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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 230/95, Beschluss v. 16.07.1996, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 230/95 - Beschluß vom 16. Juli 1996 (KG Berlin)

BGHSt 42, 187; Rechtsbeschwerde im Ordnungswidrigkeitenverfahren (Zulassung nicht allein wegen fehlender Urteilsbegründung; Zulässigkeit im Einzelfall; Rechtsstaatsprinzip; rechtliches Gehör).

Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG; § 80 OWiG

Leitsätze

1. Die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG ist nicht allein deshalb zuzulassen, weil das angefochtene Urteil keine Gründe enthält. Erforderlich ist auch in einem solchen Fall die Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen des § 80 OWiG. (BGHSt)

2. Kann ohne Kenntnis der Urteilsgründe nicht ohne weiteres beurteilt werden, ob die Zulassungsvoraussetzungen vorliegen, und können solche Zweifel weder aus dem abgekürzten Urteil, dem Bußgeldbescheid, dem Zulassungsantrag noch aus nachgeschobenen Urteilsgründen, dienstlichen Äußerungen oder sonstigen Umständen ausgeräumt werden, so führt das Fehlen von Urteilsgründen im Einzelfall zur Begründetheit des Zulassungsantrages. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 1 Satz 2 OWiG ist nicht allein deshalb zuzulassen, weil das angefochtene Urteil keine Gründe enthält. Erforderlich ist auch in einem solchen Fall die Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen des § 80 OWiG.

Gründe

Die Vorlegung betrifft die von mehreren Oberlandesgerichten unterschiedlich beantwortete Frage, ob die Rechtsbeschwerde allein deshalb nach § 80 OWiG zuzulassen ist, weil die angefochtene Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.

I.

1. Das Amtsgericht Tiergarten hat den Betroffenen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit (Vorfahrtsverletzung) zu einer Geldbuße in Höhe von 170 DM verurteilt. Es hat das nicht mit Gründen versehene Urteil zugestellt und, nachdem der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt und deren Zulassung beantragt hatte, - ohne daß die Voraussetzungen des § 77b OWiG vorlagen - mit Urteilsgründen "ergänzt". Der Beschwerdeführer hat auf Freispruch, hilfsweise auf Urteilsaufhebung angetragen, dazu die allgemeine Sachrüge erhoben und, ohne dies näher zu begründen, die Verletzung des Verfahrensrechts gerügt.

2. Das Kammergericht beabsichtigt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

Es hält die nachträgliche Ergänzung des Urteils für nicht zulässig und geht deshalb davon aus, daß nur ein unzulässig abgekürztes Urteil vorliege. Dies führe jedoch nicht stets zur Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 OWiG. In solchen Fällen sei die Rechtsbeschwerde vielmehr nur dann zuzulassen, wenn sich aus dem abgekürzten Urteil, dem darin eventuell in Bezug genommenen Bußgeldbescheid oder der Begründung des Zulassungsantrages konkrete Anhaltspunkte dafür ergäben, daß bei einer ordnungsgemäßen Begründung des Urteils möglicherweise ein Grund für die Zulassung gegeben wäre. Solche Anhaltspunkte lägen hier indes nicht vor.

3. An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das Kammergericht durch Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte (BayObLG VRS 82, 320 und 86, 304; OLG Celle VRS 75, 463; OLG Düsseldorf VRS 74, 282; OLG Köln VRS 86, 302) gehindert. Es hat deshalb die Sache nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof vorgelegt (der Vorlagebeschluß ist veröffentlicht in NZV 1995, 242) zur Entscheidung und Beantwortung der Frage:

Ist ein Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, der sich gegen ein fehlerhaft in abgekürzter Fassung zugestelltes Urteil richtet, wegen Fehlens der Urteilsgründe stets begründet, oder ist auch in diesem Fall die Prüfung der Zulassungsgründe (§ 80 Abs. 1 und 2 OWiG) anhand des abgekürzten Urteils, des Bußgeldbescheides, des Zulassungsantrags oder sonstiger Umstände erforderlich?

II.

Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 79 Abs. 3 OWiG, § 121 Abs. 2 GVG sind gegeben.

Dabei kann offenbleiben, ob die vom Kammergericht genannten Entscheidungen, die seiner beabsichtigten Entscheidung entgegenstehen sollen, in jeder für die Abweichungsfrage relevanten Hinsicht gleich liegen. Jedenfalls würde das Kammergericht von der Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts in VRS 78, 464 abweichen. Auch ist die Auffassung des Kammergerichts, die das Bayerische Oberste Landesgericht (aaO) teilt, daß eine nachträgliche Ergänzung des Urteils rechtlich unbeachtlich sei, jedenfalls vertretbar (vgl. BGHSt 33, 183, 185 f.).

III.

Der Generalbundesanwalt hat beantragt, zu beschließen:

Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist bei Fehlen der Urteilsgründe nicht allein deshalb stets begründet. Erforderlich ist auch in einem solchen Fall die Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen des § 80 Abs. 1 und Abs. 2 OWiG anhand des abgekürzten Urteils, des Bußgeldbescheides, des Zulassungsantrages und sonstiger Umstände.

Zur Begründung hat er im wesentlichen ausgeführt:

Die Auffassung, daß bei Fehlen der Urteilsgründe die Rechtsbeschwerde stets zuzulassen sei, beruhe auf der fehlerhaften Annahme, daß die Voraussetzungen des § 80 Abs. 1 und 2 OWiG nur anhand der Urteilsgründe überprüft werden könnten (vgl. etwa OLG Köln VRS 86, 302, 303; BayObLG VRS 82, 320). Damit würden jedoch sachlich-rechtliche Rechtsbeschwerdegrundsätze auf das Zulassungsverfahren ausgedehnt, ohne daß dies zwingend sei. Die bei Nichtvorliegen von Urteilsgründen lediglich nicht ausschließbare Möglichkeit, daß die Zulassung der Rechtsbeschwerde geboten sei, ersetze nicht die Voraussetzungen des § 80 Abs. 1 oder 2 OWiG (vgl. Brandenburgisches OLG NStZ 1995, 597).

Die Berücksichtigung des Bußgeldbescheides, des Zulassungsantrages und sonstiger Umstände bei Prüfung der Voraussetzungen des § 80 Abs. 1 und 2 OWiG bei Fehlen der Urteilsgründe widerspreche auch nicht der Grundstruktur des Rechtsbeschwerderechts, wie das Brandenburgische Oberlandesgericht annimmt. Abgesehen davon, daß es dabei lediglich um ein Vorschaltverfahren (vgl. Steindorf in KK-OWiG § 80 Rdn. 5) gehe, bei dem ermittelt werde, ob ein Rechtsbeschwerdeverfahren durchzuführen sei, habe das Rechtsbeschwerdegericht den Bußgeldbescheid als Verfahrensvoraussetzung in jedem Fall zur Kenntnis zu nehmen (vgl. BGHSt 23, 336; 23, 365 und BGHSt 27, 271). Dasselbe gelte für die Rechtsbeschwerdebegründung. Sonstige Umstände seien auch bei Vorliegen der Urteilsgründe zu berücksichtigen, etwa wenn zu erwägen sei, ob ein rechtsfehlerhaftes Urteil sich als bloße Fehlentscheidung im Einzelfall darstelle.

IV.

Dem stimmt der Senat zu. Er beantwortet deshalb die Vorlage wie aus der Beschlußformel ersichtlich.

Für die Richtigkeit der Auffassung des Generalbundesanwalts spricht schon der Umstand, daß die Urteilsgründe in Fällen, in denen lediglich die Verfahrensrüge erhoben wird, nur bedingt von Bedeutung sind. Das Fehlen der Urteilsgründe ist jedenfalls für die Prüfung von Verfahrensgarantien im Sinne von § 338 StPO und für die ihr vorgeschaltete Prüfung, ob die Rechtsbeschwerde im Sinne des § 80 OWiG zur Gewährleistung jener Garantien zuzulassen ist, ohne Belang. Bei der Geltendmachung sonstiger Verfahrensverstöße mögen die Urteilsgründe in Einzelfällen von Gewicht für die Prüfung sein, ob das Urteil auf solchen Verstößen beruhen kann, ob es also auf den mit der Rechtsbeschwerde geltend gemachten Umstand überhaupt ankommt. Dies führt indes nicht generell zur Unentbehrlichkeit der Urteilsgründe bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 80 OWiG. Auch in den zuletzt genannten und in den Fällen, in denen die Sachrüge erhoben ist, können die Zulassungsvoraussetzungen häufig ohne Kenntnis von Urteilsgründen geprüft werden. Dies gilt jedenfalls bei massenhaft auftretenden Bußgeldverfahren wegen einfacher Verkehrsordnungswidrigkeiten, die in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten aufzeigen und bei denen nach den Gesamtumständen ausgeschlossen werden kann, daß die Zulassungsvoraussetzungen nach § 80 OWiG vorliegen. Bei tatsächlich und rechtlich schwierigen Ordnungswidrigkeitsverfahren mag es in Einzelfällen anders liegen. Kann ohne Kenntnis der Urteilsgründe nicht ohne weiteres beurteilt werden, ob die Zulassungsvoraussetzungen vorliegen, und können solche Zweifel weder aus dem abgekürzten Urteil, dem Bußgeldbescheid, dem Zulassungsantrag noch aus nachgeschobenen Urteilsgründen, dienstlichen Äußerungen oder sonstigen Umständen ausgeräumt werden, so führt das Fehlen von Urteilsgründen zur Begründetheit des Zulassungsantrages.

Der Senat teilt nicht die in inhaltlich gleicher Vorlegungssache geäußerte Auffassung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, wonach die Zulassung der Rechtsbeschwerde bei Fehlen der Urteilsgründe aufgrund eines ungeschriebenen - dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) Rechnung tragenden und dem in § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG normierten Zulassungsgrund der Versagung des rechtlichen Gehörs rechtsähnlichen - Zulassungsgrundes geboten sei. Denn durch diesen Verfahrensverstoß ist der Betroffene zum einen nicht gehindert, auf Zulassung der Rechtsbeschwerde anzutragen, zum anderen bleibt ihm unbenommen, Umstände zu bezeichnen, die nach seiner Auffassung die Zulassung veranlaßt hätten. Solche Umstände können grundsätzlich aus nachgeschobenen Urteilsgründen hergeleitet werden. Da die Zulassung der Rechtsbeschwerde einer einheitlichen und sachgerechten Rechtsprechung und nicht in erster Linie der Entscheidung des Einzelfalles dient, ist es auch von Verfassungs wegen nicht geboten, allein aus dem Umstand, daß Urteilsgründe fehlen, einen Zulassungsgrund herzuleiten.

Externe Fundstellen: BGHSt 42, 187; NJW 1996, 3157; NStZ 1997, 39

Bearbeiter: Rocco Beck