicht gegen das Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB). Während der Tatbestand von §§ 176, 176a StGB der Gefahr von Entwicklungsschäden auf sexuellem Gebiet begegnen soll und diese damit keinen tauglichen Strafzumessungsumstand darstellt, können tatsächlich eingetretene Schäden strafschärfend berücksichtigt werden (vgl. etwa BGH, Urteil vom 22. Oktober 2014 - 2 StR 509/13 Rn. 15, für eine psychische Verhaltensänderung; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. 2017, Rn. 703, 1610 und 1613 mwN). Hier lässt die Strafzumessung nicht besorgen, dass die Strafkammer den Regelungszweck von §§ 176, 176a StGB rechtsfehlerhaft strafschärfend berücksichtigt hat, gerade weil sie ergänzend erhebliche psychische Beeinträchtigungen bei der Geschädigten - die Entwicklung zu einem „verschlossenen Mädchen“ und die Verweigerung des Schulbesuchs für eine Dauer von sechs Monaten - festgestellt hat.

b) Der Revision verhilft auch nicht zum Erfolg, dass die Strafkammer die zuvor genannten psychischen Beeinträchtigungen sowohl bei der Zumessung der Einzelstrafen als auch bei der Gesamtstrafenbildung berücksichtigt hat. Derartige durch mehrere Taten herbeigeführte Folgen dürfen dem Täter mit vollem Gewicht zwar dann bei den Einzelstrafen angelastet werden, wenn sie unmittelbare Folge der jeweiligen Taten sind; resultieren sie hingegen aus allen Taten insgesamt, so können sie nur einmal bei der Gesamtstrafenbildung gewichtet werden (st. Rpsr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 1. Februar 2022 - 4 StR 449/21; vom 18. Februar 2021 - 2 StR 7/21; vom 9. Januar 2018 - 5 StR 541/17, NStZ 2018, 537, 538; vom 13. November 1997 - 4 StR 539/97, NStZ-RR 1998, 107; vom 22. Juli 2014 - 2 StR 84/14, NStZ-RR 2014, 340). Da hier aber den Urteilsgründen zu entnehmen ist, dass der „Rückzug“ der Geschädigten und ihre Verweigerung des Schulbesuchs bereits im Sommer 2019 - und damit nach den Taten 1 und 2 - begannen und während der Taten 3 bis 5 andauerten, sprechen tragfähige Gründe dafür, dass das Landgericht diese schon - jedenfalls mit gemindertem Gewicht - bei der Zumessung der Einzelstrafen berücksichtigen durfte.

Es kann hier offenbleiben, ob der Strafausspruch letztlich rechtsfehlerfrei ist, weil das Urteil auf diesem möglichen Rechtsfehler nicht beruhen würde (§ 337 Abs. 1 StGB). Da der Angeklagte seine Missbrauchshandlung bei der Tat 1 gegen ein höchstens zehnjähriges Kind richtete, bei der Tat 2 den durch die Geschädigte als schmerzhaft empfundenen Analverkehr vollzog und die Taten 3 bis 5 im geschützten häuslichen Umfeld während der Abwesenheit der Mutter stattfanden, sprechen gegen den Angeklagten in jedem der Fälle derart gewichtige Erschwerungsgründe, dass die Verhängung niedrigerer Freiheitsstrafen als die ausgeurteilten (Tat 1: zwei Jahre, Taten 2 und 4: drei Jahre; Tat 3: zwei Jahre und zwei Monate, Tat 5: zwei Jahre und vier Monate) durch das Landgericht ausgeschlossen erscheint.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 974

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi