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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1242

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, GSSt 1/20, Beschluss v. 22.10.2020, HRRS 2021 Nr. 1242


BGH GSSt 1/20 - Beschluss vom 22. Oktober 2020 (LG Neuruppin)

BGHSt 66, 20; Großer Senat; Divergenzvorlage; Hinweis auf die Einziehung trotz in der Anklage enthaltener Anknüpfungstatsachen (Sinn und Zweck der Hinweispflicht; Schutz vor Überraschungen; faires Verfahren; rechtliches Gehör; rechtsfolgenrelevante Tatsachen; Anklageschrift).

§ 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 132 Abs. 2 GVG

Leitsätze

1. Ein Hinweis auf die Einziehung des Wertes von Taterträgen (§§ 73, 73c StGB) ist nach § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO auch dann erforderlich, wenn die ihr zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen bereits in der zugelassenen Anklage enthalten sind. (BGHSt)

2. Sinn und Zweck des § 265 StPO ist es - namentlich vor dem Hintergrund der Gewährleistung eines fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs -, den Angeklagten vor Überraschungen zu bewahren. Ihm soll Gelegenheit gegeben werden, sich hinreichend verteidigen zu können. Dieser Zweck wird am zuverlässigsten dadurch erreicht, dass der Angeklagte auf jede in Betracht kommende Rechtsfolge ausdrücklich hingewiesen wird, sei es in der Anklageschrift, im Eröffnungsbeschluss oder in der Hauptverhandlung. Der aus Fairnessgründen gebotene Schutz des Angeklagten vor Überraschungsentscheidungen erfordert keine restriktive Auslegung des § 265 StPO, sondern eine umfassende Hinweispflicht. (Bearbeiter)

3. Die Hinweispflichten in § 265 Abs. 1 und 2 StPO ergänzen die gesetzlichen Vorschriften über den notwendigen Inhalt der Anklageschrift (§ 200 StPO) und den Eröffnungsbeschluss (§ 207 StPO). Eine Bezeichnung der rechtsfolgenrelevanten Tatsachen in der Anklageschrift ist nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht vorgesehen, auch wenn sie in der Praxis häufig mit aufgenommen werden (vgl. Nr. 110 Abs. 2 Buchstabe c RiStBV). (Bearbeiter)

4. Um den Angeklagten umfassend darüber zu informieren, auf welche Rechtsfolgen er sich einstellen muss, bedarf es der Ergänzung durch § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO. Während § 265 Abs. 1 StPO im Zusammenspiel mit § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO jegliche relevante Änderung des Schuldspruchs erfasst, werden in § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO Hinweispflichten bei der Anwendung von Rechtsfolgen etabliert, die gerade nicht zum gesetzlich vorgeschriebenen Inhalt der Anklageschrift zählen. (Bearbeiter)

5. Der Große Senat versteht unter einem sich erstmals in der Verhandlung ergebenden Umstand im Sinne von § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO auch eine rechtsfolgenrelevante Tatsache, die zwar bereits in der zugelassenen Anklage geschildert wurde, deren Bedeutung aber erstmals in der Hauptverhandlung hervorgetreten ist. Denn erst, wenn solche (häufig doppelrelevanten) Tatsachen zur Anwendung der in § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO genannten Rechtsfolgen führen sollen, erweist sich ihre dahingehende Bedeutung für den Angeklagten, der vor Überraschungsentscheidungen geschützt werden soll. Der bloßen Schilderung derartiger Tatsachen in der Anklageschrift kann diese Relevanz - anders als beim gesetzlich notwendigen Inhalt (vgl. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO) - nicht entnommen werden. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Ein Hinweis auf die Einziehung des Wertes von Taterträgen (§§ 73, 73c StGB) ist nach § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO auch dann erforderlich, wenn die ihr zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen bereits in der zugelassenen Anklage enthalten sind.

Gründe

I.

Die Vorlage betrifft die Frage, ob nach § 265 Abs. 1 oder § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO auf die Möglichkeit einer Einziehung des Wertes von Taterträgen (§§ 73, 73c StGB) hinzuweisen ist, wenn diese Rechtsfolge weder in der Anklageschrift noch im Eröffnungsbeschluss erwähnt worden ist, die hierfür relevanten Tatsachen aber in der zugelassenen Anklage bereits enthalten waren.

1. In einem beim 5. Strafsenat anhängigen Verfahren hat das Landgericht den Angeklagten wegen Bestechlichkeit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 68.300 Euro angeordnet. Der Angeklagte rügt mit seiner Revision hinsichtlich der Einziehungsentscheidung eine Verletzung von § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO, weil er weder in der zugelassenen Anklage noch in der Hauptverhandlung auf diese Rechtsfolge hingewiesen worden sei.

2. Der 5. Strafsenat beabsichtigt, die Revision des Angeklagten insgesamt zu verwerfen (vgl. näher Beschluss vom 18. Juni 2019 - 5 StR 20/19, NStZ 2019, 747). Die zulässig erhobene Rüge ist nach Auffassung des 5. Strafsenats unbegründet, weil sich hinsichtlich der Einziehung keine neuen Tatsachen erst in der Hauptverhandlung ergeben hätten, aufgrund derer ein Hinweis nach § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO erforderlich geworden sei. Der Umstand allein, dass in der Anklage die Möglichkeit der Einziehung des Wertes von Taterträgen nicht angesprochen worden sei, löse keine Hinweispflicht aus. Eine solche folge auch nicht aus § 265 Abs. 1 StPO. Hierfür spreche vor allem der Wortlaut der Norm.

3. Der 5. Strafsenat sieht sich nach dem gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG durchgeführten Anfrageverfahren daran gehindert, in diesem Sinne zu entscheiden.

Nach Entscheidungen des 1. Strafsenats ist auch in Fällen wie dem vorliegenden ein förmlicher Hinweis nach § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO zu erteilen (Beschlüsse vom 6. Dezember 2018 - 1 StR 186/18, NStZ 2019, 747; vom 26. April 2019 - 1 StR 471/18, NJW 2019, 2486). Auf die Anfrage des 5. Strafsenats vom 18. Juni 2019 (5 StR 20/19, NStZ 2019, 747) hat der 1. Strafsenat geantwortet, er halte an dieser Rechtsprechung fest (Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 1 ARs 14/19, NStZ-RR 2020, 25). Die übrigen Senate haben mitgeteilt, die dortige Rechtsprechung stehe der beabsichtigten Entscheidung nicht entgegen (2. Strafsenat, Beschluss vom 15. Januar 2020 - 2 ARs 236/19; 3. Strafsenat, Beschluss vom 31. Oktober 2019 - 3 ARs 15/19; 4. Strafsenat, Beschluss vom 15. Januar 2020 - 4 ARs 15/19).

II.

Mit Beschluss vom 14. April 2020 (5 StR 20/19) hat der 5. Strafsenat die Sache gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt:

Ist der Angeklagte nach § 265 Abs. 1 oder nach § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO auf die obligatorische Einziehung des Wertes von Taterträgen (§§ 73, 73c StGB) hinzuweisen, wenn die ihr zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen bereits in der Anklageschrift enthalten sind? Er hält an seiner Auffassung fest, dass eine Hinweispflicht auf die Rechtsfolge der Einziehung von Wertersatz grundsätzlich nur dann in Betracht kommt, wenn sich erst in der Hauptverhandlung im Vergleich zum Inhalt der zugelassenen Anklage neue tatsächliche Umstände ergeben.

Der Generalbundesanwalt hat beantragt, im Sinne der Vorlage des 5. Strafsenats zu entscheiden.

III.

Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die Vorlegungsfrage wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich.

1. Die Vorlage ist sowohl aus Gründen der Divergenz (§ 132 Abs. 2 GVG) als auch zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 132 Abs. 4 GVG) zulässig (vgl. zur gleichzeitigen Vorlage nach § 132 Abs. 2 und 4 GVG nur BGH, Beschluss vom 24. Juli 2017 - GSSt 3/17, BGHSt 62, 247). Die Entscheidung der vorgelegten Rechtsfrage geht über die Hinweispflicht bei der Einziehung des Wertes von Taterträgen nach §§ 73, 73c StGB hinaus und ist richtungsweisend für eine Vielzahl vergleichbarer Fälle, zu denen sich noch keine einheitliche Rechtsprechung herausgebildet hat (vgl. zu diesem Maßstab BGH, Beschluss vom 15. Juli 2016 - GSSt 1/16, BGHSt 61, 221, 229; LRStPO/Franke, 26. Aufl., § 132 GVG Rn. 33 ff.; SSWStPO/Quentin, 4. Aufl., § 132 GVG Rn. 8 ff.; MüKoStPO/Cierniak/Pohlit, § 132 GVG Rn. 28 ff.; jeweils mwN).

Die vorgelegte Rechtsfrage ist jedenfalls hinsichtlich der Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 26.000 Euro auch entscheidungserheblich (vgl. zum Prüfungsumfang BGH, Beschluss vom 15. Juli 2016 - GSSt 1/16, BGHSt 61, 221). Denn in Bezug auf diese vom Angeklagten durch (Weiter-)Überweisung seiner Ehefrau erlangte Summe, die nach den bisherigen Feststellungen die Einziehung des Wertes von Taterträgen rechtfertigt, haben sich in der Hauptverhandlung keine neuen Tatsachen gegenüber der zugelassenen Anklage ergeben. Der vorlegende Senat hat ein Beruhen des Urteils auf dem von ihm angenommenen Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO) vertretbar angenommen.

2. Die Rechtsfrage ist wie aus der Beschlussformel ersichtlich zu entscheiden.

Dem Angeklagten ist gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO in der Hauptverhandlung stets ein förmlicher Hinweis zu erteilen, wenn die zugelassene Anklage (oder eine dieser gleichstehende Entscheidung, vgl. LRStPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 265 Rn. 11 f.) keinen Hinweis auf eine dort genannte Rechtsfolge wie die Maßnahme der Einziehung des Wertes von Taterträgen (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB) enthält. Die Hinweispflicht gilt unabhängig davon, ob sich in der Hauptverhandlung im Vergleich zum Inhalt der Anklageschrift oder des Eröffnungsbeschlusses neue Tatsachen ergeben haben.

a) Diese Auslegung entspricht dem in der Norm zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt (vgl. BVerfGE 1, 299, 312; 11, 126, 130 f.; 105, 135, 157; 133, 168, 206). Von wesentlicher Bedeutung ist für den Großen Senat hierbei die Entstehungsgeschichte der Vorschrift und der sich daraus ergebende Wille des Gesetzgebers (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2008 - GSSt 1/08, BGHSt 52, 379, 368).

Der Gesetzgeber wollte mit der Neuregelung von § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO durch Art. 3 Nr. 33 Buchstabe a des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 (BGBl. I, S. 3202) die bisher nach § 265 Abs. 2 StPO aF geltenden Hinweispflichten auf weitere Rechtsfolgen wie insbesondere die Einziehung, Nebenstrafen und Nebenfolgen erweitern (vgl. BT-Drucks. 18/11277, S. 15, 36 f.). Nach der - dem Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung bekannten - Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur früheren Gesetzeslage galt die Hinweispflicht bei Maßregeln der Besserung und Sicherung unabhängig von einer im Vergleich zur zugelassenen Anklage veränderten Sachlage in der Hauptverhandlung (vgl. BGH, Urteile vom 27. September 1951 - 3 StR 596/51, BGHSt 2, 85, 87; vom 12. März 1963 - 1 StR 54/63, BGHSt 18, 288, 289; vom 21. Mai 1963 - 1 StR 131/63, NJW 1964, 459; Beschlüsse vom 30. März 1988 - 3 StR 78/88, StV 1988, 329; vom 11. November 1993 - 4 StR 584/93, StV 1994, 232; vom 4. Juni 2002 - 3 StR 144/02, NStZ-RR 2002, 271; vom 1. August 2017 - 4 StR 178/17; LR-StPO/Stuckenberg, aaO, § 265 Rn. 46, 72; Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 265 Rn. 20; vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 1 ARs 14/19, NStZ-RR 2020, 25, 26; abweichend zur früheren Polizeiaufsicht BGH, Urteil vom 7. September 1962 - 4 StR 266/62, BGHSt 18, 66, 67 f.).

Diese Auslegung der in die Neufassung unverändert übernommenen Worte „sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben“ hat der Gesetzgeber durch die Neuregelung ersichtlich nicht in Frage stellen wollen. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich nicht, dass die Hinweispflicht nach neuer Gesetzeslage abweichend von der bisherigen (jedenfalls ganz überwiegenden) Auslegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung dadurch erheblich eingeschränkt werden sollte, dass sie nur durch das Hinzukommen neuer Tatsachen in der Hauptverhandlung ausgelöst wird. Im Gegenteil wollte der Gesetzgeber die bereits bestehenden Hinweispflichten durch die Neuregelung deutlich ausweiten und auf weitere Maßnahmen im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB erstrecken (vgl. BT-Drucks. 18/11277, S. 15, 36 f.). Dies spricht dafür, nach der Gesetzesänderung die Hinweispflicht nicht von weitergehenden Voraussetzungen als zuvor abhängig zu machen.

b) Dieses am gesetzgeberischen Willen orientierte Auslegungsergebnis ist mit der Systematik der Vorschrift vereinbar.

Die Hinweispflichten in § 265 Abs. 1 und 2 StPO ergänzen die gesetzlichen Vorschriften über den notwendigen Inhalt der Anklageschrift (§ 200 StPO) und den Eröffnungsbeschluss (§ 207 StPO; vgl. BGH, Urteil vom 3. November 1959 - 1 StR 425/59, BGHSt 13, 320, 324; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 265 Rn. 6). Nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO sind in der Anklageschrift der Angeschuldigte, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften zu bezeichnen. Rechtsfolgenrelevante Tatsachen zählen dazu nicht (Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 200 Rn. 10), auch wenn sie in der Praxis häufig mit aufgenommen werden (vgl. Nr. 110 Abs. 2 Buchstabe c RiStBV). Um den Angeklagten umfassend darüber zu informieren, auf welche Rechtsfolgen er sich einstellen muss, bedarf es der Ergänzung durch § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO (Meyer-Goßner/Schmitt, aaO). Während § 265 Abs. 1 StPO im Zusammenspiel mit § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO jegliche relevante Änderung des Schuldspruchs erfasst, werden in § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO Hinweispflichten bei der Anwendung von Rechtsfolgen etabliert, die gerade nicht zum gesetzlich vorgeschriebenen Inhalt der Anklageschrift zählen.

c) Einer solchen Auslegung steht auch nicht der Wortlaut der Norm entgegen. Der Große Senat versteht unter einem sich erstmals in der Verhandlung ergebenden Umstand im Sinne von § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO auch eine rechtsfolgenrelevante Tatsache, die zwar bereits in der zugelassenen Anklage geschildert wurde, deren Bedeutung aber erstmals in der Hauptverhandlung hervorgetreten ist (vgl. Radtke in Radtke/Hohmann, StPO, § 265 Rn. 44; SK-StPO/Velten, 5. Aufl., § 265 Rn. 24; KMR-StPO/Stuckenberg, 96. Lfg. (2019), § 265 Rn. 32; Schlothauer, StV 1986, 213, 222; Wagner, ZIS 2020, 319, 321; den Wortlaut dagegen auf neue Tatsachen beschränkend KK-StPO/Kuckein/Bartel, 8. Aufl., § 265 Rn. 14; MüKo-StPO/Norouzi, aaO § 265 Rn. 31; SSW-StPO/Rosenau, 4. Aufl., § 265 Rn. 24, 28; Wachsmuth, ZRP 2006, 121, 122 f.; dies., Das Recht des Angeklagten auf Orientierung, 2008, 139; Abraham, HRRS 2020, 51, 53 f.; Schneider, jurisPRStrafR 14/2020 Anm. 1; Ceffinato, JR 2020, 6, 9; vgl. auch BGH, Beschluss vom 8. Mai 1980 - 4 StR 172/80, BGHSt 29, 274, 279; BeckOK StPO/Eschelbach, Stand 1.1.2020, § 265 Rn. 4). Denn erst, wenn solche (häufig doppelrelevanten) Tatsachen zur Anwendung der in § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO genannten Rechtsfolgen führen sollen, erweist sich ihre dahingehende Bedeutung für den Angeklagten, der vor Überraschungsentscheidungen geschützt werden soll. Der bloßen Schilderung derartiger Tatsachen in der Anklageschrift kann diese Relevanz - anders als beim gesetzlich notwendigen Inhalt (vgl. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO) - nicht entnommen werden. Die Regelung in § 265 Abs. 3 StPO, die lediglich tatsächliche Änderungen betrifft (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - 4 StR 336/19, NStZ 2020, 370, 371; vom 13. März 2018 - 4 StR 27/18, NStZ 2018, 558 mwN) erfordert angesichts dessen und aufgrund ihres abweichenden Regelungsgehalts nicht, den Begriff „Umstand“ in § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO wie dort auszulegen.

d) Dieses Auslegungsergebnis wird auch Sinn und Zweck des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO gerecht.

Die Hinweispflichten in § 265 Abs. 1 und 2 StPO dienen der Gewährleistung eines fairen Verfahrens und dem rechtlichen Gehör (BT-Drucks. 18/11277, S. 37; vgl. auch SK/Velten, aaO § 265 Rn. 2 ff.; Radtke in Radtke/Hohmann, StPO, § 265 Rn. 1 ff.; KK-StPO/Kuckein/Bartel, aaO § 265 Rn. 1; BeckOK Eschelbach, aaO § 265 Rn. 1). Das Recht auf ein faires Verfahren hat seine Wurzeln im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten und Art. 1 Abs. 1 GG und gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Seine Konkretisierung ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers und sodann, in den vom Gesetz gezogenen Grenzen, Pflicht der zuständigen Gerichte bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung. Die Gerichte haben den Schutzgehalt der in Frage stehenden Verfahrensnormen und anschließend die Rechtsfolgen ihrer Verletzung zu bestimmen. Dabei sind Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren angemessen zu berücksichtigen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. April 2016 - 2 BvR 1422/15, NStZ 2016, 422 mwN). Darüber hinaus folgt der Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren auch unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK (hierzu umfassend LR-StPO/Esser, 26. Aufl., Art. 6 EMRK Rn. 172 ff. mwN; Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007; vgl. zur Rechtsprechung des BGH zum fairen Verfahren Steiner, Das Fairnessprinzip im Strafprozess, 1995, S. 65 ff.; Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, 2000, 115 ff.; Schmidt, Prozessuale Fürsorgepflicht und fair trial, 2010, S. 92 ff.).

Sinn und Zweck des § 265 StPO ist es vor diesem Hintergrund, den Angeklagten vor Überraschungen zu bewahren (vgl. BGH, Urteile vom 27. Mai 1952 - 1 StR 160/52, BGHSt 2, 371, 373; vom 20. Februar 1974 - 2 StR 448/73, BGHSt 25, 287, 289; vom 27. Mai 1982 - 4 StR 128/82, NStZ 1983, 34; Küpper, NStZ 1986, 249). Ihm soll Gelegenheit gegeben werden, sich hinreichend verteidigen zu können (BGH, Beschluss vom 24. Juli 2019 - 1 StR 363/18, NStZ 2020, 47 mwN). Dieser Zweck wird am zuverlässigsten dadurch erreicht, dass der Angeklagte auf jede in Betracht kommende Rechtsfolge ausdrücklich hingewiesen wird, sei es in der Anklageschrift, im Eröffnungsbeschluss oder in der Hauptverhandlung (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 1 ARs 14/19, NStZ-RR 2020, 25). Der aus Fairnessgründen gebotene Schutz des Angeklagten vor Überraschungsentscheidungen erfordert keine restriktive Auslegung des § 265 StPO, sondern eine umfassende Hinweispflicht (BGH, Beschluss vom 12. Januar 2011 - 1 StR 582/10, BGHSt 56, 121, 124).

Eine Differenzierung danach, ob eine Rechtsfolge im Ermessen des Gerichts steht, von einer aktuellen Prognose abhängt oder - wie die Vorschriften über die Einziehung des Wertes von Taterträgen nach §§ 73, 73a StGB - zwingend anzuordnen ist (vgl. Schlothauer, StV 1986, 213, 222), würde dem nicht gerecht (vgl. Börner, NStZ 2019, 752). Dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, die Neuregelung des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO führe bei der Nebenstrafe des Fahrverbots zu einer unterschiedlichen Anwendung der Hinweispflichten in Fällen fakultativer (§ 44 Abs. 1 Satz 1 StGB) und regelmäßiger (§ 44 Abs. 1 Satz 3 StGB) Anwendung (vgl. BT-Drucks. 18/11277, S. 37), vermag dies nicht in Frage zu stellen, da § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO in seinen Anordnungsvoraussetzungen nicht zwischen einzelnen Rechtsfolgen unterscheidet (vgl. Wagner, ZIS 2020, 319, 322 f.).

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1242

Externe Fundstellen: BGHSt 66, 20; NJW 2022, 201; StV 2022, 709

Bearbeiter: Christian Becker