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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 908

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 175/20, Beschluss v. 01.07.2020, HRRS 2020 Nr. 908


BGH 6 StR 175/20 - Beschluss vom 1. Juli 2020 (LG Potsdam)

Rechtsfehlerhafte Anordnung der im Urteil vorbehaltenen Sicherungsverwahrung (Gefährlichkeitsprognose; tatrichterliche Gesamtwürdigung; Erwägungen des Sachverständigen; Betreuung während des Strafvollzugs).

§ 66a StGB; § 66c StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Nach § 66a Abs. 3 S. 2 StGB ist die Sicherungsverwahrung anzuordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind. Ob die von dem Verurteilten zu erwartenden Straftaten erheblich sind, kann dabei nicht anhand eines generellen Maßstabs beurteilt werden; erforderlich ist vielmehr eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls. Zu dieser umfassenden Würdigung ist allein das Tatgericht berufen, dem ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Beschwerdeführers wird das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 6. Februar 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Er war mit Urteil vom 3. Januar 2013 rechtskräftig wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes und mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt worden; die Anordnung der Sicherungsverwahrung blieb vorbehalten (§ 66a Abs. 2 StGB). Seine Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hatte im Ausgangsverfahren die Sicherungsverwahrung gegen den am 25. Mai 2010 bereits wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilten Angeklagten nicht angeordnet, weil es zu diesem Zeitpunkt -abweichend von den Ausführungen des damals gehörten forensisch-psychiatrischen Sachverständigen - bei dem seinerzeit noch jungen Angeklagten einen Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen vermochte; es ging von der Möglichkeit aus, dass den Angeklagten die Vollstreckung der gleichzeitig verhängten mehrjährigen Freiheitsstrafe unter den Bedingungen des Erwachsenenstrafvollzugs von einer künftigen Begehung derartiger Taten abhalten könne. Trotz sicher festgestellter Gefährlichkeit hielt das Landgericht einen Hang des Angeklagten zu erheblichen Straftaten nur für wahrscheinlich.

Dem Urteil ist zu entnehmen, dass der seit dem 14. Juni 2012 inhaftierte Verurteilte seit Frühjahr 2014 in einer sozialtherapeutischen Anstalt behandelt wurde und sich seit November 2019 im offenen Vollzug befindet.

2. Im Nachverfahren ist das sachverständig beratene Landgericht wiederum zu einer ungünstigen Gefährlichkeitsprognose gelangt. Die unter Einbeziehung der Entwicklung des Verurteilten im Vollzug zu treffende Gesamtwürdigung ergebe, dass seine Gefährlichkeit nicht abgeschwächt sei. Zwar habe sich der Verurteilte während des Strafvollzugs ohne (nennenswerte) Beanstandungen verhalten, habe an allen Behandlungsmaßnahmen der sozialtherapeutischen Anstalt teilgenommen und sich dabei offen, kooperativ und gesprächsbereit gezeigt. Auch habe er bislang alle Vollzugslockerungen problemlos durchlaufen. Die auf Konflikt- und Frustrationsbewältigung gerichteten Behandlungsmaßnahmen hätten sich allerdings „nicht auf die Kernproblematik des Verurteilten und damit (die) Kernursache seiner Delinquenz bezogen, sondern auf eine im Ergebnis nicht zutreffende Frustrationshypothese“. Das Landgericht ist insoweit der Einschätzung des forensisch-psychiatrischen Sachverständigen (§ 275a Abs. 4 Satz 1 StPO) gefolgt, der die Ursache der Gewaltdelinquenz des Verurteilten - anders als die ihn behandelnden, vom Landgericht gehörten Psychologen - in „verwurzelten Persönlichkeitsauffälligkeiten“ gesehen hat. Daher ist nach Auffassung des Landgerichts „mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der leicht zu frustrierende und zu verunsichernde Verurteilte, auf sich gestellt und ohne vom Vollzug vorgegebene feste Strukturen, wieder auf aggressive Verhaltensstile zurückgreift und erneut Taten begeht, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“.

II.

Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Gefährlichkeitsprognose ist nicht tragfähig belegt.

1. Nach § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB ist die Sicherungsverwahrung anzuordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind. Ob die von dem Verurteilten zu erwartenden Straftaten erheblich sind, kann dabei nicht anhand eines generellen Maßstabs beurteilt werden; erforderlich ist vielmehr eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls. Zu dieser umfassenden Würdigung ist allein das Tatgericht berufen, dem ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist (vgl. BGH, Urteil vom 24. Mai 2018 - 4 StR 643/17, NStZ-RR 2018, 305, 306, zu § 66 StGB).

2. Die Beweiswürdigung zur Gefährlichkeitsprognose hält unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2019 - 4 StR 69/19, NStZ-RR 2019, 245, 246) einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Sie sind unvollständig. Darauf beruht die Anordnung der Maßregel.

a) Das Landgericht hat die Gefährlichkeitsprognose damit begründet, dass die im Ausgangsverfahren festgestellte Gefährlichkeit des Verurteilten nicht abgeschwächt sei. Aufgrund der unbehandelten dissozialen Persönlichkeitsstruktur sei „- in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Sachverständigen L. - mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu erwarten“, dass der Verurteilte erhebliche Straftaten begehen werde.

Diese Feststellung findet keine Grundlage in der Beweiswürdigung. Denn der Sachverständige hatte lediglich ausgeführt, dass mit „Blick auf die Gefährlichkeit des Verurteilten (…) die Wahrscheinlichkeit erheblicher Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden, höher sei als deren Ausbleiben“. Die landgerichtliche Beurteilung wird damit von der Beweiswürdigung nicht getragen.

b) Des Weiteren hat das Landgericht in die vorzunehmende Gesamtabwägung nicht alle zur Beurteilung der Gefährlichkeit des Verurteilten festgestellten Umstände eingestellt. Denn es ist ohne erschöpfende Würdigung der von ihm erhobenen Beweise (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 - 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20; LRStPO/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 56) der Einschätzung des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen gefolgt, der zu dem Ergebnis kam, der Verurteilte sei während des Strafvollzugs auf der Grundlage einer unzutreffenden Diagnose therapiert worden und deshalb fortbestehend gefährlich.

Damit gründet das Landgericht seine Gefährlichkeitsprognose allein auf die Einschätzung des Sachverständigen, ohne sich mit den gegenteiligen Diagnosen der als Zeugen vernommenen Psychologen auseinanderzusetzen. Aufgrund der Maßgeblichkeit der nach Auffassung des Sachverständigen fehlerhaften Behandlung des Verurteilten während des Vollzugs für die Gefährlichkeitsprognose hätte das Landgericht in Auseinandersetzung mit dem bisherigen Vollzugsplan und den Befunden der behandelnden Psychologen darlegen müssen, weshalb es die Diagnose des Sachverständigen für richtig erachtet.

Dies gilt umso mehr, als eine etwaige strafvollzugsbegleitende gerichtliche Kontrolle nach § 119a Abs. 7 StVollzG (vgl. dazu BT-Drucks. 17/9874, S. 20, 29; Peglau JR 2016, 45, 53; AKStVollzG/Spaniol, 7. Aufl., § 119a StVollzG Rn. 13; Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., 12 N Rn. 17) Bindungswirkung bezüglich einer den Anforderungen des § 66c Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprechenden Betreuung entfalten würde. Diese schließt zwar eine negative Gefährlichkeitsprognose nicht aus, sondern erlangt nach § 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB erst bei der Frage der Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung Bedeutung (vgl. dazu BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 - 5 StR 683/18 Rn. 18 mwN). Steht eine ausreichende Betreuung aber bindend fest, liegt nahe, dass die Behandlungsmaßnahmen grundsätzlich geeignet und im konkreten Fall sachgerecht waren (vgl. dazu Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 67c Rn. 11; SSWStGB/Jehle/Harrendorf, StGB, 4. Aufl., § 67c Rn. 10).

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Sollte das Landgericht erneut zu der Überzeugung gelangen, dass die auf Konflikt- und Frustrationsbewältigung gerichteten bisherigen Behandlungsmaßnahmen nicht an der Wurzel der beim Verurteilten vorliegenden Gewaltdelinquenz angesetzt haben, wird es zu prüfen haben, ob verbleibenden Ungewissheiten im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Verurteilten durch die Statuierung einer dem letzten Vollzugsstand vergleichbaren Kontrolldichte begegnet werden kann, etwa in Form von Weisungen gemäß § 68b StGB. Denn die Ausführungen des Sachverständigen geben Anlass zu der Prüfung, ob der Zweck der Maßregel schon im Rahmen der nach § 68f Abs. 1 S. 1 StGB eintretenden Führungsaufsicht erreicht werden kann.

b) Im Übrigen weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass gegebenenfalls auch eine fehlerhafte Behandlung im Strafvollzug Auswirkungen auf die Aussetzung der Vollstreckung der Maßnahme haben kann. Denn § 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB sieht aus Verhältnismäßigkeitsgründen - auch für den Fall der zunächst vorbehaltenen Sicherungsverwahrung (vgl. § 67c Abs. 1 Satz 2 StGB; BT-Drucks. 17/9874, S. 20) - die zwingende Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vor, sofern dem Täter während des Strafvollzugs keine ausreichende Betreuung angeboten worden ist. In diesem Fall wird dem Täter durch das Behandlungs- und Betreuungsangebot gerade keine realistische Entlassungsperspektive eröffnet. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist hierbei entscheidend, „ob der Vollzug der Sicherungsverwahrung in Anbetracht aller dem Täter während des Strafvollzugs gemachten Betreuungsangebote unverhältnismäßig erscheint“ (vgl. BT-Drucks., aaO, S. 21). Dies kann etwa anzunehmen sein, wenn die Behandlungsmaßnahmen grundsätzlich ungeeignet oder im konkreten Fall nicht sachgerecht sind (vgl. Matt/Renzikowski/Eschelbach, aaO; SSWStGB aaO). In die Gesamtwürdigung, ob eine den Anforderungen des § 66c Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprechende Betreuung gegeben ist, sind auch mit Bindungswirkung nach § 119a Abs. 7 StVollzG durchgeführte (vgl. dazu BT-Drucks. 17/9874, S. 20, 29; Peglau JR 2016, 45, 53; AKStVollzG/Spaniol aaO; Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, aaO), strafvollzugsbegleitende gerichtliche Kontrollen einzustellen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 908

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 341

Bearbeiter: Christian Becker