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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 227

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 541/17, Beschluss v. 09.01.2018, HRRS 2018 Nr. 227


BGH 5 StR 541/17 - Beschluss vom 9. Januar 2018 (LG Berlin)

Einwilligungsfähigkeit bei Minderjährigen (gefährliche Körperverletzung; Altersgrenze; Schwere der drohenden Beeinträchtigung; Absehbarkeit der Folgen; abstrakt lebensgefährliche Würgehandlungen); Berücksichtigung erlittener Beeinträchtigungen des Opfers bei Tatserien im Rahmen der Strafzumessung (Einzelstrafen; Gesamtstrafenbildung).

§ 46 StGB; § 54 StGB; § 223 StGB; § 224 StGB; § 228 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Einwilligungsfähig ist, wer nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande ist, Bedeutung und Tragweite des konsentierten Rechtsgutsangriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen, wobei umso strengere Anforderungen zu stellen sind, je gewichtiger der Angriff ist und je schwerer seine Folgen abzusehen sind. Dass einem zehn bzw. zwölf Jahre alten Kind das demnach erforderliche Urteilsvermögen in Bezug auf vom Täter nicht vollständig kontrollierbare und damit zumindest abstrakt lebensgefährliche Würgehandlungen fehlt, liegt regelmäßig auf der Hand. Es kann daher offenbleiben, ob Einwilligungsfähigkeit in Bezug auf geringer wiegende Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit auch unterhalb der Altersgrenze von 14 Jahren gegeben sein kann.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 25. Juli 2017 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch Schutzbefohlener und mit gefährlicher Körperverletzung in 13 Fällen, wegen Nötigung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch Schutzbefohlener, sowie wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch Schutzbefohlener und mit gefährlicher Körperverletzung in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Von der Gesamtfreiheitsstrafe hat es aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung sechs Monate als vollstreckt erklärt. Die gegen das Urteil gerichtete und auf eine Verfahrensrüge sowie die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).

Der ergänzenden Erörterung bedarf nur Folgendes:

1. Die durch den Beschwerdeführer erhobene Verfahrensrüge betreffend eine „Verletzung des § 273 Abs. 3 StPO“ ist bereits unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Denn der Beschwerdeführer hat vorgetragen, der Angeklagte habe die Taten in Annahme einer Verständigung „ohne nähere Ausführungen zum eigentlichen Tatgeschehen durch ein kurzes Pauschalgeständnis“ eingeräumt. Dieser Vortrag ist wahrheitswidrig. Aus der Sitzungsniederschrift, den Urteilsgründen und der dienstlichen Äußerung der Vorsitzenden geht hervor, dass der Angeklagte kein bloßes „Pauschalgeständnis“ abgegeben, sondern sich umfänglich zur Sache eingelassen hat.

Ferner kann dem Vorbringen die Angriffsrichtung der Rüge nicht hinreichend klar entnommen werden. Soweit der Beschwerdeführer beanstandet, er hätte der Verständigung nicht zugestimmt, wenn diese verlesen worden wäre, steht seiner Behauptung schon entgegen, dass der Verständigungsvorschlag von der Vorsitzenden in das Protokoll diktiert worden ist und dass der Angeklagte exakt diesem Vorschlag nach Erteilung der erforderlichen Belehrungen und nach Rücksprache mit dem Verteidiger zugestimmt hat. Soweit der Beschwerdeführer dahin zu verstehen ist, dass die Verständigung unter dem (versteckten) Vorbehalt der Nichtvernehmung der Nebenklägerin zustande gekommen ist, fehlt es an jeglichem Vortrag zu Umständen, auf die sich eine diesbezügliche Erwartungshaltung des Angeklagten hätte gründen können. Die Vorsitzende hat in ihrer dienstlichen Äußerung in Abrede gestellt, dass ein solcher Vorbehalt im Rahmen der Verständigung eine Rolle gespielt hat.

2. Der Schuldspruch wird von den Feststellungen getragen. Das gilt auch, soweit der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung in 17 Fällen (§ 224 Abs. 1 Nr. 5, teils auch Nr. 2 StGB) zum Nachteil seiner Tochter und in einem Fall zum Nachteil seines Sohnes verurteilt wurde. Insoweit sind die Taten nicht etwa wegen Einwilligung der Tatopfer gerechtfertigt.

a) Nach den Feststellungen des Landgerichts würgte der Angeklagte seine beiden Kinder jeweils bis zum Eintritt von Atemnot, wobei er vielfach Stricke, Schals, Tücher oder Lederbänder einsetzte. Die sadomasochistischen Praktiken filmte bzw. fotografierte er, um sich an den Aufnahmen sexuell zu erregen.

aa) Die Mitwirkungsbereitschaft der während der ersten Tatserie (Taten 1 bis 12) höchstens zwölf Jahre alten Tochter und des zur Tatzeit zehn Jahre alten Sohnes des Angeklagten (Tat 13) ist jeweils schon wegen Einwilligungsunfähigkeit rechtlich ohne Bedeutung. Nach Rechtsprechung und herrschender Lehre ist einwilligungsfähig, wer nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande ist, Bedeutung und Tragweite des konsentierten Rechtsgutsangriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen, wobei umso strengere Anforderungen zu stellen sind, je gewichtiger der Angriff ist und je schwerer seine Folgen abzusehen sind (vgl. BGH, Urteile vom 12. November 1953 - 3 StR 713/52, BGHSt 5, 362, 363 f.; vom 10. Februar 1959 - 5 StR 533/58, BGHSt 12, 379, 382 f.; BayObLG NJW 1999, 372; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., vor § 32 ff. Rn. 40 mwN). Es muss nicht entschieden werden, ob Einwilligungsfähigkeit in Bezug auf geringer wiegende Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit auch unterhalb der Altersgrenze von 14 Jahren gegeben sein kann (dazu LK-StGB/Rönnau, 12. Aufl., vor § 32 Rn. 195 mwN). Denn es liegt auf der Hand, dass einem zehn bzw. zwölf Jahre alten Kindes das erforderliche Urteilsvermögen in Bezug auf vom Täter nicht vollständig kontrollierbare und damit zumindest abstrakt lebensgefährliche Würgehandlungen fehlt. Eines Eingehens auf eine Unwirksamkeit der Einwilligung der Nebenklägerin wegen Täuschung oder der Einwilligung beider Kinder wegen Sittenwidrigkeit (§ 228 StGB) bedarf es daher nicht mehr.

bb) Vor der rund ein Jahr nach dem ersten Tatkomplex folgenden zweiten Tatserie drohte der Angeklagte seiner nunmehr 14 Jahre alten Tochter unter Scheinidentitäten, dass ihr zunächst die Finger gebrochen und die Haare ausgerissen würden, wonach sie durch Überstülpen einer Plastiktüte erstickt werde, wenn sie nicht (weitere) Aufnahmen von sadomasochistischen Praktiken von sich erstellen lasse und übermittle. In dieser von ihr als real empfundenen Drucksituation ergab sich die Nebenklägerin in ihr Schicksal. Die solchermaßen erzwungene Mitwirkungsbereitschaft ist ohne Weiteres irrelevant (vgl. Sternberg-Lieben, aaO, vor §§ 32 ff. Rn. 48 mwN).

2. Der Generalbundesanwalt beanstandet, dass das Landgericht die schweren Tatfolgen für die Nebenklägerin sowohl bei der Bemessung der Einzelstrafen als auch bei der Bildung der Gesamtstrafe straferschwerend berücksichtigt hat. Er bezieht sich dabei auf Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach Beeinträchtigungen des Opfers durch eine Mehrheit von Taten dem Täter nur dann mit vollem Gewicht bei den Einzeltaten angelastet werden dürfen, wenn sie unmittelbare Folge der Einzeltaten sind; sind sie dagegen Folge aller Taten, so können sie nur einmal, nämlich bei der Gesamtstrafenbildung, gewichtet werden (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 13. November 1997 - 4 StR 539/97, NStZ-RR 1998, 107 f.; vom 22. Juli 2014 - 2 StR 84/14, NStZ-RR 2014, 340). Allerdings ist den Urteilsgründen zu entnehmen, dass bereits die Einzeltaten des ersten Tatkomplexes die Nebenklägerin seelisch, aber auch körperlich „über die Maßen“ belastet haben (UA S. 11, 19). Verstärkt gilt dies für die Taten der zweiten Tatserie, aufgrund derer sich die Nebenklägerin ständig in großer Angst befand und schon damals ernsthafte Suizidgedanken hegte (UA S. 12, 20).

Es kann offenbleiben, ob der Strafausspruch als durchgreifend rechtsfehlerhaft angesehen werden muss, wenn das Tatgericht unter solchen Vorzeichen die schweren Tatfolgen bei der Bemessung der Einzelstrafen ohne ausdrücklich einschränkenden Hinweis in Ansatz gebracht hat. Denn mit dem Generalbundesanwalt ist hier jedenfalls ein Beruhen des Urteils auf dem geltend gemachten Umstand ausgeschlossen (§ 337 Abs. 1 StGB). Gegen den Angeklagten sprechen nämlich derart gewichtige Erschwerungsgründe, dass die ausgeurteilten Einzelstrafen (jeweils ein Jahr Freiheitsstrafe für die Missbrauchstaten des ersten Tatkomplexes, jeweils zwei Jahre Freiheitsstrafe für die Taten der sexuellen Nötigung im zweiten Tatkomplex) als im untersten Bereich des bei der Strafzumessung zu Gebote stehenden Spielraums angesehen werden müssen.

Der Angeklagte hat seine Tochter unter Ausnutzung der väterlichen Autorität und des in ihn gesetzten Vertrauens durch die Täuschung zu ihrer Zustimmung zu den Handlungen der ersten Tatserie gebracht, ohne den Verkauf der bei den Taten gemachten Film- bzw. Fotoaufnahmen werde die Familie die Wohnung verlieren und auseinanderbrechen. Bei der Fertigung der Bilder würgte er das zumeist unbekleidete Mädchen mit den Händen oder strangulierte es mit Schlingen und Schals solange, bis dessen Gesicht wegen Atemnot rot angelaufen und angeschwollen war. Regelmäßig hatte es danach Kopfschmerzen, Striemen und Würgemale am Hals. Dass die Nebenklägerin unter der Bedrohungssituation während des zweiten Tatkomplexes immer stärker litt und sich mit Suizidabsichten trug, berührte den Angeklagten nicht (UA S. 12). Dieses Vorgehen offenbart ein ungewöhnliches Maß an menschenverachtender Gesinnung.

Darüber hinaus hat das Landgericht bei der Bemessung der Gesamtfreiheitsstrafe zugunsten des Angeklagten gewertet, dass dessen Hemmschwelle im Verlauf der Taten gesunken sei (UA S. 33). Diese gerade bei serienhaft begangenen Missbrauchstaten ohnehin nicht unproblematische Erwägung (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. Rn. 1213 mwN; ganz abl. Reichenbach JR 2012, 9, 11 f.) kann jedenfalls dann nicht zugunsten des Täters wirken, wenn er, was beim Angeklagten der Fall war, von vornherein eine Vielzahl von Taten geplant hat (vgl. auch BGH, Urteil vom 27. Januar 2016 - 5 StR 387/15, NStZ-RR 2016, 105 Rn. 17 mwN).

4. Dass das Landgericht trotz der auch durch die Taten des Kindesmissbrauchs verursachten gravierenden Konsequenzen für die körperliche und seelische Entwicklung der Nebenklägerin (unter anderem schwere Depressionen, hierdurch bedingter Abgang vom Gymnasium, halbjährige stationäre Unterbringung in der Psychiatrie, Verlust des gesamten Freundeskreises, Notwendigkeit weiterer Therapien) den Verbrechenstatbestand des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB nicht erkennbar bedacht hat, beschwert den Angeklagten nicht. Entsprechendes gilt für § 176a Abs. 5 Variante 1 StGB (schwere körperliche Misshandlung).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 227

Externe Fundstellen: NStZ 2018, 537

Bearbeiter: Christian Becker